Kanban im öffentlichen Sektor

Gastbeitrag von | 03.12.2018

Wenn Sie an Organisationen im öffentlichen Sektor denken, was kommt Ihnen da als erstes in den Sinn? Unzählige, unveränderliche Prozesse, eine große Behäbigkeit und eine geringe Bereitschaft zum Wandel? Oder denken Sie an flache Hierarchien, schlanke Abläufe und flexibles Arbeiten? Die meisten Menschen denken mit Sicherheit an starre, schwergewichtige Organisationen. Ich arbeite als Kanban-Coach im größten ÖPNV Unternehmen Deutschlands und unterstütze derzeit gemeinsam mit einer Kollegin 7 Teams. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass agile Methoden auch im öffentlichen Sektor einiges zum Positiven verändern können.

Mundpropaganda ist die beste Werbung

Tatsächlich sind nicht viele Organisationen im öffentlichen Sektor für ihr agiles Arbeiten bekannt. Aber es ändert sich etwas. Nach und nach versuchen sich Organisationen zu wandeln, sich von innen heraus zu erneuern. Oftmals sind es kleine Schritte, die nicht für jedermann leicht zu erkennen sind. Bei meinem Arbeitgeber ist die Nachfrage nach agilem Coaching vorhanden. Immer mehr Bereiche wollen Methoden aus Kanban nutzen. Das ist einerseits ein Kompliment für meine Kollegin und mich, beweist aber andererseits auch die Wirkung, die agile Methoden entfalten können. Wir machen kaum Werbung für unseren Service und werden auch nicht von unseren Führungskräften abkommandiert. Wir erhalten Anfragen fast ausschließlich wegen guter Mundpropaganda. Nach und nach sprechen sich die Vorteile von Kanban im Unternehmen herum und immer mehr Bereiche wollen verstehen, was Kanban ist, wie es funktioniert und welche Vorteile es bietet.

Was ist Kanban?

Kanban kennen Sie vielleicht aus der Lean Production von Toyota. Der Fokus von Kanban liegt auf der ständigen Transparenz von Materialien für eine bedarfsgerechte Produktion. Hinzu kommt ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess, der nicht nur den japanischen Autobauer über viele Jahre sehr erfolgreich am Markt agieren lässt. Dieser kontinuierliche Verbesserungsprozess trägt wesentlich dazu bei, eine hohe Qualität der Ergebnisse zu gewährleisten. Im agilen Kontext adressiert Kanban darüber hinaus folgende Prinzipien:

  • Visualisierung, um Arbeit transparent zu machen.
  • „Manage the Flow“, um den Durchlauf zu optimieren.
  • Pull-Prinzip, um Engpässe zu vermeiden.
  • Explizite Regeln, um eine gesunde Interaktion zu erreichen.

Kanban ist sicherlich mehr als nur ein Board, was viele oftmals mit dem Ansatz in Verbindung bringen und dadurch unterschätzen. Es ist ein Denkmodell mit verschiedenen Praktiken, die agiles Arbeiten fördern.

Kanban ist neben Scrum und Design Thinking der bekannteste agile Ansatz. Alle drei Methoden basieren im Wesentlichen auf denselben Werten wie bspw. Fokussierung und Offenheit. Oftmals erlebe ich in meinem Unternehmen die Diskussion, welche agile Methode denn nun die Beste ist? Meiner Meinung nach ist es unerheblich, welche Methode angewendet wird, denn entscheidend sind das Mindset und die Prinzipien, nach denen gearbeitet wird. Erst wenn das verstanden wird, können agile Ansätze ihre Wirkung entfalten. Darüber hinaus sind Kanban und Scrum praktisch Geschwister. Scrum-Teams arbeiten immer mit einem Kanban-Board. Kanban ohne eine Retrospektive aus Scrum macht keinen Sinn, da der Change Prozess nicht reflektiert wird etc.

Der größte Unterschied zwischen Kanban und Scrum liegt vermutlich in der Einführung der Methode. Scrum ist mit den Rollen, Artefakten und Formaten revolutionär. Vor der Nutzung gilt es Rollen zu definieren und zu schaffen. Das Vorgehen im Prozess muss klar sein. Wer sich wann mit wem zu welchem Zweck trifft, steht ebenfalls fest. Die Einführung von Kanban hingegen ist evolutionär. Es beginnt dort, wo das Team gerade steht und der Prozess sowie die Zusammenarbeit werden sukzessive angepasst. Im Verlauf des Wandels können dabei auch neue Rollen und Formate entstehen. Das bedeutet, im Zeitverlauf kommen sich Kanban und Scrum näher. Im Coaching achten wir daher immer darauf, was die Teams brauchen, um ihre Ziele zu erreichen und mit welchen agilen Methoden wir sie dabei unterstützen können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen die agilen Praktiken verinnerlichen und nur die Werkzeuge aus dem agilen Werkzeugkoffer nutzen, die zu ihnen passen und förderlich sind. Agilität ist schließlich kein Selbstzweck!

