Geschwindigkeit als unfairer Vorteil

von | 21.09.2020

Letzte Woche durfte ich einen Meinungsaustausch zum Lean Canvas belauschen. Manche Teilnehmer argumentieren, es sei eine Weiterentwicklung des Business Model Canvas, andere erkannten eine clevere Adaption. Nach einer Weile kam das Gespräch auf den “Unfair Advantage” zu sprechen, den “unfairen Vorteil”, den eine Produktidee bzw. ein Produkt gegenüber anderen Ideen oder Produkten hat. “Unfair Advantage” – wie klingt das für Sie? Ich finde den Ausdruck richtig gut. Und ich kenne einen unfairen Vorteil, den viele Organisationen heutzutage leider übersehen: die Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit im Erkennen, im Denken, im Handeln, im Produzieren, im Liefern, im Betreuen, im Anpassen und bei der Kommunikation. Zeit für einen schnellen Beitrag über die Geschwindigkeit als Wettbewerbsvorteil. Zeit für einen Appell für mehr Geschwindigkeit in Organisationen.

Die Geschwindigkeit als Stellschraube

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich dem Thema Geschwindigkeit zu nähern. Eine der grundsätzlichsten ist der Mensch und seine Vergänglichkeit. Wir leben nicht unendlich. Uns steht nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Alleine aus diesem Grund achten wir auf die Zeit und das bereits seit Kindheitstagen. Erinnern Sie sich:

“Papa, wie lange dauert’s noch bis wir da sind?”

“Wir sind erst vor 10 Minuten losgefahren, wir müssen noch fast 2.000 km fahren, es dauert also noch ca. 20 Stunden!”

Eine Stunde später:

“Papa, wie lange noch?”

Eine solche Anekdote erzählt vieles über die Unschuld und Ungeduld von Kindern, das Verhalten von Eltern und die Zeit, in der es in Westdeutschland nicht unüblich war, in den Sommerferien einfach mit dem Auto quer durch Europa zu fahren, nur um sich an einen Strand zu legen. Aber: die Zeit ist knapp, also schnell zurück zur Vergänglichkeit und zur Geschwindigkeit.

Die Vergänglichkeit – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – betrifft auch viele andere Konstrukte, die zu unserem Leben gehören: Unternehmen existiert nicht ewig¹, Branchen, Industrien, Produkte und Märkte verschwinden, und manchmal lösen sich sogar Staaten auf.

Kurzum: Wenn die Zeit ein limitierender Faktor ist, dann ist die Geschwindigkeit eine Stellschraube für … (an dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich sehr lange über das kommende Wort nachgedacht habe) … das Leben. Ja, in der Tat, für das Leben.

Geschwindigkeit oder Qualität?

Was ist wichtiger: Geschwindigkeit oder Qualität? Auf den ersten Blick ist weder das eine noch das andere wichtiger. Qualität ohne ein gewisses Maß an Geschwindigkeit ist wenig wert, Geschwindigkeit ohne ein gewisses Maß an Qualität ist wenig wert. Ein schlechtes Produkt, dass zwei Jahre zu spät auf den Markt kommt, hat konsequenterweise keine guten Marktchancen. Allerdings wird es auch für das weltbeste Produkte kein Zuckerschlecken, wenn es den Marktplatz zwei Jahre zu spät betritt. Aber – und vielleicht liegt darin ein Chance – Qualität lässt sich entwicklen. Es gibt zahlreiche Produkte, die in ihrem Lebenszyklus qualitativ deutlich besser wurden. Und es gibt Methoden wie bspw. das Kano-Modell, mit dem Produkteigenschaften und deren Einfluss auf die Kundenzufriedenheit beurteilt werden, die explizit bei der Entwicklung von Qualität helfen.

Tatsächlich ist es so, dass sich nicht nur Qualität steigern lässt, auch die Geschwindigkeit lässt sich erhöhen. Exemplarisch möchte ich drei Methoden nennen, die Geschwindigkeit implizit propagieren:

  • Pretotyping ist eine Methode, mit der Produktideen mit minimalsten Aufwand durch das Simulieren von Features und Funktionen getestet werden können.
  • Ein Prototyp ist ein funktionsfähiges, aber vereinfachtes Versuchsmodell eines geplanten Produktes, mit dem ein Lösungsansatz auf seine Eignung getestet wird.
  • Wireframing ist ein Prozess zum Entwurf von Websites, Webanwendungen und Software-Screens und umfasst Information Design, Navigation Design und Interface Design.

Unabhängig davon, in welchen Szenarien sich welche Methode am besten eignet, bei allen geht es darum, zügig wertvolle Informationen zu gewinnen, um bspw. schneller die richtigen Dinge zu tun. In anderen Worten: es geht darum, die Qualität zu erhöhen! So früh wie möglich. Und damit bestätigt sich auch auf den zweiten Blick: Geschwindigkeit ist nicht wichtiger als Qualität, Qualität ist nicht wichtiger als Geschwindigkeit. Beides sollte gemeinsam betrachtet werden.

