You are not the user!
“You are not the user!” Diese Aussage habe ich vor einigen Tagen in einer Diskussion gehört. Kurz und knapp bringt dieser Satz – der für mich deutlich pointierter als die deutsche Übersetzung: “Sie sind nicht der Anwender” bzw. “Du bist nicht die Nutzerin” klingt – etwas auf den Punkt, mit dem sich Menschen, Unternehmen und allgemein unsere Gesellschaft immer wieder auseinandersetzen sollte: Wen adressieren wir mit unserer Arbeit, für wen entwickeln wir Produkte oder Dienstleistung, für wen machen wir Politik, wer soll von unserem Tun profitieren? Für mich ist der Satz gleichzeitig Feststellung, Situationsanalyse und Appell.
Den User im Blick
Was ist ein User? “Ein User ist ein Benutzer eines Computers, eine Anwenderin einer Software, ein Nutznießer eines Dienstes, eine Besucher einer Website oder ein Mitglied einer Online-Community oder eines sozialen Netzwerks.”¹ Er oder sie ist eine reale Person, die außerhalb einer Mensch-Computer-Interaktion auch unter den synonymen Begriffen Kundin, Gast, Patientin, Besucher etc. firmiert.
Die Produkt- und Dienstleistungsindustrie adressiert User als Ideengeberinnen, Bedarfsträger und Käuferinnen. Als Key User ist er primärer Ansprechpartner bei der Nutzung eines Produkts oder einer Dienstleistung. Als Power User besitzt sie im Vergleich mit durchschnittlichen Anwendern besondere Kenntnisse und Fähigkeiten bei der Nutzung von Produkten oder Dienstleistungen. Und als Proxy User kann er sich stellvertretend für Anwender gut in deren Situationen und Wünsche hineinversetzen. Kurzum: Es gibt viele nützliche Ansätze, um User im Blick zu behalten. Und viele Produkt- und Dienstleistungshersteller sind sehr geübt und Experten auf diesem Gebiet.
Es gibt jedoch auch viele Bereiche und Situationen in Unternehmen, in denen User nicht wirklich im Fokus stehen. Im übertragenen Sinne glänzen sie geradezu mit Abwesenheit. Per se wäre dies vielleicht nicht einmal so schlimm, denn: Problem erkannt, Gefahr gebannt. Schwierig und folgenreich wird es jedoch, wenn diese Abwesenheit gar nicht erst als Problem wahrgenommen wird. Schauen wir uns einige “typische” Situationen in Organisationen an, um die Konsequenzen andeutungsweise zu verstehen:
Den User nicht im Blick
Stellen Sie sich vor, Ihr Unternehmen möchte ein innovatives Produkt entwickeln. Sie organisieren Workshops und sammeln Ideen. Wer bewertet die Ideen und wer tritt die finale Entscheidung, welche Idee zu einem Produkt wird?
Je nach Größe Ihres Unternehmens könnte es ein Bereichsleiter, ein Direktor, ein Geschäftsführer oder ein Vorstand sein. Oftmals sind Menschen mit solchen Rollen oder Funktionen sehr erfahren und besitzen die nominelle Befähigung, Entscheidungen mit gewisser Tragweite treffen zu dürfen. Und viele wollen solche Entscheidungen auch treffen. So nachvollziehbar das Ganze auch wirken mag, es ist nicht richtig. Leider “gewinnt” in solchen Settings häufig die Idee den Wettstreit, die am besten präsentiert wurde, oder den Präferenzen der entscheidenden Person am nächsten kommt.
Es gibt nur eine “Instanz”, die final in der Lage ist, eine Idee zu validieren: der Markt. Kunden, Anwenderinnen, User – ganz gleich, wie sie genannt werden. Sie sind diejenigen, die das Produkt später nutzen sollen und wollen.² Sie sind diejenigen, die sich konkrete Vorteile von dem Produkt erwarten. Die Geschäftsführerin oder der Vorstand werden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keine User Ihres Produkts sein; sie sollten daher NICHT über die Idee entscheiden.³
Solche Beispiele gibt es leider in Unternehmen deutlich häufiger, als es auf den ersten Blick wirkt:
- Der Geschäftsführer hat am Wochenende eine Eingebung, welche Funktion in der Software fehlt, und lässt sie unmittelbar und nach seinen persönlichen Vorstellungen implementieren.
- Die Marketingleitung “glaubt”, dass Chat-Funktionen auf Websites ein “Must-Have” darstellen und initiiert kurzerhand eine Toolauswahl und mit anschließender Implementierung.
- Die Vertriebsleiterin liest einen Beitrag über die Vorteile des Plattform-Vertriebs und beschließt nach kurzer Recherche die vorhandene Produktpalette auf einer ausgewählten Plattform zu vertreiben.
- Die HR Leitung trifft die Entscheidung, eine Kampagne für eine konkrete Stellenanzeige auf möglichst vielen Jobportalen auszuspielen, natürlich immer im vorgegebenen Corporate Design, da die Corporate Identity ein hohes Gut darstellt.
- Der Vorstand beschließt, eine neue Software zu beschaffen, damit aus allen Unternehmensbereichen vordefinierte Reports auf Knopfdruck generiert werden können. Da die Anwender aber bei der Auswahl nicht involviert und bei der Einarbeitung auf sich selbst gestellt sind, ist die Akzeptanz der Software von Anfang an nicht gegeben.
Vermutlich lässt sich diese Liste auch mit Beispielen aus Ihrem Unternehmen ergänzen, oder?
Auch Sie sind nicht der User!
