Wann ist eine Vertriebsorganisation agil?

Gastbeitrag von | 13.12.2018

Viele Vertriebsorganisationen wollen agil werden. Dieser Wunsch entspringt jedoch häufig einem Bauchgefühl und weniger einer konkret definierten Vorstellung davon, was eine agile Organisation anders macht als eine nicht-agile. Umgekehrt denken sich viele Vertriebsleiter und ihre Mitarbeiter, dass sie das, was von zahlreichen selbsternannten Vordenkern, scheinbaren Innovationsträgern, weltgewandten Beratern und dynamischen Führungskräften als „agile Revolution“ verkauft wird, in verschiedenen Formen eh schon längst machen – nur halt unter anderem Namen. Teils stimmt dies, teils nicht.

Das Agile Manifest als Quelle

Die Frage, was eine „agile“ Vertriebsorganisation letzten Endes ist und was nicht, ist eine umfassende. Und in gewisser Weise auch eine Glaubensfrage. Auch hier ist es sinnvoll, auf die Quelle zurückzugreifen. Was dem gläubigen Christen die Bibel ist, ist der agilen Bewegung das Agile Manifest. Es bildet deshalb die Grundlage dieser Überlegungen. Was definiert das Agile Manifest als Ziele der Agilität, und welche Schlüsse sind daraus für den Modus Operandi von Vertriebsorganisationen zu ziehen? Vertriebsorganisationen arbeiten, wenn sie den Worten und dem Geist des Agilen Manifests folgen, in drei Bereichen anders als Vertriebsorganisationen traditioneller Prägung:

  • In der Art und Weise, wie mit dem Kunden zusammengearbeitet wird,
  • wie innerhalb des Teams gearbeitet wird
  • und wie das Management seine Teams führt.

In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf das Verhältnis der Vertriebsorganisation dem Kunden gegenüber.

Kundenbeziehung als Kernpunkt des Agilen Manifests

Die Beziehung zum Kunden war den Vätern der agilen Bewegung besonders wichtig und wird deshalb im Agilen Manifest ausführlich behandelt. Höchste Priorität ist demnach die Kundenzufriedenheit. Diese wird vor allem durch drei Verhaltensweisen erreicht:

  1. Durch die enge Einbeziehung des Kunden in den Entwicklungsprozess und die häufige Lieferung von im Umfang überschaubaren Leistungen, deren Qualität und Handhabbarkeit der Kunde sofort überprüfen kann.
  2. Durch die kontinuierliche Schaffung von Mehrwert. Im Agilen Manifest besteht der Mehrwert für den Kunden durch die Lieferung „werthaltiger” Software(-funktionen), weil es ursprünglich mit Bezug auf die Softwareentwicklung geschrieben wurde.
  3. Indem die Reflektion über das eigene Tun und die kontinuierliche Verbesserung der Qualität zentrale Ziele sind, weil nur dadurch effizientes Arbeiten gelernt werden kann. Effizientes Arbeiten beschreit das Agile Manifest mit dem Ausdruck “Simplicity – the art of maximizing the amount of work not done.”

Drei Beispiele für die agile Umsetzung

Anhand von drei Beispielen wird deutlich, wie Organisationen die oben aufgeführten Kernpunkte des Agilen Manifests umsetzen:

Das Beispiel Angebotserstellung

Während die gemeinsame Produktentwicklung mit Kunden und Partnern inzwischen bei vielen Unternehmen Standard ist – man denke zum Beispiel an Hilti, Villeroy & Boch oder die zahlreichen Sondermaschinenbauer in der automobilen Wertschöpfungskette – ist diese als „Co-creation“ bezeichnete Arbeitsweise in den Vertriebsorganisationen noch nicht sehr verbreitet. Gerade große Unternehmen verwenden einen hoch strukturierten Vertriebs- und Angebotsprozess. Der Account Manager identifiziert die Anforderungen des Kunden oder reagiert im schlimmsten Fall, wenn eine Ausschreibung auf den Tisch flattert. Dann wird ein Angebot erstellt und dieses dem Kunden vorgelegt. Häufig gibt es eigene Abteilungen, die die Angebote für den Kunden formvollendet erstellen. Der Prozess ist durchorganisiert, arbeitsteilig optimiert und erspart dem Verkäufer die Details der Angebotserstellung. Das hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Wenn das Angebot erst einmal voll ausformuliert ist und beim Kunden liegt, ist inhaltlich der Zug abgefahren. Die Möglichkeit, den Kunden im Sinne des Value Selling in die Erarbeitung inhaltlicher Optionen einzubinden, ist mit Vorlage des ausformulierten Angebots abgeschlossen.

Die psychologische Hürde, noch einmal an den sauber ausgefeilten Leistungsbeschreibungen zu drehen, ist für den Account Manager hoch. Auch der Kunde wird, anstatt über mögliche inhaltliche Alternativen zu diskutieren, lieber etwas anderes tun: über den Preis reden. Und schon steckt der Hersteller im Preiskampf.

Vertriebsorganisationen, die sie im Sinne des Agilen Manifests umsetzen, erarbeiten das Angebot von Anfang bis zum Schluss zusammen mit dem Kunden. Sie lassen sich vom Kunden bei der Erstellung des Angebots helfen. Sie schicken dem Kunden keine fertigen Schriftstücke zu, sondern schicken stufenweise Entwürfe, die sie wieder und wieder mit dem Kunden durchgehen, bis der Kunde sagt: „Genau dieses Angebot wollte ich.“ Jede neue Iteration des Angebots entspricht dabei der neuen Iteration, dem Minimum Viable Product, das die Väter der agilen Bewegung im Sinn hatten, als sie das Agile Manifest schrieben.

Heißt dies nun, dass der Account Manager in Zukunft wieder alle Angebote selbst schreiben soll? Nein, das tut es nicht. Der Account Manager schafft im Sinne des Product Owners aus Scrum Mehrwert für den Kunden. Er ist das Bindeglied zwischen Kunden und Angebotsersteller. Er stellt sicher, dass der Kunde nicht nach der Problemdefinition von der Angebotserstellung abgeschnitten ist, weil diese erst einmal im Backoffice des Herstellers verschwindet. Und er sorgt dafür, dass das Angebot häppchenweise mit dem Kunden abgestimmt wird, wobei er die Angebotsabteilung von einer solchen Vorgehensweise überzeugen muss.

Von „One Face to the Customer“ zu „One Message to the Customer“

Gerade im B2B und dem Geschäft mit strategischen Großkunden gilt bei vielen Unternehmen das Mantra „One Face to the Customer“. Kunden schätzen es, wenn sie einen festen, ihm vertrauten Ansprechpartner haben und sich nicht ständig mit neuen Ansprechpartnern auseinandersetzen müssen. Das ist häufig auch richtig. Allerdings hat sich nach den Studien von Tuli, Kohli und Bharadwaj die Art und Weise, wie Kunden im Kaufprozess Mehrwert empfinden, fundamental verschoben.¹ Die Lösung erklären, was die bisherige Hauptaufgabe des Ansprechpartners war, muss man den immer besser informierten Kunden heutzutage kaum noch. Stattdessen schätzt der Kunde die Hilfe des Herstellers beim Erfassen des konkreten Problems. Benötigt er wirklich ein CRM-System, wie ursprünglich gedacht, oder verwenden erfolgreiche Mitbewerber inzwischen voll automatisierte Verkaufssysteme, die ihnen nicht nur einen strategischen Vorteil verschaffen, sondern ein CRM auch überflüssig machen? Hersteller generieren für ihre Kunden einen Mehrwert, in dem sie ihnen helfen, notwendige Lösungen ergebnisoffen zu definieren. Hersteller, die einen breiten Blick auf die Kundenbedürfnisse im Markt haben und in der Lage sind, flexible Allianzen mit Partnern zu bilden, sind hier klar im Vorteil. Darüber hinaus erwarten sich Kunden, dass sie von der Umsetzungserfahrung des Herstellers bei der Implementierung der Lösung profitieren. Der Hersteller erzeugt für den Kunden einen weiteren Mehrwert, indem er ihm hilft, maximalen Nutzen aus der Lösung zu ziehen und gleichzeitig sicherstellt, dass die Mitarbeiter die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Lösung verstehen und entsprechend auch nutzen.

