Projektabbruch – eine Frage der Zukunft

by | 22.02.2018

Wenn Sie die Wahl hätten, würden Sie für ein neues Projekt einen Projektleiter wählen, der bisher alle seine Projekte erfolgreich zu Ende geführt hat oder einen, der in seiner Laufbahn schon mehrere Projekte abbrechen musste? Sehr viele Manager würden den ersten Projektleiter wählen, denn Erfolg in der Vergangenheit gilt als Indikator für Erfolg in der Zukunft. Abgebrochene Projekte werden als Misserfolge wahrgenommen. Erfahrungen mit Misserfolgen tauchen in keinem Lebenslauf auf. Und wie entscheiden Sie sich, wenn Sie wüssten, dass der zweite Projektleiter durch sein Handeln 500.000 Euro Kosten vermeiden konnte und durch die zusätzlich verfügbaren Mitarbeiter andere Projekte erfolgreich gestaltet wurden?

Projektleitern fällt es schwer, das Scheitern von Projekten zuzugeben und Organisationen fällt es nicht leicht, Projekte abzubrechen. Mit einem Projektabbruch werden finanzielle Verluste und Imageschäden verbunden, so dass Projekte häufig wider besseren Wissens fortgeführt werden. Warum ist das so? Wieso ist die Sorge vor einem Imageschaden so groß? Und worauf sollten Organisationen achten, wenn sie sich doch für einen Projektabbruch entscheiden?

Das Eingeständnis

Viele Organisationen tun sich mit Projektabbrüchen schwer, weil sie sich eingestehen müssen, dass sie nicht perfekt sind. Perfektion ist das Ziel, sie ist der Maßstab. Ohne Perfektion leidet das Image. Nur selten gelingt es Organisationen den Blick auf die gewonnenen Erkenntnisse anstatt auf das vermeintliche Scheitern zu richten. Eine Wertschätzung der Errungenschaften wird so fast unmöglich. Vielleicht hat sich ein Workflow bewährt, der zukünftig in neuen Projekten zum Einsatz kommt? Oder Funktionen wurden entwickelt, die in einer anderen Software wiederverwendet werden können? Oft  werden im Laufe eines Projektes Erfahrungen gesammelt, die sehr wertvoll sein können. Neue Ansätze und Ideen, bessere Abläufe zur Definition von Zielen oder eine klarere Kommunikation von Verantwortlichkeiten – mit dem richtigen Blick können Organisationen auch Positives aus einem gescheiterten Projekt mitnehmen.

Interessanterweise bestehen Organisationen aus Mitarbeitern und auch Mitarbeiter tun sich mit dem vorzeitigen Ende von Projekten schwer. Sind Sie perfekt? Zugegeben, das ist eine merkwürdige Frage. Ich bin es jedenfalls nicht. Natürlich mache ich Fehler und meistens kann ich sie auch zugeben. Manchmal lässt es das Umfeld nicht zu oder ich glaube zumindest, dass es in einer Situation besser wäre, nicht ganz offen über meine Fehler zu berichten. Vielleicht ist dies bei Ihnen ähnlich. Wenn Sie wollen, sprechen Sie einfach mal Ihren nächsten Gesprächspartner auf einem Event oder einer Konferenz auf das letzte Projekt an, das bei ihm gescheitert ist. Vermutlich werden sich die meisten Gesprächspartner in einer solchen Unterhaltung schwer tun. Ich kann Ihnen aber ein sehr interessantes Gespräch voraussagen, wenn Sie jemanden finden, der offen und ehrlich von seinen Erfahrungen bei gescheiterten Projekten spricht, und Sie sich gemeinsam über mögliche Ursachen und gewonnene Erkenntnisse austauschen. Imperfektion kann auch etwas Positives sein.

Der Faktor Zeit beim Projektabbruch

Jeder Projektabbruch hat eine zeitliche Komponente. Am Anfang eines Projektes, während der Ideen- oder Planungsphase, ist ein Imageschaden meist sehr gering. Je länger ein Projekt läuft, desto größer wird der angenommene oder auch tatsächliche Imageschaden. Dabei ist es unerheblich, ob der Imageschaden linear oder überproportional zur Projektdauer oder den Projektkosten verläuft. Je länger ein sinnvoller Projektabbruch hinausgezögert wird, desto größer wird der Schaden. Erfolgt ein Projektabbruch erst gegen Ende eines Projektes, so ist der potenzielle Imageschaden fast maximal. Tatsächlich maximal wird er, wenn das entwickelte Produkt ausgeliefert wird, die Inbetriebnahme aber nicht funktioniert oder das Produkt im Betrieb nicht seinen Zweck erfüllt.