Die Visualisierung in Kanban

Oftmals starten wir in unseren Teams mit Kanban, in dem wir ein Board nutzen, um die Arbeit des Teams sichtbar zu machen. In einer Manufaktur sieht jeder das bearbeitete Werkstück und weiß daher, wie weit der Fertigstellungsprozess fortgeschritten ist. Im Büroalltag findet Arbeit häufig in Köpfen statt. Es ist wichtig, Arbeitsschritte transparent zu machen, um den Fertigungsprozess zu steuern. Dazu bedienen wir uns gerne aus Scrum und fördern die Kommunikation mit Standups. Diese haben den Fokus, Flaschenhälse im Workflow zu identifizieren, Unterstützung im Team einzuholen und sich für den nächsten Zyklus – also bis zum nächsten Standup – abzustimmen. Kurzum: es wird besprochen, wer sich welche Aufgabe bis zum nächsten Standup vornimmt.

In den Standups oder in separaten Priorisierungsmeetings priorisiert eine Führungskraft für alle sichtbar die Aufgaben, wobei natürlich auch die Teammitglieder ihre Sichtweisen in die Priorisierung mit einbringen. Durch die Visualisierung am Kanban-Board wird die Arbeitslast – die sogenannte Workload – für alle sichtbar und entsprechend berücksichtigt. Die Transparenz steigt.

Vor dem Einsatz von Kanban wurden in unserem Unternehmen die Aufgaben immer direkt an eine Person weitergeleitet und der Berg an Arbeit wuchs und wuchs. Nun gelangt eine neue Aufgabe – im Fachjargon eine Task – erstmal in das Backlog und bleibt, wenn Kapazitäten fehlen oder es andere Prioritäten gibt, erst mal liegen. Zu Beginn erfordert es etwas Mut vom Team und der Führungskraft, dem Auftraggeber mitzuteilen, das sein Anliegen nicht sofort bearbeitet wird. Natürlich ist es wichtig, ihm die Gründe dafür transparent zu kommunizieren, um so das gegenseitige Verständnis zu steigern. Ein Rückfall in alte Zeiten würde den Flow im Team schaden und ließe neue Flaschenhälse entstehen. „Stop starting, start finishing!“ – ist eine wichtige Erkenntnis in unserer Organisation. Durch Kanban ist jedes Teams nun in der Lage, sich auf eine definierte Menge von Aufgaben zu konzentrieren. Und die Erfahrung zeigt, dass es keinen Sinn ergibt, diese Menge an zu bearbeitenden Aufgaben wie in der Vergangenheit immer weiter zu erhöhen. Die Begriffe, die Kanban dafür kennt, heißen nicht umsonst Work in Progress (WIP) und WIP Limit. Dass diese Begrenzung zu einer erhöhten Qualität beiträgt, ist offensichtlich, oder?

Der Nutzen von Kanban

Ich beobachte regelmäßig, dass der „Aha“-Moment bei der Anwendung von Kanban bereits eintritt, wenn alle Tasks am Board visualisiert werden. Alle Beteiligten sind überwältigt von der Menge der Aufgaben. Die Visualisierung sorgt dafür, dass alle Mitarbeiter im Team das gesamte Arbeitsvolumen erkennen. Erste Zusammenhänge ergeben sich und auch Überschneidungen werden erkannt: „Du arbeitest auch an Aufgabe A? Ich auch!“ Solche Überraschungsmomente nehmen im Laufe der Zeit ab und Doppelarbeiten werden vermieden. Das ist für unsere Organisation ein klarer Vorteil.

Die Standups sind bei uns auf 15 Minuten terminiert. Sie bieten Teammitgliedern die Chance, kurz den jeweiligen Arbeitsfortschritt darzustellen. Gleichzeitig kann jeder Teilnehmer offen um Unterstützung bitten, bspw. wenn er bei einer Aufgabe nicht wie erwartet vorankommt. Möglich wird diese Frage nach Unterstützung durch einen kleinen Perspektivwechsel: Aufgaben gehören dem Team. Das Team ist verantwortlich für die Lösung der Aufgaben. Durch diese etwas andere Sicht auf Aufgaben, ist es keine keine persönliche Niederlage, wenn ein Mitarbeiter nach Unterstützung fragt. So kommt es inzwischen immer häufiger vor, dass mehrere Teammitglieder gemeinsam an einzelnen Aufgaben arbeiten. Es ist beeindruckend zu sehen, wenn ein Team im Organigramm zu einem Team im realen Arbeitsalltag wird. Die Freude beim Verschieben von Tasks in die Spalte „done“ auf dem Kanban-Board ist inzwischen greifbar. Erfolge werden sichtbar. Sie werden sogar gefeiert; mit einem kleinen Jubelschrei oder einem Abklatschen. Dies war früher undenkbar. Und warum ist das so? Weil heute nicht mehr einzelne Menschen gesteuert werden, sondern Aufgaben. Es ist also tatsächlich ein Mindset, das seine Wirkung entfaltet.

