Social Loafing in agilen Teams

Gastbeitrag von | 25.06.2020

Vorsicht bei der Auslegung des Agilen Manifests

In seinem Blogbeitrag vom 4. Juni 2020 warb Michael Schenkel unter der Überschrift „Das ist doch kein Scrum“1 für eine Anwendung von Scrum, die sich am Geist des Agilen Manifests orientiert, aber genügend Flexibilität erlaubt, um das agile Projekt an die Wirklichkeit im Unternehmen und dessen Umwelt anzupassen. Gerade die Anwendung außerhalb der Softwareentwicklung erfordert eine flexible Auslegung des Agilen Manifests. So sind die geforderten Präsenz-Meetings in einer über das gesamte Land verstreuten Vertriebsmannschaft zum Beispiel schlichtweg nicht möglich. Kann eine solche Vertriebsmannschaft deshalb nicht von Scrum profitieren? Kann sie schon. Da Scrum ein Framework und keine Methode ist, die man schrittweise und in ihrer vollen Umfänglichkeit anwendet, verbessern sich mit der Einführung von Scrum Abläufe und Leistung.

Das agile Manifest stellt die Flexibilität des Ansatzes über das genaue Befolgen des ursprünglich verfassten Plans („Responding to change over following a plan“).2 Trotzdem berufen sich Scrum Master, Berater und andere immer wieder auf den Wortlaut des Agilen Manifests und der inzwischen im Überfluss vorhandenen Literatur, die sich mit Scrum und Agilität auseinandersetzt. Das kann gefährlich sein, wie das Beispiel eines mir bekannten Unternehmens zeigt. Dessen Scrum Master berief sich darauf, dass „alles aus dem Team selbst kommen“ müsse, während er die Rolle des Scrum Masters in erster Linie auf das Arrangieren der Scrum-Meetings beschränkte. Folgt man den Anhängern des „reinen“ Ansatzes, hat er nichts falsch gemacht. Schließlich steht ja in der Literatur, dass die Teams sich selbst organisieren und selbststeuernd das Optimale für das Unternehmen erarbeiten. Im Fall des erwähnten Unternehmens führte allerdings genau diese Einstellung dazu, dass erst einmal gar nichts ging in dem agilen Projekt. Das Team kam nicht voran mit seiner Arbeit, und ein wichtiger Grund dafür war, dass sich Mitarbeiter im agilen Team „versteckten“.

Agile Teams brauchen Selbstbestimmung und Führung

Dem Team im Beispiel kann man keinen Vorwurf zu machen. Denn woher hätte es in einer völlig neu aufgesetzten agilen Organisation denn wissen sollen, wie man mit Misserfolg im Team umgeht?

Mit den Fragen, wie Menschen in Teams agieren und was Teams erfolgreich macht oder nicht, beschäftigten sich Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit. Dabei wurden sowohl Vor- als auch Nachteile der Teamarbeit belegt. Auf der positiven Seite können zum Beispiel „Social Compensation“, „Social Facilitation“ oder der „Köhler-Effekt“ bewirken, dass die einzelnen Mitarbeiter in einem Team zusammen mehr leisten als die Summe der Einzelleistungen ergeben würde. Der Ringelmann-Effekt, Social Loafing3 oder das Trittbrettfahrer-Problem vermindern dagegen die Gesamtleistung des Teams. Ob das Pendel letzten Endes auf die positive oder auf die negative Seite der Gesamtleistung ausschlägt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab.

Um zu verstehen, warum auch agile Teams nicht einfach sich selbst überlassen werden können, sondern auch sie effektiv geführt werden müssen, sehen wir uns im Folgenden kurz die Ursachen von Minderleistungen im Team an. Diese lassen sich prinzipiell in drei Kategorien einteilen, nämlich in Probleme der