Der Concorde Effekt

Wissen Sie, was der neue Flughafen BER den deutschen Steuerzahler bis jetzt gekostet hat? Es sind fast 5,6 Milliarden Euro (Stand 22.02.2018) und der Counter läuft und läuft. Der Bau des Flughafens läuft sicherlich alles andere als ideal und hat inzwischen 2.091 Tage Verspätung.¹ Doch wer so viel Geld investiert und so viel Aufwand betrieben hat, wird das Vorhaben nicht abbrechen. Ob es sinnvoller wäre, das Projekt zu beenden und stattdessen ein neues, weniger komplexes Vorhaben zu initiieren, kann ich nicht beurteilen. Offensichtlich scheint aber ein Abbruch überhaupt keine Option zu sein. Die politische Verantwortung für dieses beispiellose Projekt möchte niemand übernehmen. Der Imageschaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für die beteiligten Firmen wäre immens. Zusätzlich werden die angefallenen Kosten gerne als Argument genutzt, um die weitere Projektarbeit zu begründen. Dieses  Phänomen wird „Concorde Effekt“ oder „Sunk Cost Fallacy“ genannt. „Die Concorde war das Paradebeispiel eines staatlichen Defizitprojektes. Selbst als die beiden Partner England und Frankreich schon lange eingesehen hatten, dass sich der Betrieb des Überschallflugzeuges nie rechnen würde, wurden weiterhin Unsummen investiert – bloß um das nationale Gesicht zu wahren. Aufgeben wäre einer Kapitulation gleichgekommen.“²

Natürlich gibt es immer auch Gründe, weiterhin in Projekte zu investieren, die sich in einer Schieflage befinden. Entscheidend für eine Weiterführung sollte dabei der Blick in die Zukunft und nicht der Blick in die Vergangenheit sein. Lohnt sich das weitere Investment in das Projekt oder lohnt es sich nicht? Die am Bau des Flughafen BER beteiligten Firmen haben sich für die Fortführung entschieden. Wenn man bedenkt, dass die Unternehmen einem relativ schwer zu bemessenden Imageschaden einen leicht zu quantifizierenden Umsatz und Gewinn gegenüberstellen können, ist das nicht wirklich überraschend. Fast scheint es so, als gäbe es Aspekte, die für Unternehmen noch wichtiger als ein möglicher Imageschaden sind.

Der koordinierte Projektabbruch

Viele Prozessstandards und Vorgehensmodelle definieren Meilensteine, an denen Entscheidungen zur Fortführung eines Projektes getroffen werden. So definiert das deutsche Vorgehensmodell V-Modell XT sogenannte Entscheidungspunkte und die britische Projektmanagementmethode PRINCE2 nutzt ein entsprechendes Stage-Gate-Konzept. Gemeinsam ist diesen Quality Gates, dass ein Lenkungsausschuss, das Projektmanagement Office oder eine Person mit einer entsprechenden Entscheidungskompetenz und Entscheidungsbefugnis die bis zu diesem Zeitpunkt im Projekt erreichten Ergebnisse bewertet und über die Weiterführung des Projektes entscheidet. Es ist wesentlich, alle Informationen zu besitzen, die relevant für eine Entscheidung sind. Es ist zu klären, wer diese Informationen wie, in welcher Art, in welchem Umfang und bis wann zusammen trägt. Unter Umständen wird die Anpassung des Business Cases notwendig, wenn sich neue Anforderungen oder Risiken ergeben oder sich die Rahmenbedingungen ändern. Idealerweise erfolgt die Freigabe der nächsten Phase inklusive der Festlegung der benötigen Mitarbeiter und die Bereitstellung der benötigten Finanzmittel. Natürlich könnte an den Quality Gates auch ein Projektabbruch beschlossen werden; zumindest in der Theorie, denn die konkrete Ausgestaltung eines vorzeitigen Projektendes definieren die Prozessstandards und Vorgehensmodelle nicht.

