Obeya: Die Visualisierung relevanter Informationen

Gastbeitrag von | 15.02.2024

Visualisierung als ein Kernelement in Obeya und für die Arbeit in Teams

Im Teamchat erscheint eine Nachricht von Alex: “Hallo Thomas, hast du kurz Zeit? Ich habe da ein Thema, wo ich noch eine Meinung einholen möchte. Hatte heute im Daily wieder das Gefühl, dass wir etwas übersehen.”

Thomas kannte Alex aus zwei abgeschlossenen Projekten, in denen sie zusammengearbeitet hatten. Seitdem tauschten sie sich immer wieder aus, wenn sie bei einem Thema nicht mehr weiter wussten. Thomas wusste, dass Alex gerade in einem Projekt mit mehreren Teams arbeitete, das thematisch nicht einfach und strategisch für das Unternehmen sehr wichtig war.

“Ruf an, wenn du Zeit hast”, antwortet Thomas und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Keine drei Minuten später klingelt Alex durch.

“Hallo Thomas”, grinst Alex in die Kamera. “Wie viele Tassen Kaffee hast Du heute getrunken? Entschuldige die Störung, aber ich kaue gerade an etwas und heute Morgen ist es mir wieder aufgefallen. Ich würde gerne Deine Meinung dazu hören.”

“Ich kann nie genug Kaffee haben”, scherzt Thomas. “Worum geht es?”

Alex hält kurz inne, bevor sie antwortet: “Das übliche Thema: Wir haben zu wenig Überblick über die relevanten Informationen. Hier das Jira-Board, dort das Wiki und dann noch eine Dateiablage mit vielen einzelnen Dokumenten. Alles verteilt. Das Sprintziel steht im Wiki, die Tickets verschwinden im Board, unsere Retro-Ergebnisse hat wieder keiner auf dem Schirm. Und dann habe ich noch das Management, das ich auch immer wieder einbinden muss, wenn es um strategische Entscheidungen geht und das sich einmal die Woche mit uns austauscht. Wir müssen jedes Mal alle relevanten Informationen mühsam zusammensuchen und aufbereiten. Das kostet mich einfach zu viel Zeit und ich habe das Gefühl, dass wir vieles einfach übersehen. Du hast vor einigen Wochen etwas über Visualisierung gesagt. Meinst du, das könnte uns helfen?”

Thomas überlegt kurz. Er war vor ein paar Wochen auf etwas gestoßen, das ihm sehr gut gefallen hatte und hatte seinen Kollegen davon erzählt. “Ja, genau – das könnte tatsächlich gut hierher passen”, sagt Thomas nachdenklich. “Obeya wäre wahrscheinlich ein guter Ansatz.”

Was ist Obeya?

Obeya ist ein japanisches Wort. Es bedeutet soviel wie “großer Raum”. Bekannt wurde das Wort durch das Toyota-Produktionssystem, das sehr stark auf Visualisierung setzt. Unter anderem wurde mit diesem Ansatz der Toyota Prius innerhalb von 7 Monaten entwickelt. Visualisierung ist eines der Kernelemente von Obeya. Keine Angst, Visualisierung bedeutet nicht, Künstler zu werden, sondern Informationen sichtbar zu machen.

“Obeya ist ein System, ein Konzept, eine Philosophie, die durch eine Reihe von Ideen (“Prinzipien”) definiert wird. Organisationen nutzen diese 11 Obeya-Prinzipien in ihrem Streben nach integrativer und nachhaltiger Entscheidungsfindung.”1

Obeya-Prinzipien

Abbildung 1: Obeya-Prinzipien2

Einfach ausgedrückt: Obeya ist ein visuelles Informations- und Entscheidungsforum. Es basiert auf der Idee, dass durch die Visualisierung aller relevanten Informationen und das Zusammenbringen aller relevanten Personen Hindernisse beseitigt und bessere Entscheidungen getroffen werden können. Damit ist Obeya eng verbunden mit Kaizen, dem Streben nach ständiger Verbesserung.

Die Anordnung der Informationen

Welche Informationen benötigen wir, um zu wissen, ob das, was wir tun, wirklich zum Erfolg beiträgt?

Viele Organisationen beschäftigen sich mit dieser Frage. Wenig überraschend ist die Konsolidierung von relevanten Informationen an einem zentralen Ort eine gute Idee, um Zusammenhänge zu erkennen. Häufig folgt die Anordnung der Elemente dem PDCA-Zyklus nach Demming. Wichtig ist, dass die Visualisierungen einen logischen und praktischen Informations- und Kommunikationsfluss bieten, der den Arbeitsablaufs vom Start bis zur Auslieferung (über den gesamten Wertstrom) widerspiegelt.

Einen interessanten Designvorschlag liefert Tim Wiegel mit einem Referenzmodell bestehend aus folgenden fünf Elementen:

  • Agieren und reagieren
  • Wertschöpfung
  • Strategie
  • Leistungsmessung
  • Problemlösung

 

Obeya-Referenzmodell Tim Wiegel

Abbildung 2: Obeya-Referenzmodell nach Tim Wiegel3

Im Bereich “Strategie” finden sich alle strategierelevanten Informationen, wie z. B. gemeinsame Ziele, Zielgruppen, die Beschreibung der Bedürfnisse der Stakeholder, etc.

Der Bereich “Wertschöpfung” umfasst Informationen der taktischen Ebene, wie z.B. ein Portfolio-Funnel, Wertstrombeschreibungen oder Roadmaps.

Im Bereich “Agieren und reagieren” finden sich Informationen, die das aktive Tagesgeschäft betreffen und gemeinsame Entscheidungen erfordern. Typischerweise werden hier Hindernisse gesammelt, Lösungsfortschritte transparent gemacht und Aufgaben in einem Taskboard, Kanbanboard oder Kamishibai-Board4 visualisiert.

Das Gegenstück auf der anderen Seite der Wertschöpfung ist der Bereich “Leistungsmessung” mit Metriken wie bspw. Velocity, Durchlaufzeiten, aber auch Business Value oder andere evidenzbasierte Kennzahlen.

Die Problemlösungszone ist der Bereich, in dem operative Probleme und Herausforderungen bearbeitet und gelöst werden.

Damit Obeya seine volle Wirkung entfalten kann, muss es für alle Beteiligten leicht zugänglich sein. Das klingt zunächst trivial, ist aber – wie bei allen Werkzeugen – nicht zu unterschätzen. Je größer der Aufwand bei der Anwendung eines Werkzeugs ist, desto größer ist die Hürde, es auch dauerhaft zu nutzen.

Hinzu kommt, dass Obeya – ganz im Sinne der Vermeidung von nicht wertschöpfender Arbeit (auch bekannt als Muda) – lange Wege vermeiden will, so dass sich Anwender auf das Wesentliche konzentrieren können. Es empfiehlt sich daher, auf eine hohe Datenaktualität und ein leichtes Verständnis der aufbereiteten Informationen zu achten.

Die Ausrichtung am Herzschlag der Organisation

Im Zentrum der strategierelevanten Informationen und damit von Obeya steht das gemeinsame Ziel. Es gibt die Richtung der Aktivitäten vor, die durch sinnvolle Meilensteine mit der Unternehmensstrategie verknüpft und durch die Visualisierung im “großen Raum” sichtbar werden. Zentrales Prinzip ist die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen von der Strategie über die Taktik bis hin zur operativen Umsetzung. Ausgangspunkt ist das Ergebnis aus Sicht des Kunden, also eine konsequente Ausrichtung der Prozesse von rechts nach links5 (entlang des Wertstroms).

Kombiniert wird das Ganze mit Kadenzen, in denen die relevanten Akteure zusammenkommen. Die Kadenzen bilden einen festen Rhythmus, in dem die Handlungsfelder der jeweiligen Betrachtungsebenen in den Fokus rücken. Während z. B. die operative Arbeitsebene Teil des täglichen Austausches ist, wird die taktische Ebene einmal wöchentlich und die strategische Ebene einmal monatlich als Schwerpunktaufgabe in den Mittelpunkt des Austausches gestellt. Damit ist es sehr gut möglich, die operative, taktische und strategische Ebene visuell zu verknüpfen und transparent zu machen. Zusammenhänge und Auswirkungen werden so schneller erkannt. Der Rhythmus richtet sich nach dem Herzschlag der Organisation, dem Umfeld und den Bedürfnissen der Beteiligten. Ähnliches kennen wir bereits aus verschiedenen agilen Frameworks wie Kanban und Scrum in Form von Dailys, Retrospektiven etc.

Fazit

“Obeya ist ein System, ein Konzept, eine Philosophie, die durch eine Reihe von Ideen (“Prinzipien”) definiert wird. Organisationen nutzen diese 11 Obeya-Prinzipien in ihrem Streben nach integrativer und nachhaltiger Entscheidungsfindung.” Oder einfach ausgedrückt: Obeya ist ein Informations- und Entscheidungsforum, ein großer physischer oder digitaler Raum zur Visualisierung von Informationen und gemeinsamen Entscheidungsfindung.

Auf der großen Fläche des Raumes gibt es feste Plätze für bestimmte Informationen, sodass alle Beteiligten jederzeit und sofort wissen, wo sie welche Information finden. Wichtige Informationen sind visuell aufbereitet,

  • dies erhöht die Transparenz,
  • erleichtert das Erkennen von Zusammenhängen,
  • unterstützt die Zusammenarbeit über Teamgrenzen hinweg und
  • fördert die Qualität der gemeinsamen Entscheidungsfindung.

Aufgrund seiner Grundstruktur eignet sich Obeya sowohl für Teams als auch für die Skalierung über Teams oder Organisationseinheiten hinweg. Auch die Skalierung über strategische, taktische und operative Ebenen ist mit Obeya problemlos darstellbar. Die Visualisierung hilft sogar, die Brücken und Verbindungen zwischen verschiedenen Ebenen einer Organisation sichtbar zu machen.

Die Praxis zeigt, dass Sie Obeya als eigenes Framework einsetzen oder zur Unterstützung einzelner Scrum Teams, in Verbindung mit Kanban, im SAFe-Kontext auf der Ebene eines Release- oder Solutiontrains oder sogar mit dem Flight-Level-Ansatz nutzen können. Die Herausforderungen für Organisationen besteht of darin, sich auf die Transparenz und die sehr Kaizen-geprägte Denkweise der Zusammenarbeit einzulassen. Meiner Meinung nach lohnt sich die aber Mühe, einen großen Raum mit transparenten Informationen zu schaffen, den tatsächlich lassen sich Hindernisse frühzeitig erkennen und bessere Entscheidungen gemeinsam treffen.

Extra-Bonus

Hier finden Sie 3 zusätzliche Fragen zu Obeya, die Thomas Michl beantwortet (bitte auf Plus drücken):

Wie lässt sich eine Redundanz an Daten vermeiden, wenn Informationen bereits an unterschiedlichen Stellen gesammelt werden?

Thomas Michl: Dafür gibt es eine verantwortliche Rolle: Der oder die Obeya Builder. Der jeweilige Rolleninhaber ist dafür verantwortlich, dass die Daten im Obeya Raum gepflegt und aktuell sind und dass es sich um die relevanten Daten handelt. Die Rolle muss nicht zwangsläufig von einer Person wahrgenommen werden, sondern es ist denkbar, dass verschiedene Personen für unterschiedliche Bereiche verantwortlich sind. Durch den ständigen Dialog zwischen allen Beteiligten wird der Obeya Raum zum wichtigsten Ort für Informationen. Nicht vergessen, oberstes Ziel des Obeya ist es gute Entscheidungen zu treffen und dafür die relevanten Informationen sowie Personen an einem Ort zusammenzubringen.

Wer entscheidet, welche Informationen relevant sind und in den großen Raum gehören?

