Worum es bei Agilität wirklich geht

Gastbeitrag von | 18.11.2021

Als ich vor Jahren häufiger das Wort Agility im Web las, habe ich bei Wikipedia nachgesehen und das erste, was ich dort sah war ein Foto mit einem Hund. 🙂

Seitdem habe ich sehr viel über Agilität gelernt. Wäre auch schlimm, wenn es anders wäre. Obwohl es das agile Manifest bereits seit 2001 gibt, herrschen immer noch Missverständnisse und Unklarheiten bezüglich dieses Themas. Teilweise auch sehr verständlich, denn das Internet liefert nicht nur sinnvolle Informationen, sondern ist oft auch eine Quelle für Fehlinformationen. Hinzu kommen zusätzliche Begriffe wie „New Work“ (neue Arbeit) und „Company Culture“ (Firmenkultur) und weitere verwandte Begriffe, die irgendwie alle miteinander zu tun haben. Das kann dazu führen, dass man, durch lauter Bäume (Begriffe) den Wald nicht mehr sieht und den Überblick verliert.

Die Grundlage der Agilität

Die Grundlage der Agilität ist einfach und basiert auf Werten, die es schon immer gab.

Es ist völlig natürlich, dass „neue“ Themen in den Medien viel Aufmerksamkeit bekommen und zahlreiche Menschen ihre Meinungen zu einem Thema kundtun. Einige möchten sich besonders hervortun, indem sie ihre scheinbare Expertise hervorheben. Das führt nicht selten zu falschen Informationen. Zudem neigen wir Menschen auch dazu, Sachen komplizierter zu machen als sie tatsächlich sind.

Dass die Komplexität eher in der Durchführung und dem Leben von Agilität liegt, erläutere ich später. Ich fange erstmal vorne an: Die Basis für Agilität ist: Kultur. Ohne Kultur kann man nicht agil werden. Was genau bedeutet das?

Eine gute (Firmen-)Kultur besteht aus einem Miteinander, das auf gegenseitigem Respekt, Wertschätzung, Empathie und Vertrauen basiert. Sowohl unter den Kollegen als auch auf Ebene der Manager und von Manager zu Mitarbeiter. Also auf Augenhöhe.

Manager agieren als Leader und unterstützen die Teams, in dem sie proaktiv Vertrauen in ihre Expertise und Kompetenzen zeigen. Sie nehmen Feedback von Teams ernst und fördern es, selbst wenn Ideen und Wahrnehmungen nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Diverse Ansichten sind wichtig für den Unternehmenserfolg, denn Diversität (was viel mehr umfasst als /m/w/d) ist gut für Innovation. Ein Leader vertraut, unterstützt und ermöglicht dem Team autonom und selbstverantwortlich Entschlüsse zu treffen. Natürlich muss das Team auch eventuelle Konsequenzen tragen!

Diese Herangehensweise motiviert Individuen und Teams. Sie werden selbstbewusster und kreativer. Sie beginnen aktiv und mutig mitzudenken und entwickeln neue Ideen. Dabei dürfen auch Fehler gemacht werden, denn aus Fehlern lernen Menschen und Organisationen.

Dies alles sind Werte und Haltungen, die wir Menschen schon immer wertgeschätzt haben und die es möglich machen, dass unser ganz normaler Alltag funktioniert. Nicht Neues unter der Sonne, denn das haben mir meine Eltern schon als kleiner Junge beigebracht und vorgelebt. 🙂

Warum agil?

Agilität hat heutzutage oft mit einer Änderung der Einstellungen und Gewohnheiten zu tun, die in einer Firma seit Jahren die Norm sind. Normen, die in der heutigen Welt und Gesellschaft häufig keine Gültigkeit mehr haben.

Jeder von uns stellt seit geraumer Zeit fest, dass unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Arbeit und auch die Art und Weise wie wir miteinander agieren und kommunizieren, einem kontinuierlichen Wandel unterworfen sind. Und die Pandemie hat sogar unser Konsumverhalten geändert und wir kaufen zunehmend online ein.

Da Kunden immer anspruchsvoller werden und immer mehr Erwartungen haben, wenn es um Kundenzentriertheit (Customer Centric Thinking), Kundenerfahrung (Customer Experience) und ihren „Weg“ zum Kaufentscheidung (Customer Journey) geht, ist es für Unternehmen enorm wichtig, immer ad hoc auf diese Anforderungen, Wünsche und Erwartungen zu reagieren. Hinzu kommt, dass Kunden gerne das Neueste und Hipste besitzen möchten; leicht zu beobachten beim Produkt Smartphone, wo Hersteller gefühlt täglich neue Modelle auf dem Markt bringen, die immer coolere Features vorweisen. Nicht nachhaltig, aber das ist ein anderes Thema.

Neben Kunden sorgen auch viele junge Menschen mit frischen, innovativen Ideen und neuen Start-ups (auch nichts wirklich Neues aber gerade en vogue) dafür, dass vorhandene Produkte in zeitgemäßen und bequemeren Versionen den Markt erobern. Eine Entwicklung, die Unternehmen dazu bringt, sich ständig zu hinterfragen und neu zu erfinden, um Kunden glücklich und zu Fans zu machen, die einem treu bleiben.

Erstens kommt es anders…

Jetzt kommt der am Anfang erwähnte Satz zur Sprache, dass die Komplexität eher in der Durchführung und dem Leben von Agilität liegt. Ein guter Freund aus Köln sagt immer: „Erstens kommt es anders und zweitens als wie man denkt.“

Obwohl grammatikalisch nicht korrekt, ist die Aussage absolut zutreffend. In unserer Zeit lässt sich vieles nicht vorhersehen und es ist schier unmöglich, festgelegte Resultate lange im Voraus zu bestimmen. Somit ist es wichtig, nicht alles akribisch in Stein zu meißeln. Wie die Umsetzung der Idee am Ende einer Reise aussieht, ist ungewiss. Es kann sogar sein, dass durch Änderungen auf dem Markt und/oder bei den Kunden Ideen im Laufe der Zeit obsolet werden. Für Unternehmen muss dies kein Beinbruch sein, sofern sie agil einen anderen Weg einschlagen, um das Produkt noch begehrlicher zu machen. Vielleicht sogar mit einer völlig neuartigen, anderen Idee. Wichtig ist dabei ein reger Austausch mit Kunden. Sie sind die ultimative Ideenquelle und wissen genau, was sie möchten oder benötigen. Ihre Ausführungen helfen dabei, Produkte tatsächlich für konkrete Bedürfnisse zu entwickeln.

„Erstens kommt es anders und zweitens als wie man denkt.“ Diese Aussage führt zu drei Dingen, die für Unternehmen zunehmend wichtiger werden:

  • Mut,
  • Offenheit und
  • Neugierde.

Der Mut, interne Strukturen und Workflows zu verändern, und in Kooperationen (evtl. sogar firmenübergreifend) statt in Abteilungen (Silos) zu denken. Die Offenheit, diverse Meinungen zu hören, auch und gerade von Menschen, die keine Experten sind, aber einen wichtigen Beitrag mit ihrem frischen Blick von außen liefern können. Und die Neugierde auf das Unbekannte, auf spannende Entwicklungen und somit potenzielle Chancen, die für den geschäftlichen Erfolg und somit die Zufriedenheit der Kunden sehr förderlich sein können.

Natürlich lässt sich das Ganze in der Realität nicht immer so einfach umsetzen, wie es sich hier liest. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es ist eine Reise und das Ziel der Reise ist viele Anstrengungen wert. Versprochen!

Wir machen Scrum, wir sind agil

Selbstredend braucht jede Art der Zusammenarbeit Strukturen. Strukturen bringen Sicherheit. Agilität bedeutet nicht, dass man einfach “rumwerkelt” und ohne Struktur agiert. Jedoch gibt es auch in diesem Bereich noch viele Missverständnisse: Die Nutzung von hippen und angesagten Tools macht eine Firma und die Menschen in der Firma nicht agil.

Unter Agilisten gibt es ein Bonmot: „Wir machen Scrum, wir sind agil“. Eine Aussage, die leider in zahlreichen Organisationen Realität ist.

Als Berater lande ich bspw. immer wieder in Projekten, in denen Scrum genutzt wird, obwohl Agilität gänzlich fehlt. Viele Organisationen nehmen diese Situation noch nicht einmal wahr. Oftmals wird Scrum sogar falsch interpretiert, so dass Chaos entsteht: Manager stören das Team und ignorieren den Scrum Master, verteilen Befehle und die Themen, an denen das Team gerade arbeitet, werden unterbrochen. Teammitglieder reagieren wie in alten Zeiten und gehorchen. Mit dem Resultat, dass die geplante Arbeit am Ende des Sprints nicht fertiggestellt wird und das Team den Unmut des Managements, der Stakeholder und auch der (End)Kunden zu spüren bekommt. Das erzeugt Druck, Missmut und Angst. Und ist sehr schlecht für die Firmenkultur!

Da hilft es auch nicht, wenn man Rahmenwerke wie Scrum, Kanban oder Scrumban einsetzt. Wenn das Mindset (Einstellung) und die Kultur nicht passen, kann man „Scrummen/Kanbanen“ wie ein Weltmeister, es wird nicht den erwarteten Erfolg bringen. Scrum und Kanban sind nicht agil, sondern ganz normale Tools, die man in einer wirklich agilen Umgebung als Unterstützung einsetzen kann.

Die Anwendung von Frameworks

Muss man wirklich alles so einsetzen und durchführen, wie es in den Handbüchern steht? Muss man nicht, aber dann kann man es gleich sein lassen. Denn es macht nun wahrlich wenig Sinn, wenn man sich dazu entscheidet ein Rahmenwerk oder eine Methodik einzusetzen, wenn es man dann nur in Teilen praktiziert. Die Entwickler eines Frameworks werden sich wohl etwas dabei gedacht und die Strukturen nicht nur aus Lust und Laune entworfen haben.

Beispiel Scrum:

Ich erlebe oft die Situation, dass ein Team (oder gar das Management!) den Nutzen des Daily Standups oder des Sprint Reviews nicht erkennt.

Zur Erklärung:

Das Daily Standup, auch Daily Scrum genannt, findet jeden Tag statt und dauert maximal 15 Minuten. Während dieser Zeit sagt jedes Teammitglied, was es gestern getan hat, was es heute tun wird und wobei es heute Hilfe benötigt. Ziele des Austauschs sind Transparenz und Synchronisation, und nicht wie oftmals beobachtet Rechtfertigung. Transparenz und Synchronisation sind enorm wichtig, insbesondere wenn es sich um ein interdisziplinäres Team handelt, was oftmals der Fall ist.

Am Ende eines Sprints, der in der Praxis oft zwei bis vier Wochen dauert, und in dem ein Teil des Produkts (Inkrement genannt) fertiggestellt und zu dem bereits bestehendem Inkrement zugefügt wird, findet das Sprint Review statt. Dort stellt das Team den Stakeholdern neue Features vor, mit dem Ziel konkretes Feedback zu erhalten. Idealerweise herrscht auch beim Review eine generelle Transparenz und Vertrauen unter den Teilnehmenden, die Entwicklung wird besprochen, einzelne Aspekte werden diskutiert und das Entwicklungsteam gewinnt wertvolle Informationen. Diese helfen dabei, Features so zu entwickeln, dass Stakeholder damit zufrieden und glücklich sind.

In der Praxis ist dies aber leider nicht immer so einfach. Oftmals ist es eine richtige Odyssee, die Damen und Herren Stakeholder dazu zu bewegen, an diesem wichtigen Meeting teilzunehmen. Sehr schlecht für das Produkt und auch die Motivation der Entwickler, denn schlussendlich adressiert das Review den Dialog mit den Stakeholdern, damit diese informiert und auf dem aktuellen Stand sind.

Fehlendes Toolwissen in Unternehmen

Wie viele meiner Kollegen habe ich die Erfahrung gemacht, dass in Unternehmen häufig das Wissen um Tools und Frameworks fehlt. Leicht lässt sich das erkennen bei einem Blick auf Stellenausschreibungen: „Du hast tiefes Wissen in Scrum, Kanban, LeSS, SAFe, Scaled Scrum, Nexus, Design Thinking und weiteren agilen Rahmenwerken wie Jira und Confluence.“ Diesen Passus habe ich mir nicht ausgedacht, leider ist er real. Eine wilde Auflistung von Frameworks, Tools und Methoden.

Jira und Confluence sind bspw. Programme für Projektmanagement. Leblose Sammlungen von Funktionen bestehend aus Codezeilen.

SAFe ist absolut nicht agil, sondern Wasserfall. Es basiert auf festgelegten Resultaten, einem fixierten Budget und einem definierten Zeitpunkt für die Fertigstellung des Produkts. Aber: SAFe ist enorm populär. Und bei SAFe lässt sich das Phänomen „Tanzfläche“ beobachten: Alle stehen um die Tanzfläche herum und warten, bis eine Person die Tanzfläche betritt und loslegt. Dann kommen andere hinterher. Übertragen in die Welt der Tools: erst fangen einige Firmen damit an und dann will es die ganze Welt. Teilweise ohne Sinn und Verstand und auch oft Schäden verursachend. Sie merken bestimmt, dass ich kein Freund von SAFe bin … 😉

Das Unternehmen als Individuum

Lohnt sich Agilität für Ihr Unternehmen?

Um diese Frage konkret und im Einzelfall zu beantworten, lohnt sich der Blick in die Umgebung, in die Agilität „eingeführt“ werden soll. Ich betrachte jedes Unternehmen wie ein Individuum. Da jede Organisation spezifische und einmalige Eigenschaften besitzt, sollte zuerst immer eine Analyse stattfinden, bevor man den langen und auch oft beschwerlichen Weg zur Agilität betritt.

Es entsteht heute sehr oft das Gefühl, dass man agil sein muss und nicht dazugehört, wenn man nicht mitmacht. Um es klipp und klar zu sagen: Agilität ist keine Mode und kein Trend. Agilität ist ein großer Schritt, der viele Konsequenzen mit sich bringt. Agil zu „machen“, nur weil der „Nachbar“ (Konkurrenz) das auch macht, ist sinnlos. Das setzt allerdings voraus, dass sowohl die Firmenkultur als auch die Resilienz auf dem Markt stark sind.

Die wichtigste Frage, die man sich als Organisation vor der Nutzung von Agilität stellen sollte, ist die nach dem Warum. Nur wenn der Grund allen Beteiligten klar ist, kann die Reise in Richtung Agilität beginnen. Und dann geht es schrittweise um die Verbesserung der Kultur in Form von Zusammenarbeit, gegenseitigem Respekt, Wertschätzung, Empathie und Vertrauen. Und um die engere Kooperation mit Kunden, um Mut, Offenheit und Neugierde, um Fehler, Feedback und Lernen. Die Anwendung von Frameworks und Tools kommt erst später ins Spiel.

 

Hinweise:

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Blogpaper Agilität zum Mitnehmen

Diesen Beitrag finden Sie auch im kostenlosen Blogpaper Agilität– Sieben Perspektiven zu Agilität.

Und im t2informatik Blog hat Rob van Linda einen weiteren Beitrag veröffentlicht:

t2informatik Blog: Der Mensch in der Digitalisierung

Der Mensch in der Digitalisierung

Rob van Linda
Rob van Linda

Rob van Linda hat bereits als junger Mann in der Firma seiner Eltern mit Kunden gearbeitet. Nach der Hotelmanagement Schule in Maastricht (NL) war er als Event Manager in verschiedenen Ländern tätig. In Deutschland hat er die Domäne gewechselt und ist seitdem im IT-Bereich als Bindeglied zwischen Kunden und dem Team aktiv. Er ist Fachmann für Digitalisierung mit einem Fokus auf Menschen. Rob van Linda arbeitet als Chief Digital Officer, Digital Transformation Manager, Leadership Coach, Digital Business Innovator und Marketing Intelligence Manager.