Die Verwendung von Indikatoren

Organisationen sollten sich grundsätzlich Gedanken machen, welche Indikatoren für die Fortführung oder den Abbruch eines Projekts wichtig sind. Gibt es neue Gesetze oder Normen, ändert ein wichtiger Stakeholder seine Einstellung zu einem Projekt, verschieben sich im Laufe eines Projekts mögliche Ziele, fallen Mitarbeiter aus oder werden in höher priorisierten Projekten benötigt – es gibt eine große Anzahl an möglichen Indikatoren. Durch die Beschäftigung mit den Indikatoren entwickeln Unternehmen nach und nach Fähigkeiten, bessere Entscheidungen über die Fortführung oder den Abbruch von Projekten treffen zu können. Gleichzeitig können sie sich auch auf verschiedene Szenarien einstellen. Bspw. gibt es Unternehmen, die mittels Minimum Viable Products frühzeitig Feedback von Anwendern einholen. Oder Organisationen, die verschiedene Lösungen für mögliche Gesetzesänderungen vorbereiten und sich bei Inkrafttreten eines neuen Gesetzes von den unnötigen Alternativen trennen und sich auf die fortan sinnvolle Alternative konzentrieren. Ein solches Vorgehen mit verschiedenen Varianten erfordert natürlich neben einem Weitblick auch entsprechende Kapazitäten und Finanzmittel und die allermeisten Firmen werden nicht willens sein, diese bereitzustellen. Grundsätzlich sollten Unternehmen die Indikatoren immer beim Erreichen von Quality Gates überprüfen, zumal sie dadurch auch ihre Kompetenz zur aktiven Gestaltung von Projekten steigern.

Die Kommunikation nach dem Projektabbruch

Wenn es Gründe für einen Projektabbruch gibt, dann sollten Organisationen diese kommunizieren. Wichtig ist, die Ursachen für einen notwendigen Projektabbruch zu verstehen und aus ihnen zu lernen. Hat sich das Projektteam zu viel vorgenommen, wurden Anforderungen nur unvollständig erfasst, weil es keinen definierten Prozess im Anforderungsmanagement gab oder wurden Aufwände falsch eingeschätzt? Hat die Unternehmensführung zu viele Projekte parallel betrieben, Ziele im Laufe des Projekts leise verändert und Verantwortlichkeiten schlecht definiert? Hat ein Lieferant Versprechungen abgegeben, die er nicht einhalten konnte, da er technische Herausforderungen falsch beurteilt hat? Fehler zu erkennen, sie zu benennen und es zukünftig besser machen zu wollen, kann zusätzliches Vertrauen in der Organisation, bei den Projektbeteiligten und auch bei Partnern und Kunden schaffen. Und dieses Vertrauen kann sogar mittelfristig zu einem Imagegewinn führen.

Fazit

Mit Ausnahme des Flughafens BER ist ein Projektabbruch immer ein mögliches Szenario. Studien berichten schon seit vielen Jahren davon, dass mehr als 50% der Projekte scheitern. Unabhängig davon, ob solche Zahlen stimmen, tatsächlich besteht immer auch die Möglichkeit, dass es zu einem Projektabbruch kommt oder dass zumindest darüber nachgedacht werden muss. Organisationen sollten sich daher nicht erst kurz vor einem Projektabbruch Gedanken über Indikatoren, einen koordinierten Ablauf und eine sinnvolle Kommunikation machen. Die Gründe, die zu einem Projektabbruch führen, sind eine gute Grundlage, um aus Problemen und Fehlern zu lernen; sie sollten auf keinen Fall verschwiegen werden. Entscheidend ist bei der Fortführung oder beim Abbruch eines Projektes immer der Blick in die Zukunft, denn die Aufwände und Kosten bis zum konkreten Projektstand wurden bereits getätigt. Hier hilft nur die Beurteilung, ob sich ein weiteres Investment lohnt oder nicht. Der Abbruch eines Projektes kann einfach die richtige Entscheidung sein.

 

Hinweise:

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[1] Der Berliner Tagesspiegel veröffentlicht in seinem täglichen Newsletter Checkpoint mit dem BER count up die Anzahl der Tage seit Nichteröffnung. Stand 22.02.2018 waren es 2.091, am 31.10.2020 – dem Tag der Eröffnung – waren es unglaubliche 3.073 Tage. Die Kosten beliefen sich bis dahin auf mehr als 7 Milliarden Euro.
[2] Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen, Seite 21-23, erschienen im Carl Hanser Verlag München

Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

t2informatik Blog: Projektleiterwechsel im laufenden Projekt

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing - da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen - bspw. hier im Blog - anzubieten. Wenn Sie Lust haben, verabreden Sie sich mit ihm auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen; mit Sicherheit freut er sich darauf!