Ich liebe es, wenn ein Plan NICHT funktioniert
In meiner Jugend war ich ein großer Fan des A-Teams. Legendär war der Spruch des Anführers Hannibal mit einer riesigen Zigarre im Mund:
„Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!“
Schaut man sich in Unternehmen um, sieht man häufig das genaue Gegenteil. Da ist eher Wilhelm Busch an der Tagesordnung:
“Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.”
In wie vielen Situationen kam ihnen diese Redewendung in den letzten Tagen und Wochen in den Sinn? Wer hätte gedacht, dass die Topreiseziele in 2020 dank Corona Balkonien und Gardenien heißen? Wer hätte gedacht, dass unsere Kinder über Wochen Schule von zu Hause machen werden? Unser Leben ist voll von Überraschungen.
In der Unternehmenswelt lautet die Devise meist – Nichts dem Zufall überlassen! Es werden Pläne geschmiedet, Risiken bewertet und Prognosen für die Zukunft erstellt. In einer immer komplexeren Welt steigt kontinuierlich der Aufwand für die Vermeidung ungeliebter Überraschungen. Ist es da sinnvoll Überraschungen aus dem Privat- und Geschäftsleben fernzuhalten?
Schimmel und andere komische Überraschungen
Fehlschläge können viel Geld kosten. Im schlimmsten Fall kosten sie einem Unternehmen sogar die Existenz. Die folgenden drei Geschichten handeln von Losern, bei denen es anders kam als gedacht. In vielen Unternehmen hätte man sie wahrscheinlich längst vor die Tür gesetzt oder zumindest auf eine Position, wo sie nicht so großen Schaden anrichten können.
Schimmel im Labor
Meine Lieblingsgeschichte ist die von Dr. Alexander Fleming. Fleming experimentierte in seinem Labor mit Staphylokokken. Vor seinem Sommerurlaub vergaß er einige Petrischalen, in denen er das Bakterium angesetzt hatte. Nach seiner Rückkehr stellte er fest, dass in einigen der Schalen ein Schimmelpilz wuchs, der die Staphylokokken an ihrem Wachstum hinderte. Das Penicilin war zufällig gefunden.
Gott sei Dank gab es in diesem Labor keine Clean-Desk-Policy. Wer weiß wie lange wir sonst noch auf dieses lebensrettende Medikament gewartet hätten. Eigentlich wissen auch wir ganz genau, dass nicht in allen unseren “Petrischalen” etwas Großes entsteht. Trotzdem sorgt die Optimierung finanzieller Kennzahlen und Effizienzmaximierung dafür, dass wir “Petrischalen” einsparen. Lieber investieren wir Zeit und Geld in Maßnahmen zur Vermeidung von Risiken und Fehlschlägen.
C22H30N6O4S – Das missglückte Medikament
Bleiben wir bei Medikamenten. Haben Sie schon einmal von Sildenafil gehört? Ein sprichwörtlich blaues Wunder erlebte ein Forscherteam aus Südengland bei der Suche nach einem Wirkstoff gegen koronare Herzerkrankungen. Sildenafil erzielte in den klinischen Studien ein enttäuschendes Ergebnis. Weniger enttäuscht waren allerdings die männlichen Probanden. Bei einigen stellten sich nach Verwendung von Sildenafil wieder Erektionen ein. Auch wenn Ihnen Sildenafil nichts sagt, von Viagra haben Sie sicherlich schon mal gehört. Dieses “blaue Wunder” bescherte dem Pharmakonzern Pfizer in den Folgejahren Milliardenumsätze.
Der Kleber, der nicht richtig klebt
Ein weiterer Pechvogel war Dr. Spencer Silver von der Minnesota Mining and Manufacturing Company, besser bekannt als 3M. Das Ziel war stärkere Klebstoffe zu entwickeln. Seine Entdeckung ließ sich aber leicht ablösen und entsprach somit ganz und gar nicht den Vorgaben. Ein klassischer Fail! Dr. Silver war aber etwas ignorant und hörte nicht auf, seinen Kollegen von der Entdeckung zu erzählen (damit ist er vermutlich auch der inoffizielle Erfinder von Fuckup-Nights).
Einer dieser Kollegen war Art Fry. Der hatte jeden Sonntag eine negative Überraschung. Beim Sonntagsgottesdienst waren die Lesezeichen aus dem Chorbuch gefallen. Könnte man nicht den Kleber von Spencer Silver…? Das Produkt, das die beiden entwickelten, hatte vermutlich jeder von uns schon mal in der Hand – das Post-It. Der Legende nach ist die Farbe Kanariengelb übrigens auch nur Zufall. Im Labor nebenan war noch gelbes Schmierpapier vorrätig.
Mit Überraschungen zum Unternehmenserfolg?
Offensichtlich sind Überraschungen gar nicht so schlecht. Den Losern aus den drei Geschichten verhalfen sie jedenfalls zu großem Erfolg. Die folgenden drei Theorien und Denkmodelle sollen Sie ermuntern, Überraschungen im Unternehmen willkommen zu heißen statt sie durch exzessive Planung zu verhindern.
Überrasche Sie Ihre Kunden
Das Kano-Modell ist den regelmäßigen Lesern dieses Blogs schon mehrfach über den Weg gelaufen. Die sogenannten Begeisterungsmerkmale werden von Kunden nicht erwartet und ihr Fehlen erzeugt auch keine Unzufriedenheit. Sind sie aber vorhanden, hat man Kunden positiv überrascht. Die blaue Wunderpille aus dem missglückten Herzmedikament sorgte für Hunderte von Dankesbriefen beglückter Probanden in der Erprobungsphase. Es kam sogar zu einem Einbruch ins Labor von Pfizer. Einige Kunden waren offensichtlich bereit, einen sehr hohen Preis für dieses Medikament zu bezahlen.
If life gives you lemons, make lemonade
Was ist aber wenn einem das Leben (privat oder geschäftlich) mit negativen Überraschungen konfrontiert? Das Prinzip Effectuation hat die Antwort parat – Nutze den Zufall. Gibt dir das Leben Saures in Form von Zitronen, mach einfach Limonade daraus. Dieses Motto nahm sich der Schwede Yngve Berqvist zu Herzen. Der Geschäftsmann hatte ein florierendes Rafting-Business. Da die Winter lang und eisig sind, suchte er sich eine weitere Umsatzquelle. Mit Eisskulpturen-Workshops und den dazugehörigen Ausstellungen fand er ein Geschäft für die Wintermonate. Mutter Natur gab ihm allerdings Saures und eines Tages zerstörte Regen die Skulpturen. Aus der Not machte Berqvist eine Tugend und das Eishotel war geboren. Zu Beginn des Winters wird das Eishotel aufgebaut und im Frühling schmilzt das Hotel wieder dahin. So entsteht jährlich ein neues Eishotel. Berqvist hat bewiesen, dass man aus einer negativen Überraschung ein profitables Business machen kann. Seit über 30 Jahren ist das Tauwetter ein steter Begleiter des Unternehmens.
Fragil, robust, antifragil
Noch einen Schritt weiter geht Nicholas Taleb in seinem Buch “Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen”. Er ist überzeugt, dass die konsequente Vermeidung von Überraschungen mehr als verpasste Chancen sind. Es ist schädlich. Organisationen, die Zufälle und Ungewissheit abwehren sind fragil. Über kurz oder lang werden diese Organisationen zerbrechen wie ein Weinglas. Das Gegenteil von fragil ist für Taleb übrigens nicht robust. Robustheit bedeutet lediglich, einem externen Einfluss über lange Zeit Stand zu halten. Deshalb hat er den Begriff antifragil geprägt. Etwas wird durch externe Einflüsse immer besser. Ein prominentes Beispiel sind für den Hobbygewichtheber Taleb Muskeln und Knochen. Viel hilft übrigens nicht viel. Nicholas Taleb empfiehlt Risiken zu vermeiden, die einen Totalverlust bedeuten. Es geht vielmehr darum, viele kleine Risiken einzugehen und sich nicht zu früh auf eine Option festzulegen.
Und jetzt?
Die Geschichten sind ja ganz nett. Die Theorien sind interessant. Wie fängt man aber jetzt konkret an? Leider ist mir kein 5-Schritte-Plan für mehr Überraschungen bekannt.
Wollen Sie erstmal für sich persönlich Überraschungen mehr Raum geben? Wie wäre es mit diesen drei Ideen:
- Viele Menschen schreiben in dieser Zeit ein Tagebuch, oder zu neudeutsch Journal. Schreiben Sie doch mal auf, welche Überraschungen Ihnen während der Woche so widerfahren sind. Was waren die positiven Überraschungen? Wo kam es anders als gedacht? Wo könnten Sie aus Zitronen Limonade machen?
- Google Earth befördert Sie an spannende Orte rund um die Welt. Einfach das Symbol mit dem Würfel drücken und schon wird man mit Städten und Sehenswürdigkeiten überrascht. Die ganz Mutigen suchen so ihr nächstes Reiseziel aus.
- Lassen Sie sich vom Restaurant um die Ecke überraschen. Fragen Sie nicht nach der Speisekarte, sondern lassen Sie den Kellner das Gericht aussuchen.
Auch als Team oder ganze Organisation lohnt es sich das Thema Überraschungen auf die Tagesordnung zu setzen:
- Nehmen Sie doch mal das Thema Überraschungen mit in die nächste Retrospektive. Wo gab es im letzten Sprint Überraschungen? Waren das positive Überraschungen oder haben uns die Überraschungen aus der Bahn geworfen? Mit welchem Begeisterungsmerkmal könnten Sie Ihren Kunden überraschen?
- Erzeugen Sie überraschende Begegnungen. In meinem Unternehmen gibt es einen Connecting Lunch. Per Zufall werden zwei Menschen zu einem gemeinsamen Mittagessen ausgelost. Natürlich funktioniert das auch mit Kaffeepausen oder remote.
- Oder wie wäre es mit überraschenden Lösungen für hartnäckige Probleme? Spielen Sie doch mal Impro-Theater. Die Anleitung finden Sie bei Liberating Structures.
Natürlich sind diese ersten Schritte kein Garant für den nächsten Nobelpreis, die nächste Wunderpille oder die Milliarden-Dollar-Geschäftsidee. Wahrscheinlich werden manche Überraschungen sogar alles andere als angenehm sein. Aber es werden auch richtig tolle Überraschungen dabei sein. Dann denken Sie an Hannibal vom A-Team, gönnen Sie sich eine Zigarre oder ihr Lieblingsgetränk und sagen sich:
“Ich liebe es, wenn ein Plan NICHT funktioniert.”
Hinweise:
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Tobias Leisgang hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:
Tobias Leisgang
Die Unternehmenswelt kennt Tobias bestens aus seiner hauptberuflichen Tätigkeit. Seit November 2018 verantwortet er bei einem globalen Automobilzulieferer Innovation mit externen Partnern - vom Konzern bis zum Startup. Vorher war er 15 Jahre bei einem amerikanischen Technologiekonzern in Rollen vom Entwickler bis zum Leiter System Engineering tätig und hatte dabei Einblick in Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Die Herausforderungen wurden in globalen Teams gelöst.