Die Arbeit als agiler Coach

Als Coaches begleiten wir Teams bei der Einführung von Kanban. Das Schöne an Kanban ist zwar, dass man im „hier und jetzt“ startet, doch wie sieht der erste konkrete Schritt aus? Diese Frage gilt es stets mit Blick auf das konkrete Team zu beantworten. Meist haben die Mitarbeiter keinerlei Erfahrung mit Kanban, so dass wir versuchen, ihnen sinnvolle agile Praktiken zu vermitteln. Bei uns hat es sich bewährt, Teams in einzelnen Sessions mit Wissen zu versorgen (z.B. „Wie schreibt man gute Arbeitspakete?“) und im Anschluss zu vereinbaren, was davon für das Team und seine Mitglieder passt und wie sie es in den nächsten 4 Wochen umgesetzt werden kann. Nach 4 Wochen blicken wir gemeinsam auf die Veränderung zurück, vermitteln Wissen und besprechen Maßnahmen für die nächsten 4 Wochen.

Oftmals werden in unseren Retrospektiven Aspekte sichtbar, die negative Einflüsse auf die Performance des Teams haben. Diese Einflüsse versuchen wir gemeinsam mit dem Team Schritt für Schritt zu adressieren. Dabei ist wichtig, dass die Mitarbeiter die Probleme selbst entdecken und wir sie als Coaches methodisch unterstützen. So entsteht ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess, in dem Teams ständig reflektieren und dazulernen. Ein Team kam auf die Idee, ein zweites Standup zu nutzen, um schneller auf ungewollte Störfaktoren bzw. Impediments reagieren zu können und niemand mit seinem Problem alleine zu lassen. Für mich ist das ein Beweis, dass unsere Organisation lebt und in keinster Weise träge ist oder stagniert.

Idealerweise ist unser Coaching endlich. Nachdem wir für einen Wissenstransfer gesorgt haben und Teams in ihrer Arbeit methodisch unterstützt haben, ist es unser Ziel, das jedes Team ohne unser Zutun kontinuierlich an seiner Verbesserung arbeitet. Kanban soll wie eine zweite Haut für das Team werden. In den Standups gilt es Flaschenhälse zu erkennen und zu beseitigen, Priorisierungsprozesse sollen ohne unsere Hilfe durchlaufen werden etc. Aus einem ersten Team haben wir uns bereits zurückgezogen, da dieses ein Level an Zusammenarbeit und Organisation erreicht hat, der gut zu dem Team passt. Gerne stehen wir natürlich auch diesem Team zur Verfügung, sollte es uns wieder „pullen“, bspw. für die Moderation einer Retrospektive.

Fazit

Aus meiner Sicht zeigt der unser Erfolg mit Kanban, dass sich auch Organisationen des öffentlichen Sektors im Inneren verändern. Immer mehr Bereiche sind bereit, neue Wege zu gehen. Die Kolleginnen und Kollegen in den Teams, mit denen wir zusammen arbeiten, sind motiviert und offen. Sie wollen Schwachstellen im täglichen Miteinander identifizieren und beseitigen. Sie wollen die Leistung und Geschwindigkeit im Team verbessern.

Und sie wollen ihre Arbeitsweise kontinuierlich verbessern. Vor kurzem sagte ein Teammitglied zu mir: „Wir haben zurzeit 2 Personen weniger zur Verfügung. Ohne Kanban wäre es chaotisch geworden und wir hätten die Situation nicht steuern können.“ Kann es ein schöneres Kompliment geben?

 

Hinweise:

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

Mein besonderer Dank gilt den beiden Trainern Samir Keck und Anne Kliebisch von Leadership³ für die hervorragende Ausbildung „Kanban – Train the Trainer“. Wer das Denkmodell hinter Agilität und Kanban verstehen und die einzelnen agilen Werkzeuge anwenden möchte, ist bei den Beiden super aufgehoben. Ohne diese interaktive Ausbildung wäre ich nicht in der Lage gewesen, meine Aufgabe in dieser Qualität auszuführen.

Manuel Wegener hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: IT-Portfoliomanagement in klassischen Organisationsstrukturen

IT-Portfoliomanagement in klassischen Organisationsstrukturen

Manuel Wegener
Manuel Wegener

Nach seinem BWL-Studium war Manuel Wegener einige Jahre bei der BVG im klassischen Projektmanagement für Vertriebsinnovationen tätig, ehe er 2017 begann, sich intensiv mit Agilität zu beschäftigen. Nach seiner Ausbildung zum Kanban Trainer betreute er verschiedene Teams mit dem Ziel, die Arbeit der Teams steuerbar zu machen, den Kundenfokus zu schärfen und die Teams kontinuierlich weiterzuentwickeln. Es folgte eine Tätigkeit als agiler Organisationsentwickler im Personalbereich, wo er neue Netzwerkformate definierte und ein unternehmensweites Coaching-Angebot für Agiles Arbeiten aufbaute. Seit Dezember 2022 arbeitet er nun bei der BVG als IT-Portfoliomanager.