Die Wirkung von Geschwindigkeit

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein gutes Produkt oder bieten eine gute Dienstleistung an. Menschen wollen Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung kaufen. Wie fühlen sich diese Menschen, wenn sie

  • 40 Wochen auf die Lieferung eines Autos,
  • 8 Wochen auf die Lieferung von Möbeln,
  • 6 Wochen auf einen Arzttermin,
  • 5 Wochen auf einen Handwerker,
  • 4 Wochen auf die An- oder Ummeldung eines Autos oder einer Adresse,
  • 3 Wochen auf einen neuen Personalausweis,
  • 2 Wochen auf einen Werkstatttermin,
  • 45 Tage auf die Rückzahlung einer Stornierung,
  • 10 Tage auf die Lieferung eines Ersatzteils,
  • 7 Tage auf die Rufnummermitnahme eines Telefons,
  • 5 Tage auf die Lieferung eines Buchs,
  • 45 Minuten in der Warteschlange eines Call-Centers oder
  • 15 Minuten auf das erste Getränk in einem Café

warten müssen? Was haben Sie das letzte Mal gedacht, als Sie im Supermarkt oder der Postfiliale auf die Öffnung einer weiteren Kasse warteten? Was ging Ihnen durch den Kopf, als das neue Update einer Software erst Monate nach dem zugesagten Termin ausgeliefert wurde? Begeistert waren Sie mit ziemlicher Sicherheit nicht. Manchmal werden Sie sich gewundert und manchmal sogar geärgert haben.

Natürlich geht es auch anders. Exemplarisch möchte ich zwei Unternehmen und ihre Dienstleistung nennen:

  • Ikea und
  • Amazon.

Es gibt viele Gründe, warum beide Unternehmen erfolgreich sind. Ein wesentlicher Grund ist Geschwindigkeit. Bei Ikea können Sie Ihre Möbel einfach mitnehmen. Bei den allermeisten anderen Möbelhäusern müssen Sie mehrere Wochen auf Ihre Lieferung warten. Amazon übertrifft mit seiner Geschwindigkeit sogar oftmals den Bedarf seiner Kunden, denn die meisten Menschen lesen Bücher erst mehrere Wochen nach dem Kauf. Geschwindigkeit dürfte also gar keine so große Rolle bei der Lieferantenwahl spielen, tut sie aber (als ein Kriterium) doch.

Geschwindigkeit als Wettbewerbsvorteil

Natürlich lässt sich Geschwindigkeit “nicht aus dem Hut zaubern”. Sie zu erhöhen ist häufig eine Herausforderung. Dennoch lautet mein Appell: Machen Sie Geschwindigkeit zu einem Wettbewerbsvorteil.

Warum? Sind Ihre Produkte vergleichbar mit den Produkten der Konkurrenz, kann Geschwindigkeit Ihnen einen großen Vorteil bieten. Sind Ihre Produkte besser, werden Sie durch Geschwindigkeit fast unschlagbar. Und sind Ihre Produkte noch nicht vergleichbar, kann Geschwindigkeit dabei helfen, die Lücke zu schließen.

Und was können Sie konkret tun, um die Geschwindigkeit zu einem Wettbewerbsvorteil zu machen?

  • Betreiben Sie Benchmarking als kontinuierlichen Vergleich von Produkten, Dienstleistungen sowie Prozessen und Methoden mit (mehreren) Unternehmen, um die Leistungslücke zum sog. Klassenbesten (Unternehmen, die Prozesse, Methoden etc. hervorragend beherrschen) systematisch zu schließen.
  • Nutzen Sie Methoden, mit denen Sie schneller Feedback erhalten.
  • Befragen Sie Ihre Kunden.
  • Optimieren Sie Ihre Abläufe, aber nicht im Sinne der Auslastung der Mitarbeiter, sondern im Sinne Ihrer Kunden. Es ist nicht wichtig, ob ein Mitarbeiter an einer Hotline tatsächlich jede Minute des Tages mit Kunden telefoniert, es ist wichtig, wie lange der Kunde in der Warteschlange warten muss, bevor ihm geholfen wird.
  • Seien Sie kreativ. Es gibt Friseure, die vereinbaren direkt vor Ort bereits den nächsten Termin sechs Wochen später und verändern somit den gesamten Prozess der Terminvereinbarung. Ähnliches machen Ärzte, die jährliche Checkups initiativ mit ihren Patienten vereinbaren, oder Autowerkstätten, die frühzeitig Termine für anstehende TÜV-Abnahmen anbieten. Softwarehersteller könnten zwei oder drei fixe Termine pro Jahr kommunizieren, an denen sie Updates ausliefern. Behörden könnten den Prozess zur Erneuerung von Personalausweisen online anbieten.
  • Und nutzen Sie Small Data, also die Informationen, die Ihnen von Ihren Kunden oder Mitarbeitern ohne großen Aufwand zur Verfügung stehen. Eine interne IT muss die Bedürfnisse der Fachabteilung besser kennen als jeder externe Dienstleister, da sie näher am Ort des Geschehens ist. Ein Plattformbetreiber kennt die Dienste und Funktionen, die besonders häufig in Anspruch genommen werden. Manchen Sie diese Wissen – natürlich im Einklang mit unseren Datenschutzgesetzen – zu Ihrem “unfairen Vorteil”! Beschleunigen Sie die Dinge, die für Ihre Kunden und Anwender den größten Vorteil bringen. Und – bitte nicht vergessen – kommunizieren Sie dies. Denn Geschwindigkeit benötigt Kommunikation, aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.

 

Hinweise:

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[1] Laut Statista gab es Ende 2018 in Deutschland 3.279.135 steuerpflichte Unternehmen mit jährlichen Lieferungen und Leistungen über 17.550 Euro. Jedes dieser Unternehmen darf mich gerne überzeugen, dass sie “ewig” leben. Da allerdings auch ich nur eine begrenzte Zeit auf diesem Planeten habe, dürfte der Beweis schwierig zu erbringen sein. 😉

Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing - da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen - bspw. hier im Blog - anzubieten. Wenn Sie Lust haben, verabreden Sie sich mit ihm auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen; mit Sicherheit freut er sich darauf!