Ist Stress gut oder schlecht?
Unterschiedliche Ansätze im Stressmanagement
Sind Sie schon einmal einem Säbelzahntiger begegnet? Wahrscheinlich nicht, denn diese Geschöpfe sind vor rund 10.000 Jahren ausgestorben. Dennoch wüsste unser Gehirn genau, was in einer solchen Situation zu tun wäre: fliehen oder kämpfen.
Unser Körper kennt zwei grundlegende Zustände: Ruhe und Aktivierung.
Im Ruhezustand ist der Teil unseres Nervensystems aktiv, den wir parasympathisches Nervensystem nennen. Wir atmen automatisch tief in den Bauch, unser Herz schlägt langsam und regelmäßig, alle Teile unseres Körpers sind gut durchblutet, unsere Wahrnehmung ist weit. Wir sind mit unseren Mitmenschen verbunden, unser Verdauungssystem ist aktiv.
Im Zustand der Aktivierung, dem sogenannten Arousal, arbeitet unser sympathisches Nervensystem auf Hochtouren. Gesteuert durch Hormonausschüttungen atmen wir wie von Geisterhand schneller und flacher in die Brust, die Wahrnehmung ist eng. Unser Herz schlägt schneller, die großen Muskeln werden gut durchblutet (damit wir schneller laufen oder besser zuschlagen können), das Blut zieht sich aus den äußeren Extremitäten zurück (damit wir nicht sofort verbluten, wenn uns der Säbelzahntiger die Hand abbeißt). Auch die Zusammensetzung des Blutes ändert sich. Auch die Verdauung wird unterdrückt. Das merken wir am trockenen Mund, denn Spucken ist die erste Verdauungsinstanz, oder auch daran, dass wir einfach nicht “müssen”. Wäre auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger auch irgendwie ungünstig.
Wenn wir uns dem Thema Stress nähern, ist es wichtig zu verstehen, dass der menschliche Körper für beide Zustände ausgelegt ist. Zum Beispiel macht uns Aktivierung automatisch aufmerksamer und weniger fehleranfällig. Ist die Herzfrequenz jedoch dauerhaft erhöht, ohne dass Entspannung stattfindet, wird der ständig überlastete Herzmuskel krank. Wird die Verdauung unterdrückt, drohen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Und ist die Wahrnehmung dauerhaft fokussiert, entgeht uns Wichtiges links und rechts und wir hören auf, uns mit den Menschen um uns herum zu verbinden. Gesteuert wird die Interaktion durch die Ausschüttung von Hormonen in unserem Gehirn, die den einen oder anderen Zustand aktivieren.
Die Polyvagal-Theorie von Steven Porges
Nun könnte man meinen, dass wir dem Hormonwirrwarr in unserem Körper hilflos ausgeliefert sind. Steven Proges [1], ein amerikanischer Psychiater und Neurowissenschaftler, hat jedoch im Rahmen seiner Polyvagal-Theorie beschrieben, dass nicht nur die Hormonausschüttung einen körperlichen Zustand hervorrufen kann, sondern auch ein bewusst eingenommener körperlicher Zustand die Hormonausschüttung beeinflusst. [2] Wir können also unser emotionales Erleben bewusst gestalten und müssen nicht Sklaven unserer Befindlichkeit sein.
Porges unterscheidet drei verschiedene Zustände:
- Ruhezustand,
- Erregung und
- Übererregung.
Im Ruhezustand bin ich entspannt, ruhe in mir, bin in Kontakt mit mir, meinen Mitmenschen und meiner Umwelt, bin aufmerksam, neugierig, habe eine weite und bewusste Wahrnehmung und fühle mich geerdet.
Im Zustand der Erregung gibt es zwei Wege, die ich gehen kann: Kampf oder Flucht! In beiden Fällen fokussiert sich meine Wahrnehmung. Ich gerate in einen Tunnel. Wenn der Tunnel Kampf heißt, kommen Gefühle wie Frustration, Ärger, Wut, Aggression. Im Fluchtmodus dominieren Gefühle wie Sorge bis hin zu Angst oder Panik.
Insgesamt bringt mich dieser Zustand in Bewegung, entweder vorwärts oder rückwärts. Beides ist hilfreich. Das eine macht mich durchsetzungsfähiger, das andere sorgt für einen klugen Rückzug. Überhaupt ist Angst eine ganz große Kompetenz. In der Evolution gab es die Ängstlichen und die Toten; wir sind das genetische Überbleibsel der Ängstlichen, denn die Toten konnten ihre Gene oft einfach nicht mehr weitergeben! Die moderne und sozial adäquate Form der Flucht ist heute übrigens der innere Rückzug!
Der Zustand der Übererregung führt zu einer Art Lähmung durch Überforderung. Gefühle wie Hoffnungslosigkeit, Orientierungslosigkeit, Dumpfheit, Depression, Scham und Hilflosigkeit stellen sich ein. Manche Menschen fallen in diesem Zustand sogar in Ohnmacht.
Entwicklungsgeschichtlich hat sich der Körper so auf einen möglichst schmerzfreien Tod vorbereitet. Während im Zustand der Erregung alles in mir schreit: “Ich kann!”, schallt es im Zustand der Übererregung aus meinem Kopf: “Ich kann nicht!”.
In Zeiten, in denen wir am liebsten in Höhlen lebten und uns die Köpfe einschlugen, machte das alles sicher Sinn. Das Problem heute ist, dass dieser Teil des Gehirns, die Amygdala, nicht zwischen konkreter und abstrakter Gefahr unterscheidet. Es gibt nur absolute Sicherheit oder absolute Gefahr. Der Kollege, der seine gegenteilige Meinung mit Nachdruck vertritt, ist für die Amygdala so gefährlich wie der Säbelzahntiger. Ich kämpfe oder flüchte oder fühle mich ohnmächtig!
Emotionale Steuerung durch den Vagusnerv
Diese von Porges beschriebenen und von uns erlebten Zustände werden von einem großen Nerv gesteuert, der unseren ganzen Körper durchzieht: dem Vagusnerv.
An der Vorderseite unseres Körpers verläuft der ventrale Vagusnerv und an der Rückseite der dorsale Vagusnerv. Der ventrale Vagusnerv ist für Entspannung und Sicherheit zuständig, der dorsale für Erregung, Anspannung, Kampf, Flucht und Erstarrung.
So weit, so interessant, aber nicht revolutionär. Porges hat aber gezeigt, dass man beide Teile des Vagusnervs bewusst ansteuern und damit sein Arousal, also die Intensität des Erregungszustandes, oder einfacher gesagt, sein Stressniveau regulieren kann. Ich kann also meinen Körper bewusst einsetzen, um den Hormoncocktail, der meinen Körper überschwemmt, zu beeinflussen.
Normalerweise wollen Menschen ihren Stresspegel senken. Das heißt, sie müssen den ventralen Vagusnerv ansprechen. Entweder atme ich bewusst tief in den Bauch (dafür gibt es verschiedene Atemtechniken), oder ich mache mir die Tatsache zunutze, dass der ventrale Vagusnerv direkt durch mein Gesicht verläuft. Ich kann meine Mundwinkel nach oben ziehen und bewusst meinen Entspannungsnerv stimulieren. Der signalisiert dann dem Gehirn: “Hey, hör auf, all diese Stresshormone auszuschütten. Unser Mensch ist entspannt. Sie lächelt sogar!”.
Eine dritte Möglichkeit ist die bewusste Orientierung im Raum. Um aus dem Tunnel herauszukommen, hilft es, jeden einzelnen Menschen in der Umgebung bewusst wahrzunehmen und mit ihm in Kontakt zu treten. [3] Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist dies bei Bühnenangst hilfreicher, als das Publikum als große graue Masse zu betrachten.
Es gibt übrigens auch Situationen, in denen Menschen bewusst Spannung erzeugen wollen, also bewusst den dorsalen Vagusnerv stimulieren. Sportler begeben sich beispielsweise vor einem Wettkampf bewusst in einen Tunnel. Sie schotten sich ab, um rein physiologisch die Extraportion Energie und Blut in den großen Muskeln zu haben, um absolute Höchstleistungen zu erbringen. Dann kann der Wettkampf beginnen!
Glücksfaktor Stress
Zum Thema Stress gibt es noch einen weiteren Forschungsansatz:
“Wenn Sie sich dazu entscheiden, Ihre Stressreaktionen als hilfreich zu betrachten, schaffen Sie die biologische Voraussetzung für Mut.” – Kelly McGonigal [4]
Bäm! Das Zitat hat mich getroffen, als ich es zum ersten Mal gelesen habe. Jahrzehntelang ging es darum, Stress zu reduzieren, Stress in positiven und negativen Stress zu unterteilen und zu versuchen, ruhig zu bleiben oder ruhig zu werden. Dieser Ansatz hat auch heute noch seine absolute Berechtigung und wird von mir über die Polyvagal-Theorien gerne in meinen Coachings eingesetzt. [5] Für mich selbst war ich jedoch intuitiv immer auf der Suche nach einer Alternative.
Ein Grund, warum ich mit dem klassischen Stressmanagement à la “reduziere deinen Stress” nie so richtig warm geworden bin, ist einfach: Ich liebe meinen Stress und brauche ihn! Mehr als einmal wurde mir gesagt, dass das eine ungesunde Einstellung sei. Aber dann kam Kelly McGonigal und zeigte mir, dass ich eigentlich eine Stressliebhaberin bin – und dass das völlig in Ordnung ist! Er kann sogar gesund sein, denn er hilft mir, mein Gehirn zu stärken und wachsen zu lassen!
Aber von vorne: Stress ist zunächst einfach eine körperliche Reaktion, bei der bestimmte Hormone ausgeschüttet werden. Das bekannteste ist sicherlich Adrenalin, aber auch Cortisol und das Wachstumshormon DHEA gehören zu diesem Cocktail, der unser Herz schneller schlagen lässt, unsere Atmung flacher und unsere Handflächen feucht werden lässt oder uns ein flaues Gefühl im Magen und einen trockenen Mund beschert. Das sind alles ganz normale körperliche Reaktionen, die nichts Besorgniserregendes an sich haben.
Spannend wird es, wenn wir diese körperlichen Reaktionen bewerten. Es gibt Momente, da empfinden wir ein und dasselbe Gefühl im Bauch entweder als Schmetterling oder als Aufregung, weil wir uns auf etwas freuen. In anderen Momenten empfinden wir dasselbe Gefühl als ein flaues Gefühl im Magen und denken, dass wir vor etwas Angst haben. McGonigal konnte nachweisen, dass die körperlichen Reaktionen bei Angst und Vorfreude gleich sind. Der Unterschied liegt in unserer Bewertung.
Ein Beispiel aus meinem Alltag:
Ich liebe es, auf großen Bühnen zu stehen! Das fühlt sich einfach gut an. Es gibt Menschen, die mögen das gar nicht und müssen sich überwinden, um auf die Bühne zu gehen. Wenn ich diese Menschen frage, wie sich ihre Bühnenangst genau anfühlt, höre ich oft Aussagen wie: “Ich bekomme Herzklopfen und feuchte Hände. Mein Mund wird ganz trocken. Ich habe das Gefühl, ich kann nicht tief einatmen.”
Diese Reaktionen schüren die Angst.
Und wie geht es mir, bevor ich auf die Bühne gehe? Mein Mund wird ganz trocken, ich spüre meinen Herzschlag deutlich, meine Hände werden manchmal feucht, ich muss unbedingt noch einmal auf die Toilette und meine Atmung ist schnell und flach. Mein System interpretiert diese Reaktionen als Vorfreude und Ungeduld, bis es endlich losgeht!
Nach McGonigal geht es nicht darum, den Stress an sich zu reduzieren, sondern zunächst an seinem Bewertungssystem zu arbeiten. Und an Bewertungssystemen arbeiten wir Coaches mit unseren Klienten immer und immer wieder. Warum also nicht auch in diesem Zusammenhang?
Stress lässt das Gehirn wachsen
Insgesamt konnte McGonigal bei ihren Untersuchungen feststellen, dass sich die Menschheit in zwei Gruppen einteilen lässt:
- Menschen mit positivem Stress-Mindset und
- Menschen mit negativem Stress-Mindset.
Sie fand unter anderem heraus, dass Menschen mit einem positiven Stress-Mindset seltener an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) erkranken, was für die US-Armee sehr interessant wurde. Studierende mit einem positiven Stress-Mindset scheinen im Allgemeinen besser durchs Studium zu kommen als ihre Kommilitonen mit einem negativen Stress-Mindset, auch was die Noten betrifft.
Die Definition von Mindset in diesem Zusammenhang lautet übrigens wie folgt: “Eine Überzeugung, die unser Denken, Fühlen und Handeln im Voraus bestimmt”. Es ist also eine Art Filter, durch den wir die Welt betrachten.