Eine Vertriebsorganisation handelt dann agil im Sinne des agilen Manifests, wenn sie diese Kundenperspektive einnimmt und die Lösung für den Kunden nicht auf die eigene Struktur anpasst, sondern die Vertriebsressourcen flexibel entlang der Kunden-Prioritäten organisiert. Das bedeutet konkret: der Account Manager organisiert ein interdisziplinäres Team. Wie die Partner einer Management-Beratung wechseln die Verantwortlichkeiten: Während im Bereich „Problemdefinition“ zum Beispiel ein Business Development-Spezialist statt dem Account Manager das Team führt, tut dies bei der „Lösungsdefinition“ ein Produktentwickler, bei der „Implementierung“ ein Techniker und bei der „Sicherstellung des Kundennutzens“ der Account Manager selbst. Anstatt eines Account Teams gibt es nun vier Scrum Teams, die jeweils eine Mehrwert-generierende Leistung zusammen erarbeiten. Der Account Manager rutscht vom Chef des Teams in die Rolle des Product Owners, der in jedem der Teams dabei ist und – insofern der Kunde tatsächlich Wert auf das „One Face to the Customer“ legt – die zentrale Kundenschnittstelle darstellt. Er besitzt aber kein Vetorecht mehr über das, was in den vier Bereichen geliefert wird.

Die Tätigkeit des Vertrieblers ähnelt in der von Tuli, Kholi und Bharadwaj beschriebenen neuen Vertriebswelt immer mehr der Tätigkeit eines Management-Beraters als der eines traditionellen, auf den Vertrieb von bestimmten Produkten und Lösungen ausgerichteten Account Managers. Während die technischen Möglichkeiten sich angleichen und die Angebote der verschiedenen Hersteller immer austauschbarer werden, manifestiert sich der Mehrwert immer mehr in der Art und Weise, wie der Vertrieb arbeitet, und weniger in dem, was er verkauft. Der Kunde kauft das Team, seine Charaktere und seine Kompetenz. In diesem Sinne sagte mir eine Kundin vor einigen Jahre, nachdem ich als Mitglied einer Management-Beratung ein großes Transformationsprojekt für sie durchgeführt hatte: „Uns war klar, dass auch für Euch dieses Projekt Neuland war. Aber wir haben nicht das Projekt gekauft, sondern das Team.“ Wichtig ist, dass alle im Team dieselbe Sprache dem Kunden gegenüber sprechen. “One face to the customer” wird somit zu “One message to the customer”.

Beispiel Sales Meetings

Fragt man einen Vertriebsmitarbeiter, was das Ziel der Sales Meetings ist, an denen er teilzunehmen hat, so wird die Antwort in einem Großteil der Fälle lauten: “Damit mein Chef Bescheid weiß und die Zahlen stimmen!”. Der Austausch von Daten und Informationen ist an sich gut, agil ist das aber nicht. Eine Vertriebsorganisation handelt dann im Sinne des agilen Manifests, wenn diese Daten und Informationen dem Zweck dienen, die Arbeit des Teams und seiner Mitglieder zu reflektieren und daraus Möglichkeiten zur Problemlösung und zur Weiterentwicklung des Teams als Ganzem sowie der einzelnen Mitglieder abzuleiten. Diese Einstellung schlägt sich in ein paar ganz konkreten Verhaltensweisen nieder:

Erstens wird die Reflektion der Arbeit des Teams institutionalisiert. Regelmäßige Win/Loss-Analysen sind ein guter Anfang, doch häufig beziehen sie sich allein auf die Ergebnisse der Arbeit mit dem Kunden. Im Sinne des agilen Manifests wäre es, wenn sich an die Frage „Was haben wir erreicht und weswegen war der Deal erfolgreich oder nicht“ die Frage anschließt: „Wie haben wir als Team in diesem Fall zusammengearbeitet, und wie können wir sicherstellen, dass wir nächstes Mal noch besser als Team funktionieren?“.

Ein Meeting entspricht der Effizienz-Forderung des Agilen Manifests, wenn es den Nutzen für die einzelnen Teilnehmer maximiert. Ein reines Vortragen von Zahlen tut das sicher nicht. Die Zahlen können sich Führungskraft und Teilnehmer bereits vor dem Meeting durchlesen. Sie haben dann etwas vom Meeting, wenn sie etwas lernen, das sie in ihrem Deal oder ihrer Arbeitsweise weiterbringt. Dies ist der Fall, wenn über Problemlösungen gesprochen wird; wenn die Teilnehmer ihre Erfahrungen austauschen; wenn sie Klarheit darüber haben, wo sie besser werden müssen und wie sie dies anstellen können. Ein Vorgesetzter, der Vertriebsmeetings im Sinne des Agilen Manifests abhält, geht deshalb vorbereitet in die Meetings – genauso wie man es sich von einem Scrum Master erwartet. Er hat aus den Zahlen bereits Hypothesen abgeleitet, wo bspw. Probleme liegen. Diese verifiziert er dann mit seinem Team und bespricht, wie Probleme gelöst werden können.

Die Effizienz-Forderung des Agilen Manifests wird darüber hinaus durch striktes Timeboxing erfüllt: Vertriebs-Meetings dauern nur die veranschlagte Zeit, und auch der zeitliche Rahmen für die einzelnen Agenda-Punkte ist genau definiert. Detail-Diskussionen und alles, was in der vorgesehenen Zeit nicht erledigt werden kann, werden in separate Meetings verschoben. Damit keine Themen verloren gehen, werden alle Folgeaktivitäten in To Do-Listen festgehalten.

Ist das nun agil?

Manche der oben aufgeführten Punkte werden von Vertriebs-Teams sicherlich bereits seit Langem umgesetzt, andere sind relativ neu. „Agiler Vertrieb” ist daneben ein sehr weiter Begriff, der mehr Aspekte umfasst, als die Beziehung zum Kunden allein. In einem weiteren Beitrag wird zu sehen sein, welche Implikationen das Agile Manifest für die Arbeit innerhalb des Vertriebsteams und für das Management des Teams hat.

 

Hinweise:

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

[1] TULI, Kapil; KOHLI, Ajay K.; and BHARADWAJ, Sundar G.: Rethinking customer solutions: From product bundles to relational processes. (2007). Journal of Marketing. 71, (3), 1-17.

Dr. Michael Scherm hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

t2informatik Blog: Social Loafing in agilen Teams

Social Loafing in agilen Teams

t2informatik Blog: Mit Scrum durch die Krise

Mit Scrum durch die Krise

Dr. Michael Scherm
Dr. Michael Scherm
Dr. Michael Scherm begann seine Karriere 1999 als Unternehmensberater in Washington D.C. und arbeitete anschließend an Kundenprojekten für IBM, Microsoft, British Telecom, SAP, Mastercard und andere Unternehmen in den USA, Europa und im asiatisch-pazifischen Raum. Nach Stationen in London und Singapur kehrte er 2009 nach Deutschland zurück.

Im Bereich Strategie liegen seine Schwerpunkte auf Vertriebs- und Marketingintegration, Prozessoptimierung und Geschäftsplanung. Seine besondere Stärke liegt im Verständnis der zahlreichen komplexen organisatorischen, politischen und technologischen Interdependenzen zwischen den Vertriebs-, Marketing- und Serviceorganisationen eines Unternehmens sowie deren externen Lieferanten.