Anforderungsanalyse, aber remote
- vollständig,
- eindeutig definiert und abgrenzt,
- verständlich beschrieben,
- atomar zerlegt,
- widerspruchsfrei,
- identifizierbar,
- nachprüfbar,
- nachvollziehbar,
- konsistent und
- einheitlich
dokumentiert sein.
Wow, was für ein Anspruch. Und damit ist die Anforderungsanalyse nicht nur inhaltlich und methodisch, sondern auch zwischenmenschlich eine Königsdisziplin bei der Entwicklung neuer Lösungen.
Und jetzt ist auf einmal alles anders. Die Anforderungen müssen auf einmal remote erhoben werden. Ein neuer Auftraggeber von der anderen Seite des Planeten wird kurzfristig gewonnen, ein zusätzlicher Partner aus einer anderen Zeitzone kommt hinzu, oder eine Pandemie verändert von heute auf morgen alles. Was tun? Wie funktioniert Anforderungsanalyse, aber remote?
Die Aufgaben und Methoden im Requirements Engineering
Die Aufgaben im Requirements Engineering sind sehr weitreichend und unterscheiden sich auch je nach Betrachtungswinkel. Es gilt bspw.
- den Systemkontext zu bestimmen,
- die Stakeholder zu managen, d.h. sie zu identifizieren, ihre Ziele, Motive und Einstellungen zu erkennen, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Konflikte zu analysieren,
- Anwendungsfälle oder Misuse Cases zu definieren,
- verschiedene Szenarien mit Bezug auf das zu entwickelnde System, die Interaktion mit dem System und die Organisation zu beschreiben,
- die Anforderungen und die Architektur im Gleichschritt zu ermitteln,
- sowie Anforderungen zu spezifizieren, zu dokumentieren und zu prüfen.
Es ist wenig überraschend, dass es für diese Aufgaben eine große Bandbreite von Techniken oder Methoden gibt, die bei der Anforderungsanalyse zum Einsatz kommen können. Hier eine kleine Auswahl:
- Beobachtungstechniken wie Feldbeobachtung, Apprenticing, Interview, Fragebogen oder Selbstaufschreibung,
- Kreativitätstechniken wie Brainstorming, Brainwriting, Braindumping, Perspektivwechsel, Mindmapping oder Analogietechnik,
- Artefaktbasierte Techniken wie Dokumentenanalyse bzw. Quellenanalyse.
Darüber hinaus können noch zahlreiche unterstützende Techniken, Methoden oder Prinzipien wie bspw. das Kano-Modell, das Impact Mapping, das KISS-Prinzip oder das YAGNI-Prinzip zum Einsatz kommen. Die schöne Welt des Requirements Engineerings ist ein weites Feld der Anforderungsanalyse.
Die Herausforderungen bei einer remoten Anforderungsanalyse
Was sind die Herausforderungen bei der remoten Anforderungsermittlung und Anforderungsanalyse? Auf den ersten Blick natürlich die Entfernung. Kann der Anforderungsanalytiker, der Business Analyst oder der Requirements Engineer – wie er auch immer genannt wird – nicht am selben Ort wie der oder die Kommunikationspartner sein, entfallen Methoden wie die Feldbeobachtung, das Apprenticing oder das Brainwriting. Andere Hilfsmittel funktionieren aber auch über die Ferne wie Interviews, Selbstaufschreibung, Dokumentenanalyse; dafür werden lediglich ein Telefon oder eine Collaboration Software benötigt. Scheinbar.
Tatsächlich verändert sich sehr viel in der Anforderungsanalyse, wenn sich die Kommunikationsparameter verändern. Eine 1:1 Kommunikation zu einem vereinbarten Thema per Videokonferenz ist meist keine wirkliche Herausforderung, selbst wenn es manchmal technische Stolpersteine gibt, die Bild- oder Tonübertragung hakt oder die Verbindung ohne ersichtlichen Grund abbricht. Im Wesentlichen pendelt sich dies aber schnell ein und mit etwas Übung gelingt der Austausch fast wie bei einem Gespräch vis-à-vis. Die wirklichen Herausforderungen beginnen bei einer 1:n Kommunikation, wenn gewohnte Aspekte der Gruppenführung, die konsequente Ausrichtung am Thema, die Einbindung aller Anwesenden schwierig werden. Was tun, wenn Mimik und Gestik fehlen bzw. nicht zu erkennen sind? Wenn Teilnehmer mental abschalten? Oder wenn die einfache Visualisierung von Zusammenhängen an einem Whiteboard nicht wie gewohnt funktioniert?