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Alia Crum fand McGonigal heraus, dass die unterschiedlichen Mindsets zwar keinen Einfluss auf die Ausschüttung von Stresshormonen haben, wohl aber auf die Zusammensetzung des jeweiligen Hormoncocktails. Zwei Hormone sind dabei besonders relevant: Cortisol und Dehydroepiandrosteron (DHEA). Cortisol hilft, Zucker und Fett in Energie umzuwandeln und unterdrückt Körperfunktionen, die unter Stress eher unwichtig sind (z.B. Verdauung, Fortpflanzung und Wachstum). DHEA gehört zur Gruppe der sogenannten Steroide und fördert das Wachstum unseres Gehirns (ähnlich wie Testosteron die Muskeln). Außerdem gleicht es in einigen Bereichen die Wirkung von Cortisol aus. Beide Hormone sind wichtig, aber auch ihr Verhältnis zueinander ist wichtig, um McGonigals Ansatz zu verstehen.
Das Verhältnis von Cortisol zu DHEA wird von McGonigal als Growth Index der Stressreaktion bezeichnet. Je höher der Growth Index (also je mehr DHEA im Verhältnis zu Cortisol im Speichel der Probanden messbar war), desto mehr kann der Mensch tatsächlich von Stress profitieren. Im akademischen Umfeld der Universität förderte dies das Durchhaltevermögen und die Belastbarkeit der Studenten, und beim Militär verringerte ein höherer Growth Index die Wahrscheinlichkeit, nach einem kritischen Einsatz an PTSD zu erkranken.
Fazit
Stress an sich ist weder gut noch schlecht – es kommt darauf an, wie wir ihn wahrnehmen und bewerten. Während unser Körper seit der Steinzeit auf Stresssituationen wie Flucht oder Kampf vorbereitet ist, wissen wir dank moderner Ansätze wie der Polyvagal-Theorie von Steven Porges oder den Forschungen von Kelly McGonigal, dass Stress auch positiv genutzt werden kann. Mit der richtigen Einstellung und Techniken wie der bewussten Aktivierung des Vagusnervs oder einem positiven Stress-Mindset kann Stress nicht nur unsere Leistungsfähigkeit steigern, sondern auch unser Gehirn wachsen lassen. Entscheidend ist, wie wir Stress bewerten und welche Maßnahmen wir ergreifen, um ihn konstruktiv zu nutzen.
Hinweise:
Möchten Sie an Ihrem Stress-Mindset arbeiten? Dann melden Sie sich bei Constance Ratazzi-Nelles, sie freut sich immer, wenn sie Menschen ein Stück auf ihrem Weg begleiten darf. Denn eines ist klar (und das sagt McGonigal auch ganz deutlich): Stress zu vermeiden ist keine Lösung.
[1] Wikipedia: Steven Porges
[2] Wikipedia: Polyvagel-Theorie
[3] Es gibt nocht eine 4. Option: Mit Klopfakkupressur lässt sich der ventralen Vagusnervs ebenfalls stimulieren.
[4] Kelly McGonigal: Glücksfaktor Stress – Warum Stress uns erfolgreich und gesund macht.
[5] In den Stressmanagement-Coachings von Constance Ratazzi-Nelles geht es zuerst darum, dass die Coachees bewusst wahrnehmen, in welchem Zustand sie sich gerade befinden. Ziel ist es, die Unterschiede zwischen den Zuständen Entspannung, Kampf, Flucht und Freeze herauszuarbeiten. Im zweiten Schritt werden passende Strategien entwickelt, um bewusst zwischen den Zuständen wechseln zu können, vor allem in einen entspannteren Zustand.
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Constance Ratazzi-Nelles hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Constance Ratazzi-Nelles
Constance Ratazzi-Nelles begann ihr ungewöhnliche Laufbahn als (Agile) Coach und Human Factors Consultant in der Luftfahrt, wo sie zunächst als Kabinenbesatzung und schließlich als Human Factors oder Crew Ressource Management Trainer arbeitete. Vor gut drei Jahren machte sie sich mit ihrer eigenen Plattform Impuls nebenberuflich selbstständig, um als Coach, Trainer und Berater die Ansätze des Human Factors Trainings in die Business-Welt zu tragen. Ende 2020 hat sie sich schließlich entschieden, die Luftfahrt nach 21 Jahren zu verlassen, um ausschließlich als (Agile) Coach und Human Factors Consultant tätig zu sein.