Finger Pointing ist einfach. Die Geschäftsführung, die Marketingleitung, die Vertriebsleiterin, die HR Leitung und der Vorstand – das sind in vielen Fällen die “Anderen”, die User übersehen oder übergehen. Wenn allerdings der Zeigefinger beim Finger Pointing die “Anderen” ins Visier nimmt, dann zeigen 3 der 5 Finger der Hand in die eigene Richtung. Sie mögen Expertin oder Fachmann sein, in sehr vielen Situationen sind aber auch Sie nicht der User.
Dazu zwei kleine Beispiele:
Stellen Sie sich vor, eine Freundin bittet Sie um Feedback zu einer Stellenanzeige. Ein Gabelstapler wird gesucht. Die Anzeige ist humorig, allerdings nicht wirklich politisch korrekt geschrieben. Kleinere Scherze über New Work (“Bewerben Sie sich bei uns nur, wenn Sie wirklich wirklich Gabelstaplern wollen!”) und andere Buzzwords (“Achtsamkeit ist uns wichtig, idealerweise achten Sie also beim Gabelstapeln auf die Ware, sodass sie niemanden auf den Kopf fällt!”) reihen sich aneinander.
Und jetzt stellen Sie sich bitte noch vor, ein Freund bittet Sie um Tipps zur Gestaltung seiner Website. Sie erkennen die Struktur und die Menüführung, die Anordnung der Elemente und die Harmonie der Farben der Website. Sie lesen den Slogan und einige Inhalte und verstehen die Intention des Angebots.
Wie bewerten Sie die Stellenanzeige und die Website? Vielleicht haben Sie Erfahrungen bei der Gestaltung von Stellenanzeigen und erkennen daher, was fehlt (Benefits vielleicht) und was klar formuliert wurde (Kernarbeitszeiten, Urlaubstage, Gehaltsbandbreite). Möglicherweise kennen Sie sich im Online-Marketing aus und können Tipps zu Slider, Call to Action oder Kontaktmöglichkeiten geben. Wenn Sie in den jeweiligen Situationen Kenntnisse besitzen, dann sind Sie mit großer Wahrscheinlichkeit eine gute Gesprächspartnerin oder ein guter Feedbackgeber, denn Sie können sich in die Lage des Gabelstapelfahrers oder der Website-Besucherin hineinversetzen. Das ändert aber eine unumstößliche Wahrheit nicht: “You are also not the user!” Sie werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf die Stelle des Gabelstapelfahrers bewerben und auch nicht die ersten Schritte in Richtung einer wertebasierten Dienstleistungsbeauftragung gehen. Entscheidend ist, was der User, der potenzielle Bewerber, die mögliche Interessentin denkt und folglich tut.
Feststellung, Situationsanalyse und Appell
Für mich ist “You are not the user!” Feststellung, Situationsanalyse und Appell in einem. Auf das Individuum, auf mich selbst bezogen, ist es eine Feststellung. Ich bin weder Gabelstapelfahrer noch Anwenderin unserer Software oder Käufer unserer Dienstleistung. Bezogen auf das Wirken von Kollegen und Vorgesetzten ist es häufig eine Situationsanalyse. Die Geschäftsführung wird die neu implementierte Funktion nicht nutzen, der Vorstand die neu beschaffte Software nicht bedienen und die Marketingleitung nicht mit dem eigenen Support oder Vertrieb chatten.
Auf die Feststellung und Situationsanalyse folgt der Appell. Vielleicht können Sie gut die Perspektive wechseln und sich in die Lage anderer Menschen versetzen – dies kann aber nicht die Wahrnehmung, Erfahrung und Erwartung des Users ersetzen. Sprechen Sie daher so häufig es geht mit Ihren Anwendern, Kundinnen oder Gästen. Fragen Sie also Gabelstapelfahrer nach ihren Meinungen zur Stellenanzeige.
Noch eine kleine Ergänzung zum Appell: Der Zugang zu Usern ist manchmal schwierig. Behelfen Sie sich und sprechen Sie wenigstens mit Kollegen (auch aus anderen Unternehmen), die vergleichbare Situationen gemeistert haben. Wie? Rufen Sie bspw. bei einem Unternehmen an und fragen Sie Ihren Counterpart in der Marketingleitung nach den dortigen Erfahrungen beim Aufbau einer Chat-Funktion für die Website. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Menschen gibt, die gerne ihre Erfahrungen teilen. Und das ist deutlich sinnvoller, als eigene Annahmen ungeprüft umzusetzen.
Hinweise:
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[1] User und Begriffe mit direkter oder indirekter Beziehung
[2] Bekannte Hilfsmittel sind u.a. Prototypen, Minimum Viable Products oder Pretotypen.
[3] Zunehmend rücken in einer solchen Situation die Aufgaben und Befähigungen des Teams in den Fokus. Wenn das Team in der Lage ist, eine oder mehrere Ideen am Markt zu validieren, dann sollte es auch in der Lage sein, eine Go-/No-Go-Entscheidung zu treffen. Konsequenterweise wirft das jedoch weitere Fragen – bspw. zur Teamzusammensetzung, finanziellen Entscheidungsbefugnis, strategischen Produkt- und Unternehmensausrichtung – auf; sicherlich ein interessantes Thema für einen anderen Blogbeitrag.
Der Artikel geht nicht auf gesellschaftliche Situationen ein, in denen häufig Gesetze und Regelungen “von” Menschen “für” Menschen erlassen werden, die zwar den Gesetzen und Regeln ebenfalls unterliegen, von ihnen aber nicht unmittelbar betroffen sind. Da sich dies aufgrund der Vielfalt an Gesetzen kaum anders regeln lässt, dürfte es sinnvoll sein, bei den im Vorfeld stattfindenden Beratungen auf eine “maximale” Integration der betroffenen User aka Bürger zu achten.
Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH