Führung von der Luftfahrt lernen
Eine kleine (Zeit-)Reise über wertvolle Führung und den Faktor Mensch
19. Juli 1989, ein schöner Sommertag. Wir befinden uns an Bord einer DC10 der United Airlines auf dem Weg von Denver nach Philadelphia. Alles sieht nach einem ganz normalen Tag für Kapitän Al Heynes und seine Besatzung aus, abgesehen davon, dass sich besonders viele Kinder an Bord befinden, da United gerade günstige Tickets für Familien mit Kindern im Angebot hat.
Alles fühlt sich wie ein ganz normaler Flug an, bis es plötzlich laut knallt. Ab diesem Moment fühlt sich der Flug anders an, komisch, beängstigend. Jedem an Bord ist klar, dass ein Problem vorliegt. Die Ernsthaftigkeit dieses Problems ahnt zu diesem Zeitpunkt jedoch nur die Besatzung und ein einziger der 285 Passagiere an Bord. Dazu gleich mehr.
Lassen Sie uns zunächst einmal die Szenerie wechseln und ins Cockpit unserer DC10 wechseln. Dort stellen die Piloten kurz nach dem Knall fest, dass alle drei Hydrauliksysteme, die die Steuerung des Flugzeuges gewährleisten sollen, ausgefallen sind. Die riesige Maschine mit fast 300 Menschen an Bord ist nicht mehr steuerbar. Auf ein solches Problem wurden die Piloten nicht vorbereitet, weil man es für ausgeschlossen hielt, dass alle drei unabhängigen Hydrauliksysteme gleichzeitig ausfallen. Zur Steuerung des Fliegers benötigt man lediglich ein System. Die beiden weiteren Systeme sind als Redundanzen eingebaut. An diesem 19. Juli brach ein sogenanntes Fanlaufrad eines Triebwerks, dessen Fragmente die Leitungen aller drei Hydrauliksysteme durchschlugen. Manchmal passiert eben auch das Unvorstellbare.
Verfügbare Ressourcen nutzen
So sitzt nun also unser Kapitän Al Haynes am Steuer seines nicht mehr steuerbaren Flugzeuges. Eine mehr als ernste Situation, weit jenseits jeder Vorstellungskraft. Plötzlich öffnet sich die Tür zwischen Cockpit und Flugzeugkabine. Eine der Flugbegleiterinnen tritt ein und berichtet, dass sich einer der Passagiere bei ihr gemeldet habe. Er sei DC10 Fluglehrer und glaube, dass es ein Problem gebe, bei dem er behilflich sein könne.
Es ist mehr als ungewöhnlich, dass Kapitäne in derartigen Notfallsituationen Passagiere in ihr Cockpit lassen. Allerdings ist Kapitän Haynes schnell klar, dass er jede verfügbare Ressource nutzen muss, um eine realistische Überlebenschance zu wahren. So sitzen sie schließlich zu viert im Cockpit: Kapitän Haynes, sein erster Offizier, der Flugingenieur und der bis dato fremde Fluglehrer. Gemeinsam findet man schließlich eine Möglichkeit, den Flieger mittels Triebwerksschub zu steuern: rechts mehr Gas für eine Linkskurve, links mehr Gas für eine Rechtskurve. Was sich vielleicht einfach anhört, wie Kanufahren, ist jedoch ungeheuer schwer. Trotzdem gelingt es den Vieren, den Flieger auf dem Flughafen von Sioux City zu landen. Bei der Landung bricht der Flieger in zwei Teile. 110 Passagiere und eine Flugbegleiterin verlieren ihr Leben. 185 Menschen überleben.
Warum Kapitän Haynes trotzdem als Held gefeiert wurde und seine Leistung im Hollywood-Film „Katastrophenflug 232“ mit Charlton Heston in der Hauptrolle verewigt wurde? – Nach dem Unglück versuchten unzählige Piloten, darunter auch Werks- und Testpiloten des Flugzeugherstellers, eben diese DC10 in Simulationen zu landen. Alle ohne Erfolg. An diesem 19. Juli 1989 wurden 185 Menschenleben nicht durch die Leistung eines gut ausgebildeten Piloten und auch nicht durch die gute und verlässliche Flugzeugtechnik gerettet. Beides war nicht ausreichend für diese dynamische und komplexe Situation. Gerettet wurden diese Menschenleben durch das außergewöhnliche Teammanagement von Kapitän Al Haynes, der es verstand, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen. An diesem Tag agierte im Cockpit der DC10 ein absolut überdurchschnittliches High Performance Team, das dadurch erfolgreich wurde, dass Kapitän Haynes jedem einzelnen Raum und Vertrauen gab.
Im September 2020 verstarb AL Haynes im Alter von 87 Jahren. Nach diesem Sommertag im Jahr 1989 wurde er nicht müde zu erzählen, dass es seine ersten Crew Ressource Management oder Human Factors Schulungen waren, durch die er verstanden hat, dass egal wie erfahren und gut ausgebildet er ist, nicht er es ist, der den Unterschied macht, sondern das Team, das er führt.
Ihm wurde beigebracht, dass Führung bedeutet, den Rahmen zu schaffen, in dem sich jeder einbringen kann, da jeder wertvoll ist. An diesem Julitag hat Haynes sich sogar entschieden, einem Passagier, den er vorher nicht kannte, die Möglichkeit zu geben, sich und sein Können einzubringen. Belohnt wurde er dafür mit 30 Jahren mehr Lebenszeit und einem Hollywood-Film! – Aber was ist schon Hollywood?
Der Mensch ist der Schlüssel zum Erfolg unserer Systeme
Die Basis für den Erfolg von Kapitän Haynes stellte tatsächlich das Versagen eines anderen Kapitäns dar. Gute zehn Jahre zuvor hat einer der erfahrensten und vermeintlich besten Kapitäne der Fluggesellschaft KLM, Kapitän von Zanten, in Teneriffa die bis heute größte Katastrophe in der Luftfahrt nicht terroristischen Ursprungs herbeigeführt. Im Jahr 1977 stießen zwei völlig intakte Boeings 747 zusammen. Das Unglück wäre vermeidbar gewesen,
- wäre Kapitän van Zanten weniger ungeduldig gewesen,
- hätte er besser zugehört,
- hätte er sich nicht einen solchen Zeitdruck gemacht, weil er unbedingt pünktlich sein wollte,
- hätte er seinem ersten Offizier mehr Raum gegeben,
- hätte man ihn nicht überall als den großartigen Piloten gefeiert, der er sich auch war,
- hätte man dem ersten Offizier irgendwann einmal verraten, dass auch die besten und erfahrensten Piloten Fehler machen…
Hätte, hätte, hätte, hätten an diesem Tag nicht 583 Menschen ihr Leben verloren. Der Schuldig stand also schnell fest. In Anbetracht der vielen Toten wiegt die Schuld schwer, aber wie groß ist sie? Die Unfallermittler stellten schnell fest, dass Ungeduld Teil des Menschseins ist. Wer von uns hat noch nie einen Fehler gemacht, weil er unter Zeitdruck nachlässig wurde? Und wer von uns hat noch nie Information vor dem Chef zurückgehalten, weil er oder sie Sorge vor einem Tadel hatte? – Eben! Keiner! Alles das sind Faktoren, die Menschen mehr oder weniger erfolgreich machen. Allerdings hat „weniger erfolgreich“ in der Luftfahrt manchmal fatale Folgen, weshalb die Luftfahrt früh gezwungen war, sich diesen „Faktor Mensch“ genauer anzuschauen.
Bis zu diesem Tag im Jahr 1977 wurde Luftfahrt ausschließlich durch die Verbesserung der Flugzeugsysteme sicherer und erfolgreicher gemacht. Mit diesem Unglück wurde erkannt, dass es der Mensch ist, der in einem dynamischen und komplexen Umfeld den Unterschied macht. Der Mensch ist der Schlüssel zum Erfolg der Systeme und das Team die unumstößliche Instanz, die in der Lage ist, Komplexität auch nachhaltig zu managen. So entstand Schritt für Schritt das sogenannte Crew Ressource Management Training und wurde verpflichtend für alle Besatzungsmitglieder. Auf der Agenda stehen u.a. Inhalte wie
- Kommunikation,
- Konfliktmanagement,
- Teammanagement,
- Führung (und auch geführt werden!),
- analytische Entscheidungsfindung,
- Stressmanagement,
- Resilienz,
- Feedback,
- Fehlermanagement,
- Wahrnehmung,
- (kognitive) Diversität und
- kulturelle Unterschiedlichkeit.
Der Fokus liegt darauf, erfolgreiche Hochleistungsteams zu kreieren und das Beispiel von Al Heynes und seinem Team ist nur ein Beleg dafür, dass dieser Ansatz der Luftfahrt erfolgreich ist. Es gibt derer viele. Jeder von uns kann sich sicher noch daran erinnern, wie Kapitän Sully Sullenberger seinen Airbus A320 auf dem Hudson River gelandet hat. Auch das war keine herausragende Einzelleistung, sondern exzellente Zusammenarbeit und eine großartige Entscheidungsfindung in einer Hochstresssituation. Kapitän Sullenberger war übrigens nicht nur Kapitän, sondern auch Crew Ressource Management Trainer.
Was die Wirtschaft von der Luftfahrt lernen kann und sollte
Ich selbst durfte 21 wunderbare Jahre in der Luftfahrt verbringen und kann mich genau an mein erstes Crew Ressource Management Training erinnern. Ich war Anfang zwanzig und dieser Fokus auf das Team und darauf, dass jeder einen Teil der großen Verantwortung trägt, hat mich direkt verzaubert. So wurde ich selbst Crew Ressource Management und Human Factors Trainer, mit dem großen Traum, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass Fliegen sicherer wird. Crew Ressource Management wurde zum Teil meiner DNA!
Es hat mich sehr verwundert, dass der gefühlte Rest der Welt kein vergleichbares System hat. Dabei konnte ich mir nicht vorstellen, wie man anders erfolgreich sein kann. So habe ich mich immer weiter aus der Luftfahrt herausgewagt, um die Idee und die Struktur eines Human Factors Training in die Welt zu tragen. Dabei wurde ich so erfolgreich, dass ich inzwischen in der Luftfahrt nur noch vereinzelt zu Gast bin. Als Agile Coach und Human Factors Consultant helfe ich nun auch jenseits meiner geliebten Flugzeug-Teams und ganzen Organisationen dabei, Höchstleistungen zu erbringen. Auch hier ist der Schlüssel dazu stets der Mensch.
Ich stelle immer wieder fest, dass der Unterschied zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Organisationseinheiten häufig die Frage ist, ob es der jeweiligen Organisation gelingt, Menschen in die Position zu bringen, ihr Potenzial voll zu entfalten. Dabei arbeite ich auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Natürlich sind bestimmte Strukturen hilfreich. Aber die Einführung von Scrum Teams, das Aufstellen von Kanban Bords, der Aufbau von Obeyas oder das Definieren von OKR sind bestenfalls Kosmetik. Damit sich Erfolg in einer immer komplexeren und dynamischeren Welt einstellen kann, und Scrum, Kanban und Konsorten ihre volle Wirkung entfalten, ist ein tiefes Verständnis der Bedeutung des Faktors Mensch notwendig. Ganz besonders in einer Zeit, in der technischer Fortschritt wieder verstärkt in den Fokus rückt. Bis 1977 dachte man ja auch in der Luftfahrt, dass der Fokus auf technischen Systeme und klaren Strukturen ausreichend sind, um immer erfolgreicher zu werden.
Das Human Factors Training
Als Coach arbeite ich mit Menschen auf den unterschiedlichsten „Flughöhen“ und das Thema der bewussten Selbstführung scheint zentral für die Orientierung in einer Welt, die sich kontinuierlich verändert. Besonders intensiv arbeite ist mit Führungskräften, für die es gilt umzudenken. Sowohl Kapitän van Zanten, als auch Kapitän Haynes sind ganz sicher am Morgen ihrer jeweiligen Schicksalstage aufgestanden, um an diesem Tag ihr Bestes zu geben und alles richtig zu machen. Hierbei ist Kapitän van Zanten so vorgegangen, wie es ihm die Evolution mitgegeben hat. Ja, er hat Fehler gemacht, allerdings alles Fehler, die menschlich nachvollziehbar waren. Dabei war sein vielleicht größter Fehler, seine Hybris besser zu sein als die anderen in seinem Team, oder zu glauben, er alleine müsse die Richtung vorgeben. Daraus durfte eine ganze Industrie im Allgemeinen, aber auch ein gewisser Al Haynes im Speziellen lernen. Er durfte es besser machen, weil er lernen durfte, dass er, egal wie groß, erfahren und gut er ist, ohne sein Team nichts ist. Er legte seinen Fokus darauf, eine Atmosphäre der Zusammenarbeit und des Vertrauens zu schaffen. Das war das Geheimnis seines Erfolges. Inzwischen nennt man das wohl Servant Leadership, oder New Leadership… Große Worte dafür, dass man sich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst ist und versteht, was für ein großes Backup man durch sein Team hat.
„A fliying mission is always a team task!“, stellte der Luftfahrtpsychologe Foushee schon vor einer ganzen Weile fest. „A successful mission in a dynamic world is always a team task!”, möchte ich hinzufügen und freue mich dabei schon auf meinen nächsten Arbeitstag, an dem ich meinen Beitrag als Coach und Berater dazu leisten darf, dass Menschen ihr Potenzial bestmöglich einbringen können. Thematisch orientiere ich mich stark an dem, was ich in der Luftfahrt gelernt habe. Das System des Human Factors Training wurde seit 1977 stetig weiterentwickelt, was natürlich nicht heißt, dass es perfekt und ausgereift ist. Jedoch stelle ich fest, dass viele Führungskräfte, mit denen ich zusammenarbeiten darf, vor ähnlichen Herausforderungen stehen, wie Piloten in den frühen Achtzigerjahren, die behutsam lernen mussten, dass der erste Offizier mehr als ein Ja-Sager und Kofferträger sein kann und sein sollte, wenn man ihn nur lässt. Und auch die nachgeordneten Strukturen können und müssen mehr leisten, als Befehle zu empfangen und Kaffee und Tee zu kochen, um erfolgreich zu sein.
Hinweise:
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Sollten Sie nach diesen Denkanstößen Interesse haben, tiefer in das Thema einzusteigen und Constance Ratazzi-Nelles auf ihrem Weg von der Luftfahrt in die Wirtschaft zu begleiten, besuchen Sie gerne ihren Blog Food for Thought. Hier gibt es jeden zweiten Sonntag neue Impulse rund um das, was Frau Ratazzi-Nelles in Anlehnung an die Luftfahrt Human Factors Consulting nennt.
Diesen Beitrag finden Sie auch im kostenlosen Blogpaper Führung – Sieben Perspektiven zu Führung.
Constance Ratazzi-Nelles hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Constance Ratazzi-Nelles
Constance Ratazzi-Nelles hat ihre beruflichen Wurzeln in der Luftfahrt, wo sie 21 Jahre zunächst als Kabinenbesatzung und schließlich als Human Factors oder Crew Ressource Management Trainer arbeitete. 2019 machte sie sich nebenberuflich als Trainer und Human Factors Consultant mit ihrer Plattform Impuls selbstständig, mit der sie die Ansätze aus dem Human Factors Training der Luftfahrt mit besonderem Blick auf den Zusammenhang zwischen subjektive empfundener Psychological Safety und High Performing Teams in die Business-Welt trägt.
Ende 2020 hat sie sich entschieden, die Luftfahrt zu verlassen. Seitdem arbeite sie als Change & Transformation Consultant für eine internationale Bank und hat sich mit in ihrer Selbstständigkeit als Coach und Consultant auf die Felder Führungskräfte-Coaching, sowie Resilienz, das heißt Stress- und Angstmanagement, Burnout-Prävention und bewusste Gestaltung der Work-Life-Balance spezialisiert.
Als Keynote-Speaker präsentiert sie das Thema „Psychological Safety & High Performance – Was die Business-Welt von der Luftfahrt lernen kann“. Als Gastdozentin präsentiert sie dieses Thema auch jährlich an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Maastricht im Rahmen des Masterstudiengangs.