Die Antwort lautet: Good Practices, an die sich Organisatoren, Moderatoren und Teilnehmer gewöhnt haben, müssen neu entdeckt und erarbeitet werden. Die tatsächliche Herausforderung bei der remoten Anforderungsanalyse ist, dass dies parallel zur Königsdisziplin bei der Entwicklung neuer Lösungen passieren muss, sprich bei der Erhebung und Analyse von vollständigen, eindeutig definierten und abgrenzten, verständlich beschriebenen, atomar zerlegten, widerspruchsfreien, identifizierbaren, nachprüfbaren, nachvollziehbaren, konsistenten und einheitlich dokumentierten Anforderungen.
Tipps für eine remote Anforderungsanalyse
Als Format für eine 1:n Kommunikation sind Workshops sehr beliebt. Natürlich braucht ein Workshop zur Anforderungsanalyse offline wie online eine gute Vorbereitung, eine exzellente Durchführung und eine smarte Nachbereitung. Unter Best Practices für Anforderungsworkshops finden Sie viele Tipps zu diesem Thema. Wer sich mit dem Thema der remoten Anforderungsanalyse beschäftigt, sollte sich diese Tipps unter einem konkreten Blickwinkel anschauen: was bedeutet dies für Ihre remote Anforderungsanalyse?
Hier finden Sie einige zusätzliche Tipps:
- Achtsamkeit ist wichtig, gerade weil der Online-Austausch für viele Teilnehmer Neuland sein kann. Achtsamkeit in Richtung der anderen Teilnehmer, aber auch sich selbst gegenüber. Vielleicht können Sie sich auch ein Stück weit selbst beobachten und erkennen, was der geänderte Austausch, was Verhaltensweisen, was Technik und das Agieren in Ungewissheit mit Ihnen machen. Und wenn Sie entsprechende Veränderungen bei sich beobachten, dann wissen Sie auch, dass es anderen Teilnehmern ähnlich geht.
- Versuchen Sie, nachsichtig zu sein. Nachsichtig gegenüber „anderen Meinungen“, aber auch gegenüber der Technik und den Eigenarten anderer Teilnehmer, die Features eventuell weniger intuitiv als Sie nutzen. Idealerweise sorgen Sie frühzeitig dafür, dass alle Teilnehmer das Tool, mit dem das Meeting durchgeführt wird, im Wesentlichen verstehen. Legen Sie fest, wo Fragen gestellt (im allgemeinen Chat, im privaten Chat oder in einem separaten Q&A Forum) und wie diese wann durch wen beantwortet werden. Erläutern Sie bspw. auch wie Dokumente hochgeladen, bearbeitet und gesichert werden, oder wie die gemeinsame Bearbeitung von Grafiken oder Zeichnungen funktioniert.
- Starten Sie die Online-Session bewusst einige Minuten früher. So können Sie einerseits technische Schwierigkeiten in Bezug auf Bild und Ton im Vorfeld klären. Und andererseits fördern Sie so ein zwischenmenschliches Unfreezing, wie es in Offline-Meetings üblich ist. Dieses Unfreezing ist besonders wichtig, denn die meisten Menschen sind es gewohnt, zwischenmenschliche Beziehungen mittels persönlichem Kontakt, per Handshake oder Augenkontakt herzustellen. Da dies verständlicherweise online nur eingeschränkt möglich ist, fällt es auch schwerer, eine vertrauensvolle Beziehung zu beginnen.
- Integrieren Sie „Energy Booster“ wie Umfragen oder Diskussionen in Break-out-Rooms. Planen Sie Pausen ein, und zwar mehr als sonst üblich bei Anforderungsanalysen.
- Verwenden Sie bei Bedarf Moderationskarten. Das macht sowohl Spaß und ist sinnvoll. (Heiko Bartlog hat eine großartige, kostenlose Druckvorlage entwickelt).
- Akzeptieren Sie die Geschwindigkeit. Sie werden feststellen, dass die Zusammenarbeit vor allem zu Beginn langsamer funktioniert, als Sie es gewohnt sind. Ähnlich wie bei einem Staffellauf ist der langsamste Läufer entscheidend. Versuchen Sie also gerade zu Beginn die Anfänger in den Fokus zu rücken. Sie werden feststellen, dass mit allgemein steigender Erfahrung die Geschwindigkeit automatisch wieder zunimmt.
- Lernen Sie, nur auf Fragen zu antworten, die Ihnen gestellt werden. Versuchen Sie nicht, die Probleme von anderen Teilnehmern zu lösen, selbst wenn Sie es gut meinen. Kakophonie wäre die Folge (Gerhard Schröder, der frühere Bundeskanzler, lässt grüßen).
- Rückversichern Sie sich, sprich fragen Sie nach, ob das, was Sie verstanden haben, und das, was jemand anderes gesagt hat, identisch sind. Dies ist besonders wichtig, da sprachliche Feinheiten wie Ironie oder Körpersprache als zusätzliche Indikatoren häufig nicht zu erkennen sind.
- Manchmal ist weniger mehr. Es geht nicht um Experimente, um neue coole Dinge, sondern schlicht um die Anforderungsanalyse.
- Überlegen Sie sich genau, wen Sie einladen, denn je mehr Teilnehmer an dem Austausch teilnehmen, desto schwieriger wird es. Beachten Sie dabei sowohl auf die Gruppengröße, die Gruppenzusammensetzung und eine mögliche Gruppendynamik.
- Kommunizieren Sie, in welcher Phase der Anforderungsanalyse – Sammeln, Sortieren, Ergänzen, Verifizieren oder Releasen – Sie sich befinden. Das erhöht das gemeinsame Verständnis. Formulieren Sie ein klares Thema wie die Arbeit an der Value Proposition, die Beschreibung von Use Cases, die Erhebung von Features, die Definition von Schlüsselkomponenten oder die Bestimmung von Interfaces. Und nennen Sie ein klares Ziel für das Meeting.
- Versuchen Sie eine strukturiertes Vorgehen zu entwickeln, ohne die Teilnehmer zu micro-managen. Versuchen Sie bspw. nicht Teilnehmer zu überzeugen, ihre Kamera zu aktivieren, wenn sie dies nicht wollen. Im schlimmsten Fall gelingt es Ihnen, aber der Teilnehmende schaltet mental ab.
- Machen Sie immer am Ende eines Meetings eine gemeinsame Lessons Learned Session. Fragen Sie jeden Teilnehmer kurz, was er oder sie beibehalten, ändern, ausprobieren oder weglassen würde. Dieser Input ist die Basis für die Planung für das kommende Meeting und ein erster Schritt in Richtung neuer Rituale.
Darüber hinaus gibt es sicherlich viele weitere, kleine Tipps. Ob es sich aber lohnt, immer ein Stückchen Schokolade griffbereit zu haben, kann ich aber leider nicht allgemeingültig beantworten. 😉
Fazit
Die Anforderungsanalyse ist eine wesentliche Aufgabe auf dem Weg zur Entwicklung erfolgreicher Produkte. Wird die Anforderungsanalyse remote durchgeführt, wird diese Aufgabe zu einer besonders großen Herausforderung. Und zwar inhaltlich, methodisch und zwischenmenschlich. Inhaltlich, weil es schwieriger wird, wichtige Aspekte für die Entwicklung gemeinsam in der Gruppe zu identifizieren. Methodisch, weil etablierte Aspekte nicht mehr wie gewohnt funktionieren. Und zwischenmenschlich, weil das gesamte Miteinander neu entwickelt werden muss. Die Interaktion ist anders. Mimik und Gestik sind kaum zu erkennen. Sprachliche Feinheiten gehen unter Umständen verloren. Vertrauen lässt sich schwerer aufbauen. Die Gruppendynamik wird zu einem hehren Ziel. Somit verändert das Zwischenmenschliche die gesamte Anforderungsanalyse. Aspekte wie Achtsamkeit, Nachsicht und Rückversicherung gewinnen an Bedeutung. Und das sind doch tolle Nachrichten, oder? Der Mensch rückt wieder verstärkt in den Fokus. Wer das versteht, meistert die Anforderungsanalyse, auch remote.
Hinweise:
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Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge zum Umgang mit Anforderungen veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH