Ich sehe was, was Du nicht siehst: Stakeholder
Erinnern Sie sich noch an den Zeitvertreib aus Kinderzeiten: “Ich sehe was, was Du nicht siehst …”? Oft wurde das Spiel genutzt, um Kindern Begriffe nahe zu bringen: “Ich sehe was, was Du nicht siehst. Und das ist eine Blume.” Oder: “… Und das ist eine Katze.” Im Laufe der Zeit stiegen die Herausforderungen und Farben kamen ins Spiel: “… Und das hat die Farbe: blau.” Fortan galt es auf der Suche nach dem konkreten Objekt alle Elemente im Sichtfeld zu benennen, die blau waren,: Himmel, Wasser, Schnürsenkelnadel (das Ende eines Schnürsenkels) oder der Ohrring der Mama.
Wollen wir das Spiel spielen? “Ich sehe was, was Du nicht siehst. Und das ist: ein Stakeholder.”
Was ist ein Stakeholder und warum ist er wichtig?
Ein Stakeholder ist eine Person, die ein direktes oder indirektes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses, eines Projekts, einer Entwicklung, einem Produkt oder auch einem Unternehmen hat. Natürlich gelten auch Personengruppen oder ganze Organisationen als Stakeholder. Einfach ausgedrückt: Ein Stakeholder ist jemand, dessen “Stake” – das englisch Wort bedeutet “Einsatz” – auf dem Spiel steht und der daher ein Interesse am Ausgang bzw. Ergebnis des Vorhabens hat. Synonyme Begriffe sind bspw. Teilhaber oder Anspruchsgruppe.
Und warum sind Stakeholder so wichtig?
- Sie liefern Anforderungen. Werden sie übersehen, fehlen deren Anforderungen. Mit etwas Glück erkennen Sie dieses Versäumnis im Laufe der Entwicklung noch, und die Anforderungen fließen nachträglich – bspw. als aufwändige und teure Change Requests bzw. Änderungsantrage – in Ihre Entwicklung ein.
- Was geschieht, wenn Sie eine neue Geschäftsidee testen wollen, und Sie fragen die falschen Menschen? Sie treffen vermutlich eine schlechte Entscheidung.
- Was passiert, wenn Sie lediglich die Ziele einiger weniger Teilhaber kennen? Ziele werden nicht versehentlich erreicht. Und Ziele lassen sich im Gegensatz zu manchen Änderungsanträgen, Anforderungen oder User Storys nicht mal eben so nachträglich implementieren. Ihr Projekt wird also mit großer Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis produzieren, das nicht alle Ziele erreicht.
Stakeholder sind also wichtig. Und jetzt?
Das Stakeholdermanagement
Stakeholdermanagement ist der zentrale Begriff für die Ausrichtung einer Organisation auf ihre Anspruchsgruppen. Es ist eine kontinuierliche Aufgabe, die auch über den Zeitraum einer expliziten Entwicklung hinausgehen kann. Sie ist kontinuierlich, da im Laufe einer Entwicklung neue Stakeholder auftauchen oder bestehende ihre Meinungen ändern können. Und sie kann über den Zeitraum einer Entwicklung hinausgehen, denn Teilhaber können auch bei mehreren parallelen Projekten einen “Einsatz halten” oder ein grundsätzliches Interesse an Ihrem Unternehmen haben.
In einer einfachen Formel ausgedrückt: Stakeholdermanagement = Stakeholderidentifikation + Stakeholderanalyse + Stakeholderkommunikation.
Diese drei Teilbereiche ergeben zusammen das Stakeholdermanagement. Das klingt in der Theorie deutlich einfacher als es in der Praxis häufig ist. Frage: Haben Sie in Ihrer Organisation jemanden, der explizit für das Thema bei einem Produkt oder einer Entwicklung zuständig ist? Hoffentlich. Das könnte bspw. ein Produktmanager sein, oder ein Product Owner, vielleicht auch ein Business Analyst oder ein Requirements Engineer. Vielleicht ist es auch ein Team von Kollegen, bspw. ein Project Management Office. Und wie regelmäßig versucht der Verantwortliche / das verantwortliche Team neue Teilhaber zu identifizieren, deren Wünsche, Ziele und Motive zu verstehen und hinterfragen, und wie, wann und in welcher Form erfolgt die Kommunikation mit ihnen?
Darüber hinaus ist Stakeholdermanagement nicht nur eine kontinuierliche Aufgabe, sondern eine Aufgabe mit hoher Verantwortung. Sie funktioniert nicht nebenbei, sondern stellt hohe Ansprüche. Sie fordert Empathie, Vertrauen, analytische Fähigkeiten und sehr gute Kommunikationsfähigkeiten. Tatsächlich handelt es sich um einen intensiven Fulltime-Job. Wer hier elementare Fehler macht, wird es schwer haben, erfolgreiche Produkte zu entwickeln.
Die Stakeholderidentifikation
Die Stakeholderidentifikation ist der erste Schritt im Stakeholdermanagement. Sie verfolgt das Ziel, alle Personen, Personengruppen oder Organisationen zu bestimmen, die von Aktivitäten eines Unternehmens direkt oder indirekt betroffen sind oder ein konkretes Interesse an diesen Aktivitäten haben. Bei der Identifikation helfen vier Fragen:
- Wer ist von dem Projekt betroffen?
- Welche Prozesse sind von Ihrem Vorhaben betroffen?
- Welche externen Gruppierungen sind von Ihrem Projekt betroffen?
- Welche Rahmenbedingungen bestehen für Ihr Projekt?
Bei der Beantwortung hilft die Orientierung an internen und externen Firmenstrukturen: Welche internen Unternehmensbereiche, Abteilungen oder Standorte sind betroffen? Wer hat Interesse am Output des Vorhabens, der möglicherweise in benachbarten Bereichen oder Projekten tätig ist? Und welche Mitarbeiter halten bei Kunden, Partnern, Lieferanten einen Einsatz? Die letzte Frage zielt auf normative, regulatorische oder gesetzliche Vorgaben ab.
Das Ergebnis der Identifikation ist eine Stakeholderliste. Idealerweise beinhaltet sie konkrete Namen und nicht nur “abstrakte” Rollenbezeichnungen wie “Kunde” oder “Eigentümer”. Natürlich hängt dies vom Kontext ab; hat Ihre Firma bspw. zwei Eigentümer, können beide unterschiedliche Motive, Anforderungen oder Ziele haben, also ergibt es Sinn, sie separat zu erfassen. Liefert Ihr Unternehmen Produkte für tausende Konsumenten dürfte das schwierig und wenig sinnvoll sein.
Die Stakeholderanalyse
Auf die Identifikation folgt die Analyse. Die Stakeholderanalyse verfolgt zwei Ziele: die für ein Vorhaben wichtigsten Stakeholder zu ermitteln und deren Einstellungen, Motive und Wünschen zu analysieren. Auch das Aufspüren von Konflikten, die zwischen Teilhabern und/oder zwischen ihren Zielen bestehen, gehört zu ihren Aufgaben. Idealerweise lassen sich sowohl Gegner, Hindernisse und Widerstände, als auch Unterstützer und Promoter feststellen.
Innerhalb der Analyse gibt es zwei Ansätze, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen: einerseits sollte die Erhebung methodisch und strukturiert erfolgen, andererseits sind auch kreative Techniken – bspw. Brainstorming, Braindumping, Apprenticing, etc. – gefragt. Implizit droht immer die Gefahr der Verallgemeinerung. Um diese Gefahr zu reduzieren, werden die Analysen oftmals durch Teams durchgeführt. Das erhöht zwar den Aufwand, sollte aber günstiger sein, als Entscheidungen auf Basis falscher, überinterpretierter oder fehlender Informationen zu treffen.
Die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V. (GPM) hat 2015 eine Studie veröffentlicht, in der Stakeholder nach ihrer Bedeutung kategorisiert wurden.¹ An erster Stelle lagen Kunden, dann folgte das Management und an dritter Stelle die Mitarbeiter. Danach folgten Shareholder, die Öffentlichkeit, Fachabteilungen, Politik, Partner, Lieferanten, Nutzer, Betriebsrat, Lenkungsausschuss, Consultants, nicht am Projekt beteiligte, eigene Bereiche und die Konkurrenz. Eine solche Kategorisierung kann für Sie ein Indikator sein, im Endeffekt gilt es aber kontextabhängig für jedes Vorhaben diejenigen Personen zu ermitteln, die
- einen großen Einfluss haben,
- ein großes Interesse haben,
- und das Vorhaben fördern, behindern oder blockieren können.
Ein beliebtes Mittel zur Visualisierung der Ergebnisse ist die Stakeholder-Matrix.
Die Stakeholderkommunikation
Kommunikation ist das Alpha und Omega in vielen Lebenslagen. Auch im Stakeholdermanagement ist die Kommunikation ein sehr wichtiger Faktor. Sie sorgt dafür, dass Befürworter eines Vorhabens Befürworter bleiben. Sie hilft Gegner zu besänftigen. Sie ermittelt, vermittelt und hinterfragt, sie erklärt und bindet ein.
Da Menschen individuell sind, sollte die Stakeholderkommunikation ebenfalls individuell erfolgen. Es gilt zu klären,
- wie,
- wann
- und mit welcher Frequenz
der Informationsaustausch erfolgt. Die Erkenntnisse könnten in einen Kommunikationsplan fließen, der die systematische Arbeit erleichtert. Wichtig ist es, die Bedeutung des Teilhabers für das konkrete Vorhaben und den Kontext zu berücksichtigen. So kann es Sinn ergeben, sich täglich mit den wichtigsten Personen bei einem Jour fixe auszutauschen, einer zweiten Gruppen eine wöchentliche Zusammenfassung zu liefern und sich mit einer dritten Gruppen einmal pro Monat über neueste Erkenntnisse auszutauschen.
Herausforderungen in der Praxis
In Praxis gilt es im Umgang mit Stakeholdern zahlreiche, sehr unterschiedliche Herausforderungen zu meistern. Überall lauern Fallstricke und Gefahren. Hier finden Sie eine kleine Liste möglicher Herausforderungen mit Handlungsvorschlägen:
- Die Identifikation wurde einmal vor mehreren Jahren durchgeführt und wird seither immer wieder – ohne Überprüfung auf Korrektheit oder Vollständigkeit – übernommen. Vorhandene Stakeholderlisten zu nutzen muss nicht verkehrt sein, jedoch sollte die Liste immer wieder kritisch hinterfragt und aktualisiert werden.
- Die Identifikation wird überhaupt nicht durchgeführt, denn der Eigentümer der Firma, glaubt den Markt zu kennen. Sicherlich wäre es in einer solchen Situation richtig, den Eigentümer zu fragen, woher er denn sein Wissen hat und wie valide dieses denn tatsächlich ist. Das erfordert jedoch Mut, Widerstandsfähigkeit und ggf. auch ein gewisses Standing in der Organisation.
- Sowohl Product Owner als auch Produktmanager sind natürlich Stakeholder, vor allem sind sie aber Stellvertreter für andere Teilhaber. Zu wissen was der Product Owner möchte oder glaubt, ist also nicht wirklich ausreichend.
- Die Analyse wird auf die leichte Schulter genommen, denn schließlich “weiß man ja, was der Kunde will”. Diese Einstellung ist leider in vielen Organisationen weit verbreitet und kann zu Produkten führen, die “niemand” will, die Features bereitstellt, die “niemand” versteht und die “niemand” nutzt.
- Bei der Analyse werden häufig Beziehungen zwischen einzelnen Personen oder Personengruppen übersehen. Wird bspw. ein Vorhaben von einer Person unterstützt, könnte das, bei einem schlechten Verhältnis zwischen der Person und einer weiteren Person, zur Ablehnung des Vorhabens durch die andere Person führen. Hier sind analytische Fähigkeiten, Moderation und oft auch Fingerspitzengefühl gefordert.
- Die Kommunikation erfolgt ohne Plan. Basierend auf der Identifikation und Analyse sollten die für eine Entwicklung oder ein Projekt wichtigen Personen oder Organisationen mit ihren Zielen, Motiven und Wünschen ermittelt werden. Die Frequenz der Kommunikation sollte sich bspw. an der spezifischen Bedeutung des Teilhabers und natürlich an dessen zeitlichen und formalen Vorstellungen ausrichten.
- Die Kommunikation erfolgt zu sporadisch. Und was passiert, wenn ein Teilhaber das Gefühl bekommt, er sei nicht mehr wichtig oder er bekommt keine Informationen mehr? Er verändert seine Einstellung zu einem Vorhaben; aus einem Freund wird vielleicht ein Skeptiker, aus einem Skeptiker ein Gegner. Es ist also ratsam mit jedem Stakeholder (oder jeder Kategorie von Anspruchsgruppen) eine individuelle Kommunikationsstrategie zu vereinbaren.
- Das Management wird weder als ganzheitliche Aufgabe noch als Prozess verstanden. Learnings werden ignoriert und nicht für folgende Projektphasen oder zukünftige Entwicklungen genutzt. Erkenntnisse werden nicht dokumentiert. Tauchen solche Herausforderungen auf, könnte es sich auch um eine Frage der Unternehmenskultur handeln – und das wäre dann vielleicht einen weiteren Beitrag hier im Blog wert…
Natürlich lässt sich die Liste leicht verlängern, denn das Leben stellt die schönsten Herausforderungen. Wichtig ist, dass Sie Ihre Herausforderungen identifizieren, sie analysieren und darüber kommunizieren. Dann bin ich sicher, dass das nächste erfolgreiche Projekt schon auf Sie wartet. “Ich sehe was, was Du nicht siehst. Und das ist: ein Stakeholdermanagement.”
Hinweise:
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Hier finden Sie eine Vorlage zur Dokumentation von Stakeholdern bzw. zur Erstellung einer Stakeholderliste.
Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH