Gemeinsam stark: Leadership und Followership

Gastbeitrag von | 08.06.2023

Ein Blick auf die Balance von Leadership und Followership

Als Coach und Berater habe ich einen Fokus auf die Begleitung und Entwicklung von Führungskräften. In der schönen neuen Welt von New Work gilt Leadership als wichtiger Aspekt, Followership hingegen wird in vielen Bereichen eher vernachlässigt. Die Luftfahrt ist an dieser Stelle deutlich weiter; dort werden Menschen nicht nur für Leadership, sondern auch für Followership sensibilisiert. Warum? Weil selbst Götter machtlos sind, wenn niemand an sie glaubt. Und weil bereits seit Ende der siebziger Jahre klar ist, dass der Mensch und das Team eine nicht zu unterschätzende Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, die Dynamik und Komplexität zu managen, die es mit sich bringt, wenn man in ziemlich schweren Blechdosen ziemlich schnell um die Erde düst. Im Zuge des Human Factors Trainings wird folglich nicht nur Leadership, sondern auch Followership geschult.

Was ist Followership?

Traditionelle Führungsstile basieren auf hierarchischer Autorität und Gehorsam. Der Vorgesetzte trifft Entscheidungen, verteilt Anweisungen und die Mitarbeiter setzen diese Anweisungen um. Es gibt eine klare Rangordnung, in der Führungskräfte Mitarbeiter kontrollieren und die Kommunikation hauptsächlich top-down erfolgt. Die Schwerpunkte einer solchen Führung liegen auf Effizienz, Disziplin und der arbeitsteiligen Erfüllung von Aufgaben.

Moderne Führungsstile – heute (auch hier im Blogbeitrag) Leadership oder auch New Leadership bezeichnet – basieren auf den Prinzipien der Teamarbeit, der Partizipation und der Entwicklung der Mitarbeiter. Im Gegensatz zur traditionellen Führung betont (New) Leadership die Zusammenarbeit, den Austausch von Ideen und die gemeinsame Entscheidungsfindung. Entsprechend steht nicht die Führungskraft im Mittelpunkt, sie fungiert eher als Unterstützer für das Team. Sie ermutigt Mitarbeiter, ihre Stärken und Fähigkeiten einzusetzen und übernimmt eine bestärkende Rolle, um ihnen bei ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu helfen.

Und was ist nun Followership? Followership ist die andere Seite der Leadership-Medaille. Es betrachtet das Verhalten von Mitarbeitern im Zuge von Leadership. Es ist eine aktive Rolle, die eine mitdenkende, mitgestaltende, teamorientierte und eigenverantwortliche Haltung beinhaltet. Sie basiert auf einer positiven Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, auf Vertrauen und psychologischer Sicherheit. Sie schafft ein Gefühl des Miteinanders, das dazu beiträgt, gemeinsame Ziele zu erreichen und sich gegenseitig zu unterstützen. Klingt gut, oder?

Ein großes Maß an Verantwortung übernehmen

Wann immer ich in meiner Zeit als Human Factors Trainer eine Gruppe junger, angehender Flugbegleiter vor mir hatte, musste ich daran denken, wie ich selbst im 134. Flugbegleiterlehrgang der Condor saß. Es war aufregend, interessant und manchmal sogar schockierend. Rückblickend weiß ich, dass das Handwerk schnell gelernt ist. Körperlich ist Flugbegleitung zuweilen sehr anstrengend und wenn Menschen mit einem geregelten Tagesablauf sagen, sie wären nach der Arbeit müde, dann ist dies sicherlich eine andere Form von Müdigkeit als die absolute körperliche Ausgelaugtheit nach einem anstrengenden Nachtflug in Kombination mit Jetlag. Aber auch das ist im Rahmen des Machbaren, sonst wäre ich sicher selbst nicht so viele Jahre geflogen. Es gibt jedoch einen Aspekt, der mir damals, mit Anfang zwanzig, nicht bewusst war, der mir jedoch in den darauffolgenden Jahren immer deutlicher und klarer wurde:

  • Als gutes Crewmitglied muss man sich in die Hierarchie einzufügen und
  • gleichzeitig auch ein großes Maß an Verantwortung übernehmen.

Jedes einzelne Crewmitglied übernimmt ganz persönlich Verantwortung für das größte Gut unserer Welt: für Menschenleben! Sich dieser großen Verantwortung bewusst zu sein und ihr im täglichen Tun gerecht zu werden, ist die eigentliche Herausforderung für diese zauberhaften jungen Menschen, die ich regelmäßig trainieren darf.

Selbst als Trainer in der Luftfahrt war es gar nicht so einfach, diese doch recht abstrakte Verantwortung greifbar zu machen. Hierfür arbeite ich bis heute gerne mit konkreten Beispielen.

Ein Beispiel aus der Luftfahrt

10. März 1989. Sonia Hartwick arbeitet seit zwei Jahren als Flugbegleiterin bei Air Ontario. Eine attraktive Frau, ungefähr Mitte zwanzig, mit blondem Haar, blauen Augen und einem strahlenden Lächeln. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katherine Say, Kapitän John Morwood und dem Ersten Offizier Keith Mills soll das der letzte Tag eines mehrtägigen Einsatzes sein. Kapitän Morwood freut sich darauf, am nächsten Tag seinen Urlaub mit der Familie anzutreten und alle anderen freuen sich auf zu Hause.

An diesem Tag soll es mit einer Fokker F28 von Thunder Bay nach Winnipeg mit einem kurzen Zwischenstopp in Dryden gehen. Eigentlich nichts Großes. In Dryden angekommen ist das Flugzeug bereits verspätet und die Verspätung scheint weiter anzuwachsen. Ein Umstand, der für eine Besatzung immer zusätzlichen Stress bedeutet. Dem Flugplan hinterherzujagen, ist keine Freude. Ein zusätzlicher Stressfaktor für die Piloten ist, dass man entschieden hat, die Maschine mit einer defekten Auxiliary Power Unit (APU) fliegen zu lassen, einer Art Hilfstriebwerk, das zum Starten der Triebwerke und zur Stromversorgung am Boden benötigt wird. Eigentlich ist eine defekte APU kein Beinbruch und ich bin selbst schon oft mit einem solchen Defekt unterwegs gewesen. An Flughäfen gibt es Bodenstromaggregate, die die APU ersetzen. Also alles gut. Allerdings ist der Flughafen von Dryden so klein, dass er an diesem Tag keine Bodenstromaggregate zur Verfügung stellen kann. Um überhaupt wieder starten zu können, müssen die Piloten eines der beiden Triebwerke während der gesamten Bodenzeit laufen lassen. Sie müssen betanken und boarden, während das Triebwerk läuft. Heute wäre ein solches Vorgehen verboten, damals war es akzeptabel. Für die Piloten, besonders für den Kapitän, bedeutet das an diesem Tag eine große Menge Extrastress.

In der Kabine geben Sonia und Katherine ihr Möglichstes, um diesen Stress vor den Gästen zu verbergen und den Unmut der Gäste hinsichtlich der Verspätung zu kompensieren. Während der Flieger in Dryden abgefertigt wird, schlägt das Wetter plötzlich um und es beginnt zu schneien. Der Stress wird größer, denn die Verspätung droht weiter anzuwachsen. Ich weiß nicht, ob Sonia Familie hat, auf die sie sich freut, Kinder, die auf sie warten, aber ich weiß, wie sehr man sich an solchen Tagen einen pünktlichen Feierabend wünscht.

Auch Kapitän Morwood möchte nach Hause und so entscheidet er, sich zu beeilen, die Türen zu schließen, und in Richtung Startbahn zu rollen. Dabei übersieht er aber, dass sich durch die veränderte Wettersituation Eis auf beiden Tragflächen bildet. Fahrlässig, könnte man meinen. Aber vielleicht haben auch Sie schon einmal etwas in einer Stresssituation übersehen? Vielleicht passt auch Kapitän Morwoods mentales Modell nicht dazu, dass es Eis geben würde. Er weiß, dass es für ihn in Dryden keine Möglichkeit gibt, zu enteisen. Zum Enteisen ist ein Ausschalten beider Triebwerke notwendig, die er aufgrund der defekten APU und des fehlenden Bodenstromaggregates nicht wieder hätte starten können. Es wären also alle erst einmal in Dryden geblieben, bis ein entsprechendes Aggregat eingeflogen worden wäre. Dem alten Motto folgend “Es kann nicht sein, was nicht sein darf!” spielt ihm an diesem Tag vielleicht sogar seine Wahrnehmung einen Streich. Ein sehr bekanntes Phänomen.

Allerdings gibt es andere, deren Wahrnehmung funktioniert und die das Eis sehen. Ein Gast spricht Katherine wegen des Eises an. Diese beruhigt den Gast, weil sie annimmt, dass die Tragflächen sich selbst enteisen. Tatsächlich handelt es sich dabei um gefährliches Halbwissen! Es sind lediglich die Spitzen der Tragflächen, die beheizt werden und somit auch enteist werden können. Da hat sie wohl etwas verwechselt!

Sonia weiß es besser und ist sehr besorgt, entscheidet sich aber, den Kapitän nicht anzusprechen.

So nehmen die Dinge ihren Lauf. Kapitän Morwood leitet im festen Vertrauen darauf, dass alles okay ist und unter Zeitdruck den Start ein. Zunächst hebt die Maschine ab, dann aber verliert sie an Höhe und stürzt in den angrenzenden Wald. An diesem Tag verlieren 24 Menschen ihr Leben, darunter Sonias Kollegin, ihr Kapitän und ihr Erster Offizier.

Die Frage nach dem “Warum”

Im Nachgang wurde Sonia gefragt, warum sie nichts gesagt habe. Ihre Erklärung ist ebenso nachvollziehbar, wie traurig. Sonia beschreibt, dass sie Angst davor hatte, es könnte sich herumsprechen, dass sie den Piloten in ihre Arbeit hineinrede, den Kapitän kritisiere. Sie wäre doch eigentlich diejenige, die für Tee und Kaffee verantwortlich sei. Sonia hatte Angst, dass sie daraufhin im Kreise der Kollegen weniger beliebt oder angesehen sein könnte, vielleicht sogar schlechtere Flugpläne bekäme.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, ob Sonia den Gedanken hatte, dass ihre Kollegen und all die anderen Menschen noch leben würden, wenn sie mutiger gewesen wäre, wenn sie die Verantwortung übernommen hätte, den Kapitän angesprochen hätte. Was sind schon Flugpläne?

Sie hält mir bis heute auch jenseits meiner geliebten Flugzeuge vor Augen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, ein gutes Teammitglied, ein guter Follower zu sein. Auch, weil ich ihre Ängste als junge Frau so gut verstehen kann. In meinen ersten Jahren auf Reisen wollte ich vor allem eines: dazugehören!

Vielleicht haben Sie auch schon einmal geschwiegen, geschwiegen aus Angst zum Außenseiter zu werden, nicht mehr gemocht zu werden. Menschlich nachvollziehbar, aber ist es auch verantwortungsvoll gegenüber Kunden, Kollegen, Arbeitsplätzen oder dem Geschäftsmodell?

Das Zusammenwirken von Leadership und Followership

Leadership und Followership sind zwei zentrale Faktoren für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Organisationen. Für eine Balance zwischen beiden Faktoren sind einige Zutaten sehr wichtig:

  • Mitarbeiter müssen beeinflussen können, was sie verantworten sollen.
  • Mitarbeiter müssen selbstständig Entscheidungen treffen dürfen. Dazu müssen Führungskräfte Verantwortung abgeben und Mitarbeitern Freiräume bieten wollen.
  • Und Mitarbeiter müssen psychologische Sicherheit erfahren, d. h. auch sie dürfen Fehler machen.

Unternehmen schaffen oft nicht die nötigen Voraussetzungen, dass Mitarbeiter wirklich Verantwortung übernehmen können. In manchen Organisationen beobachte ich sogar eine Art Pseudo-Verantwortungsübernahme, was mich eher daran erinnert, dass im Vorfeld festgelegt wird, wer schuld ist, wenn etwas schiefgeht. Natürlich kommen Unternehmen nicht umhin, strategische Leitplanken – bspw. durch Compliance-Regeln, Vorschriften und Prinzipien – zu bestimmen, um den Gestaltungswillen der Mitarbeiter in geordnete Bahnen zu lenken, wer aber Entscheidungsräume so eng definiert, dass faktisch gar keine Entscheidungen mit auch nur ein bisschen Tragweite getroffen werden können, braucht sich nicht zu wundern, wenn Mitarbeiter hier nicht zu Followern werden.

Darüber hinaus gilt: Wer Entscheidungen trifft, geht Risiken ein. Doch wer seine Gedanken oder Beobachtungen teilt, wer aktiv agiert, der öffnet die Tür für Reaktionen und Interaktion. Nicht immer muss ein Risiko so elementar sein wie in Sonias Beispiel, nicht immer muss ein Gedanke disruptiv sein, wichtig ist, dass den Beteiligten klar sein sollte, dass man sich idealerweise gegenseitig unterstützt. Selbst wenn jemand für Tee und Kaffee verantwortlich ist, diese Person kann sehr wohl einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen eines Vorhabens oder zur Lösung eines Problems leisten.

Fazit

Die Balance zwischen Leadership und Followership fällt nicht vom Himmel. Es gilt sie zu entwickeln und dazu braucht es in Organisationen

  • eine Kultur, die es ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen,
  • Rahmenbedingung, die es ermöglichen, den Mund aufzumachen, zu sprechen, kritisch sein zu dürfen,
  • und eine Sensibilisierung für die Balance, die allerdings nicht nur von den Führungskräften, sondern auch von Mitarbeitern einiges verlangt.

An einer solchen Balance arbeite ich mit Führungskräften in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Damit Menschen diesen Raum annehmen, der ihnen geboten wird, muss man sie oftmals begleiten und coachen. Es gibt immer Gründe, zu schweigen. Wir befinden uns allerdings in einer Welt, die zunehmend Eigenverantwortung einfordert und es ist nur fair, wenn wir Menschen auf diese Verantwortung vorbereiten, sie sensibilisieren und ein Stück weit an die Hand nehmen.

 

Hinweise:

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Sollten Sie nach diesen Denkanstößen Interesse haben, tiefer in das Thema einzusteigen und Constance Ratazzi-Nelles auf ihrem Weg von der Luftfahrt in die Wirtschaft zu begleiten, besuchen Sie gerne ihren Blog Food for Thought. Hier gibt es jeden zweiten Sonntag neue Impulse rund um das, was Frau Ratazzi-Nelles in Anlehnung an die Luftfahrt Human Factors Consulting nennt.

Impuls - Blog - t2informatik

Constance Ratazzi-Nelles hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Führung von der Luftfahrt lernen

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Constance Ratazzi-Nelles
Constance Ratazzi-Nelles

Constance Ratazzi-Nelles begann ihr ungewöhnliche Laufbahn als (Agile) Coach und Human Factors Consultant in der Luftfahrt, wo sie zunächst als Kabinenbesatzung und schließlich als Human Factors oder Crew Ressource Management Trainer arbeitete. Vor gut drei Jahren machte sie sich mit ihrer eigenen Plattform Impuls nebenberuflich selbstständig, um als Coach, Trainer und Berater die Ansätze des Human Factors Trainings in die Business-Welt zu tragen. Ende 2020 hat sie sich schließlich entschieden, die Luftfahrt nach 21 Jahren zu verlassen, um ausschließlich als (Agile) Coach und Human Factors Consultant tätig zu sein.