  1. Motivation: Demotivierend wirkt etwa, wenn der Einzelne im Team oder das gesamte Team für seine Leistung nicht die notwendige Wertschätzung erhält, sich einzelne Mitglieder von der Mitarbeit im Team ausgeschlossen fühlen oder die Menge bzw. der Anspruch des zu Leistenden das  Team über Gebühr beansprucht.
  2. Koordination: In diese Kategorie fallen Minderleistungen, die etwa auf mangelnde Kommunikation, Unklarheit der Zielsetzung oder zu unterschiedliche Leistungsniveaus zurückzuführen sind. Maximilian Ringelmann dachte ursprünglich, die Minderleistung in seinem Experiment (in einem Achter-Team zogen die einzelnen Männer unter dem Strich weniger fest an einem Seil als im Vierer-Team) auf Koordinationsprobleme zurückzuführen waren.
  3. Sozialen Konstellation: Mit großer Wahrscheinlichkeit war allerdings das von Alan Ingham und seinen Kollegen an der University of Massachusetts in den frühen 1970ern als „Social Loafing“ („soziale Faulheit“) bezeichnete Phänomen für den Ausgang von Ringelmanns Experimenten ursächlich: Die Tatsache nämlich, dass Menschen unter bestimmten Umständen dazu neigen, in einem Team sich nicht ganz so zu verausgaben, wie sie es individuell tun würden.

In diesem Zusammenhang kommt die delikate Balance zwischen Selbstbestimmung und Führung im agilen Team zum Vorschein: Während die Ursachen für manche Motivationsprobleme mit mehr Entscheidungs- und Handlungsfreiheit für das Team und seine Mitglieder behoben und Koordinationsprobleme am wirkungsvollsten über die Anpassung der Team-Größe vermieden werden können, benötigt Social Loafing meist deutliche Interventionen von außerhalb des Teams. In anderen Worten: Es braucht bei aller Selbststeuerung jemanden, der das Team in diesen Situationen führt.

Nach der „reinen Lehre“ des Scrum wird eine gut moderierte Diskussion während der Sprint Retrospektive mögliche Probleme mit Social Loafing auf den Tisch bringen und erfolgreich lösen. Nach der reinen Lehre moderiert das Team derartige Meetings selbst. Bis das Team reif genug ist, diese Aufgabe intern zu bewältigen, benötigt es aber eine Person von außerhalb des Teams für die Moderation – in der Regel den Scrum Master. Die Moderation wirkt erstens direkt, mit dem Ziel, Social Loafing im Team zu thematisieren und, wenn möglich, abzustellen. Zweitens wirkt sie auf der Meta-Ebene, indem sie dem Team Wege aufzeigt, mit Social Loafing umzugehen. Vor allem der erstgenannte Aspekt ist hierbei nach der Definition von Rosenstil ein klarer Führungsaspekt, denn Führung ist danach die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen.4

Der Grad von Selbstbestimmung und Führung

Manch wohlinformierter Leser wird daneben die Studien von McAvoy und Butler zitieren. Nach diesen kann die Arbeitsweise agiler Teams tatsächlich positiv in Bezug auf Social Loafing wirken. McAvoy und Butler nennen als Ursachen dafür etwa

  • den besseren Zusammenhalt,
  • das höhere Reflexionsniveau oder
  • höhere Motivation durch Selbstbestimmung in agilen Teams.5

Aber eine positive Korrelation bedeutet eben noch nicht die Lösung des Problems. Und dass Social Loafing auch in agilen Teams noch besteht, schreiben die Autoren an verschiedenen Stellen selbst.

Zumindest bis die Wissenschaft die Abwesenheit von Social Loafing in agilen Teams offiziell belegt hat, müssen wir uns damit begnügen, das Problem als solches anzuerkennen. Aus Wissenschaft und Praxis wurden inzwischen verschiedene Instrumente für den Umgang mit Social Loafing vorgeschlagen. Stellvertretend nenne ich hier drei davon:

  • Zunächst kann etwa ein anonymisiertes 360-Grad-Feedback verwendet werden, um die Existenz von Social Loafing im Team zu thematisieren. Gefragt wird zunächst nicht explizit nach Social Loafing. Das Team wird jedoch durch die genaue Fragestellung  auf das Thema gestoßen.
  • Ein von Fronza und Wang entwickeltes Instrument thematisiert Social Loafing in vier Schritten direkt.6  Zunächst wird das Team für das Thema sensibilisiert. Dann erarbeitet das Team einen „sozialen Kontrakt“, in dem sich die Teammitglieder darauf verpflichten, sich stets mit vollem Einsatz dem Team zu widmen. Wie dieser Vorsatz umgesetzt wird, wird in zwei folgenden Schritten evaluiert.
  • Am extremen Ende des Spektrums würde ein Instrument, wie es der Cambridge University Boat Club in einem umstrittenen Experiment angewendet hat, komplette Transparenz und Offenheit, und damit maximal sozialer Druck gegen Social Loafing schaffen. Hier werden neben den objektiv messbaren Ergebnissen auch die subjektiven Eindrücke verschiedener Personen über die einzelnen Teammitglieder auf Listen für alle Beteiligten sichtbar gemacht.7

Diese drei Instrumente sind in ansteigendem Reihenfolge angeordnet, was Interventionsgrad und -härte angeht. Das letzte wird in dieser Form hoffentlich nur sehr selten angewendet. Während das anonymisierte 360-Grad-Feedback noch näher an dem Desideratum der konstruktiv-kollaborativen Arbeitsweise des agilen Teams liegt, wird der geneigte Leser die Vorgehensweise aus Cambridge wohl eher mit dem knallharten, wenig empathischen Management einer altertümlichen Drückerorganisation assoziieren. In der Tat geht es dabei auch darum, die „Faulen“ überproportional für die Minderleistung des Gesamt-Teams verantwortlich zu machen und maximal sozialen Druck auszuüben.

Die Intervention bei Social Loafing

Die Instrumente für den Umgang mit Social Loafing zeigen, dass bei ansteigender Schwere des Problems auch die Direktheit der Intervention und damit der Grad der direkten Führung zunehmen. Also: Weg vom kollektivistisch-reflektierenden zum individuell-dirigierenden Umgang mit dem Problem. Es darf also nicht heißen: Selbststeuerung oder Außensteuerung. Vielmehr muss das Prinzip lauten: Selbststeuerung und Führung von außen jeweils, wann und wo es angemessen ist.

Soll ein agiles Team, das unter Social Loafing leidet, im Extremfall auf die Anwendung von eher „traditionellen“ Interventionen verzichten, nur weil diese nicht „selbststeuernd-agil“ sind, sondern starke Führung von außen benötigen? Die Antwort auf diese Frage mag umstritten sein. Für mich persönlich gilt die Antwort: nein. Denn auch hier ist den Vätern des Agilen Manifests die Flexibilität des Ansatzes sicher wichtiger als die orthodoxe Befolgung von vermeintlichen Glaubenssätzen. Und wo bitte steht im Agilen Manifest, dass ein Team nicht auch einmal ordentlich eine vor den Latz geknallt bekommen darf?

Hinweise:

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[1] Das ist doch kein Scrum
[2] Responding to change over following a plan. Das Agile Manifest.
[3] Wissen kompakt: Social Loafing
[4] Vgl. F. W. NERDINGER (2014), Führung von Mitarbeitern, in: F.W. NERDINGER, G. BLICKLE, N. SCHAPER: Arbeits- und Organisationspsychologie. S. 84-102, hier S. 84
[5] John MCAVOY, Tom BUTLER (2006): Looking for a place to hide: a study of social loafing in agile teams (ECIS 2006 Proceedings 107)
[6] Ilenia FRONZA, Xiaofeng WANG (2017): Towards an Approach to prevent Social Loafing in Software Development Teams (2017 ACM/IEEE International Symposium on Empirical Software Engineering and Measurement, S. 241-246)
[7] https://hbr.org/2012/08/why-less-is-more-in-teams

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Dr. Michael Scherm hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

t2informatik Blog: Wann ist eine Vertriebsorganisation agil?

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Dr. Michael Scherm
Dr. Michael Scherm

Dr. Michael Scherm begann seine Karriere 1999 als Managementberater in Washington D.C. und arbeitete in der Folge an Kundenprojekten für IBM, Microsoft, British Telecom, SAP, Mastercard und andere Unternehmen in den USA, Europa und Asien-Pazifik. Nach Stationen in London und Singapur kehrte er im Jahr 2009 nach Deutschland zurück, wo er Vertriebsleiter eines mittelständischen deutschen Softwareunternehmens wurde. Von 2011 bis 2020 war Dr. Scherm Partner bei NewLeaf Partners Europe GmbH, eines auf Vertriebseffektivität spezialisierten Dienstleisters, tätig. Seit 2020 ist er als Agile Coach und Scrum Master bei der ODAV AG aktiv.