Glauben Sie an Agilität?

Gastbeitrag von | 02.03.2020

Seit über 20 Jahren steht das Thema Agilität bzw. agiles Arbeiten in unterschiedlichen Formen auf meiner Beobachtungsliste. Wenn man sich lange genug mit einer Thematik befasst, lassen sich viele interessante Erfahrungen sammeln; angefangen von XP bis zu Scrum, Lean, Kanban und diversen Derivaten. Positiv wie negativ. Wobei Ersteres durchaus überwiegt.

In einem bemerkenswerten Beitrag hier im t2informatik Blog hat Autor André Claaßen nun ein paar wichtige Dinge über Agilität geschrieben. Und er hat in vielen Dingen Recht.

Das agile Manifest als Glaubensschrift

Was wir mittlerweile an vielen Stellen erleben, ist die Erhebung von Agilität zu einer Art Religion, deren heilige Schrift das agile Manifest ist. Was unter anderem daran liegt, dass viele der im Manifest genannten Punkte Eigenschaften aufweisen, die Entwicklern sehr entgegenkommen, wie bspw. der (interpretierte) Verzicht auf (ungeliebte) Dokumentation und Architektur, oder die Fokussierung auf Software. Andere Punkte werden gerne nach eigenem Gutdünken ausgeblendet. Die Gemeinsamkeiten mit Glaubensschriften sind dabei frappierend. Man nimmt sich Teile und Zitate heraus, die dann als Rechtfertigung für das eigene Handeln herangezogen werden, im Namen von Agilität. Wir sind agil. Ende der Diskussion.

Die Folgen einer Graswurzelbewegung

In den meisten Unternehmen wird Agilität als Graswurzelbewegung bottom-up implementiert. Von unten nach oben. Mit einem großzügigen Verzicht auf das Oben unter Verlust der Berücksichtigung organisatorischer Elemente. Während der Rest des Unternehmens in konventionellen Konzepten verhaftet ist, bilden sich kleine, agile Inseln der (vermeintlichen) Glückseligkeit. In der Folge investiert man tatsächlich einen nicht unerheblichen Aufwand, die beiden Welten zu synchronisieren. Etwas Selbstorganisation billigen wir den Teams ja schon zu, aber nicht zu viel, damit wir als Organisation nicht insgesamt aus der Kurve fliegen. Der Rest der Organisation dreht sich derweil munter in der alten Welt weiter. Dr. Andreas Zeuch hat dazu einen schönen Beitrag hier im t2informatik Blog geschrieben.

Um Agilität im Unternehmen und weiter nach oben hin zu verkaufen, gilt das gute alte “Wir-werden-besser-schneller-billiger”-Argument, im vollen Bewusstsein, dass das nicht unbedingt die Stärken agilen Arbeitens sind. Nur ist es das Argument, was nach oben hin am besten zieht. Was wiederum Erwartungen schürt die nicht erfüllt werden können. Womit wir beim Thema Glauben wären. Und den alten, bekannten Konflikten, die aus Glauben und damit verbundenen Missverständnissen hervorgehen. Die Geschichte ist bekanntlich voll davon.

Agilität hat mehrere Aspekte

Bei Religionen geht es im Kern nicht um Schriften, genauso wenig, wie es bei Agilität um die Dokumentation (aka Manifestierung) von Regeln geht. Es geht um Werte. Es geht um Mindset. Es geht darum, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen. Er geht nicht darum, das Kind Agilität zu nennen und dann nach Handbuch/Glaubensschrift zu verfahren. Es geht darum, bestimmte, funktionierende Werte und Mechanismen an der richtigen Stelle zu implementieren und so anzupassen, dass man optimalen Nutzen ziehen kann. Nicht um das Festhalten an Geboten.

Wir wissen, dass tägliche Synchronisations-Meetings einen positiven Effekt auf die Collaboration im Team haben. Wir wissen, dass regelmäßige Retrospektiven uns dabei helfen, aus Fehlern zu lernen. Wir wissen, dass die Fokussierung auf konzentrierte, kurze Zyklen zu schnellen und guten Ergebnissen sowie kurzer Reaktionszeit auf Veränderungen führt. Wir wissen viele Dinge, die ihre positive Wirkung zeigen und warum sie das tun. Nicht alle stehen in Manifesten geschrieben.

Es geht um Best Practices. Diese haben immer eine Wirkung und eine Kausalität, warum sie wirken. Deswegen sind es Best Practices.

Worum es nicht geht, ist das Festhalten an Wordings. Nur weil es agil heißt, ist nicht gleich agil drin. Und nur, weil agil drin ist, ist es nicht zwingend agil. Und überhaupt, was ist schon agil?

Die Debatten über das Wording

Sich auf gebrandete Wordings zu verlassen, ist allenfalls Glaube, führt uns aber nirgends hin. Jedes Unternehmen, jede Organisation braucht ihren eigenen Weg, ihre eigenen Maßnahmen, unabhängig davon, wie das Kind dann heißen mag. Scrum funktioniert nicht für jedes Setup. Im regulatorischen Umfeld fällt es beispielsweise sehr schwer, sich an die von Scrum vorgegebenen Grundregeln zu halten. Das liegt an der Natur von Regularien, die Sicherheit und Stabilität voraussetzen. Scrum auf der anderen Seite spielt seine Stärken in dynamischen Umfeldern aus – dynamische Anforderungen, schnelles Kundenfeedback, usw. Als Methodik besitzt Scrum wiederum Möglichkeiten, die als Best Practice viel Positives bewirken können. Was dazu führt, dass Organisationen einige dieser Möglichkeiten adoptieren. Quasi ein bisschen Scrum. Die Diskussionen, ob das noch agil oder Scrum zu nennen ist, laufen noch. Aber wofür?

Debatten über Wording helfen nicht weiter. Viel zielführender ist die Auseinandersetzung mit eben jenen Best Practices, die sich im Unternehmen bewährt haben und die dann im Zusammenspiel mit der Organisation funktionieren. Schnittstellen, Verantwortlichkeiten, Mindset, Kultur. Das sind die wichtigen Themen. Am Ende haben wir ein Produkt zu liefern, dem es relativ egal ist, ob wir den Prozess seiner Herstellung agil nennen, oder nicht.

Das Richtige tun

Aus den letzten 25 Jahren Entwicklung existiert eine Fülle von Maßnahmen, die sich in den verschiedensten Organisationen bewährt haben. Ein Katalog, aus dem man sich zwanglos bedienen kann und sollte.

Zu jeder Maßnahme gehört die Frage, wie sich diese in der eigenen Organisation einfügen könnte, welches Ziel ich damit erreichen möchte und was ich dafür verändern muss. Solche Maßnahmen existieren zu den verschiedensten Themen: Führung, Qualität, Planung, Implementierung, Interaktion mit den Stakeholdern, usw. Aber Vorsicht: Puzzleteile in eine Tüte zu werfen und beim Schütteln zu hoffen, es käme ein Bild heraus, funktioniert nicht. Man sollte schon wissen, was man tut.

Durch die Entkopplung von Wordings hin zu realen Implementierungen lösen wir uns von Dogmen und fokussieren uns auf das Wesentliche. Es geht darum, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen. Was funktioniert in unserer Organisationsumgebung, in unserem sozio-ökonomischen System, und was nicht. Auch unter Betrachtung einer Kosten-Nutzen-Rechnung.

Viele Aspekte und Elemente kommen sicher aus der agilen Welt, andere Teile aber nicht. Das Setup in der Organisation regelmäßig zu hinterfragen und zu korrigieren, führt schlussendlich weg vom Glauben, hin zum Wissen. Darum geht es. Und daran können alle wachsen: Teams, Unternehmen, Mitarbeiter, Stakeholder.

 

Hinweise:

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Blogpaper Agilität zum Mitnehmen

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Oliver Fels hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Agil arbeiten oder agil sein

Agil arbeiten oder agil sein

Oliver Fels
Oliver Fels

Oliver Fels war 25 Jahre lang in vielen verschiedenen Funktionen im IT-Bereich tätig. Basierend auf dieser breiten Erfahrung gründete er die Coaching-Firma Individuality. Grundgedanke ist die Überzeugung von der Überlegenheit der individuellen Betrachtung der Organisationsentwicklung gegenüber dogmatischen und verallgemeinernden Ansätzen. Das individuelle Coaching in den Bereichen Führung, Kommunikation, Prozesse, Entwicklung, Qualität und Werkzeuge legt einen starken Schwerpunkt auf die kleinste und wichtigste Effizienzeinheit im Unternehmen: Menschen und ihre Persönlichkeit.