Thomas Michl: Im Idealfall die Entscheidungsträger, die sich im Obeya-Raum versammeln. Die Austauschprozesse und Dialoge sind dann darauf ausgerichtet, zu klären, welche Informationen notwendig sind, damit die Arbeit gelingt. Die ständige Reflexion (im Sinne von Kaizen) ist ein zentraler Bestandteil von Obeya und beinhaltet eben auch die Frage, was für wen mit welchem Ziel “gemacht” wird und was es braucht, damit es gelingt. Die Visualisierung im Obeya-Raum ist das Werkzeug, um Fortschritte, Probleme/Hindernisse und Erkenntnisse sichtbar zu machen.

Wie sinnvoll ist es, einzelne Elemente einer japanischen Kultur bzw. Philosophie in andere Wirtschaftssysteme zu überführen?

Thomas Michl: Obeya ist ein schönes Beispiel dafür, wie europäische und fernöstliche Ideen zusammenwirken können. Historisch gesehen ist Obeya das Ergebnis einer solchen Mischung. Das Ergebnis einer Kombination aus der Tradition der japanischen Teezeremonie, in der es um die Kunst des guten Gesprächs geht, und der Idee der empirisch-wissenschaftlichen Arbeitsweise, die stark von westlichen Denkern beeinflusst wurde. Das Toyota Production System ist geprägt von Ideen, die Deming einst nach Japan brachte und dort mit japanischen Denktraditionen verband. Kanban, ebenfalls eng mit Toyota verbunden, ist ursprünglich von der Idee des amerikanischen Supermarktes inspiriert. Und Freunde der Stoa (einer antiken Philosophenschule) werden bei genauerem Hinsehen viele Parallelen entdecken, zum Beispiel beim Thema Kaizen. Ideen sind schon immer gegenseitig inspiriert. Und viele Ideen sind uns nicht fremd. Wie ein Handwerker zu denken (in Kategorien der Zweckmäßigkeit), den Blick auf die Gründe des Erfolges zu richten und durch Reflexion immer besser zu werden in dem, was wir tun, sind Elemente, die nicht typisch japanisch sind. Mit anderen Worten: Gute Ideen sind schon immer gewandert. Von Ost nach West, von Nord nach Süd und umgekehrt.

Hinweise:

Haben Sie Lust auf Austausch? Es gibt eine deutschsprachige LinkedIn-Gruppe und einen monatlichen Austausch rund um das Thema visuelle Organisation von Thomas Michl, Dieter Stasser und Olaf Bublitz.

[1] What is an Obeya?
[2] Obeya Principles?
[3] Tim Wiegel: Leading with Obeya
[4] vgl. Kamishibai und Kanban für (zu) interdisziplinäre Teams
[5] vgl. Resilienz und Agilität mit dem richtigen Fokus: Von rechts nach links denken

Kennen Sie schon Toms Gedankenblog? Seit vielen Jahren reflektiert Thomas Michl dort unterschiedliche Perspektiven zu Agilität, Lean Management, Kanban etc. Und auch seine neuen Gedankenblitze freuen sich großer Beliebtheit!

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Thomas Michl hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u.a.

t2informatik Blog: Scrum Master und Agile Coach im Vergleich

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Thomas Michl
Thomas Michl

Thomas Michl ist Dipl.-Verw.Wiss. und MBA. Zehn Jahre lang war er im öffentlichen Dienst tägig, bevor er 2018 für borisgloger consulting GmbH und im Anschluss für die Exxeta AG arbeitete.  Heute ist der leidenschaftliche Agilist für die FourEnergy GmbH als Senior Business Consultant aktiv.

Thomas Michl zählt zu den Gründungsmitgliedern des Forums Agile Verwaltung und ist Vorstandsmitglied des Trägervereins. Das Forum Agile Verwaltung wird ehrenamtlich getragen und hat sich zum Ziel gesetzt, die Idee des Agilen Manifests in die öffentliche Verwaltung zu tragen, in dem es eine Plattform für den Austausch und die kollegiale Beratung bietet.