Advocatus Diaboli
Advocatus Diaboli: Gegenrede mit guter Absicht
Ein Projektteam arbeitet engagiert an einem neuen Vorhaben. Die Stimmung ist motiviert, alle ziehen an einem Strang, die Idee wirkt stimmig – fast zu gut, um sie infrage zu stellen. Kritik bleibt aus, nicht etwa, weil es nichts zu kritisieren gäbe, sondern weil sich niemand traut, die allgemeine Euphorie zu stören. Was niemand bemerkt: Ein zentraler Aspekt der Planung wurde übersehen. Erst viel später wird klar, dass ein kritischer Blick von außen – oder besser: von innen – gefehlt hat.
Advocatus Diaboli ist Latein und bedeutet wörtlich „Anwalt des Teufels“. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem kanonischen Verfahren der katholischen Kirche: Dort war der Advocatus Diaboli dafür zuständig, Argumente gegen eine Heiligsprechung vorzubringen, um den Kandidaten aufrichtig zu prüfen. [1] Heute beschreibt die Bezeichnung allgemein eine Person, die bewusst eine Gegenposition einnimmt – nicht aus Widerspruchsgeist, sondern mit konstruktiver Absicht. Der Advocatus Diaboli stellt unangenehme Fragen, bringt andere Perspektiven ins Spiel und hilft so, Entscheidungen robuster und durchdachter zu gestalten. Seine Rolle ist unbequem – und oft genau deshalb unersetzlich.
Gründe für einen Advocatus Diaboli
In Teams, Projekten und Organisationen wird häufig großer Wert auf Harmonie, Effizienz und Konsens gelegt. Das wirkt zunächst positiv – schließlich fördern ein gutes Miteinander und schnelle Entscheidungen die Motivation und den Fortschritt. Doch diese Dynamik kann trügen: Wenn kritische Stimmen fehlen, weil sie als störend empfunden werden oder sich niemand traut, Bedenken zu äußern, entstehen gefährliche blinde Flecken. In solchen Situationen wird die Bedeutung des Advocatus Diaboli besonders deutlich.
Ein verbreitetes Phänomen ist bspw. das Groupthink bzw. Gruppendenken. Hierbei unterwerfen sich Teammitglieder einer dominanten Meinung oder einem schnellen Konsens, ohne ihre eigenen Zweifel zu äußern. Der Wunsch nach Einigkeit überlagert das Bedürfnis nach Gründlichkeit – und so werden Risiken übersehen, Einwände unterdrückt und Alternativen nicht ernsthaft geprüft.
Auch das Abilene-Paradox kann zu folgenschweren Fehlentscheidungen führen. Dabei handelt eine Gruppe entgegen der eigentlichen Überzeugung ihrer Mitglieder, weil alle fälschlicherweise annehmen, dass „die anderen“ die Entscheidung unterstützen. Kritik bleibt aus, nicht aus Überzeugung, sondern aus Rücksicht – und der Irrtum wächst sich zur kollektiven Realität aus.
Ein weiteres, besonders in hierarchisch strukturierten Organisationen verbreitetes Phänomen ist der HIPPO-Effekt – benannt nach der „Highest Paid Person’s Opinion“. Die Meinung der ranghöchsten oder am besten bezahlten Person erhält überproportional viel Gewicht, unabhängig von ihrer fachlichen Fundierung. Teammitglieder passen ihre Ansichten oft unbewusst der Autorität an oder halten ihre Einwände zurück, aus Respekt, Unsicherheit oder taktischen Gründen. Das kann zu einer gefährlichen Engführung im Denken führen.
Diese Phänomene haben eines gemeinsam: Es fehlt der Raum für kritische Reflexion. Genau diesen Raum schafft der Advocatus Diaboli. Er unterbricht das kollektive Nicken, stellt die unbequemen Fragen und gibt so der Qualität einer Entscheidung Vorrang vor der Geschwindigkeit ihrer Umsetzung. Dabei geht es nicht um grundsätzlichen Widerspruch, sondern um ein gezieltes Infragestellen – aus konstruktiver Absicht. Eine Perspektive, die unbequem sein kann – aber oft genau das verhindert, was später teuer wird: kollektive Selbsttäuschung.
Tipps für den Anwalt des Teufels
Der Advocatus Diaboli ist keine Person, die ständig dagegenhalten muss – sondern eine Rolle, die bewusst eingenommen oder vergeben wird. Damit sie wirksam ist, braucht es ein Umfeld, in dem Kritik erlaubt und erwünscht ist. Das kann in der strategischen Planung, Produktentwicklung, im Projektmanagement, Requirements Engineering, Recruiting, Marketing oder Vertrieb sein. Überall dort, wo Entscheidungen getroffen werden, hilft er, Annahmen zu hinterfragen und blinde Flecken aufzudecken.
Hier einige Tipps für die praktische Verwendung des Teufels Anwalt:
- Damit der Advocatus Diaboli seine Wirkung entfalten kann, reicht es nicht aus, ihn bloß formal zu benennen. Entscheidend ist, dass die Kultur, in der er agiert, Widerspruch nicht nur duldet, sondern als wertvollen Beitrag begreift. Wer wirklich Raum für Gegenargumente schaffen will, muss tiefer ansetzen – bei Routinen, Rollenbildern und Denkmustern.
- In vielen Teams wird Kritik implizit mit einem Angriff auf den Fortschritt gleichgesetzt: Wer bremst, stört. Um dem entgegenzuwirken, hilft es, Kritik als Teil des Fortschritts zu framen. Zum Beispiel mit Ritualen wie einer „Fehlerfreude“-Runde, in der gezielt nach gedanklichen Stolpersteinen gesucht wird – nicht, um zu bremsen, sondern um Fahrt aufzunehmen, ohne vom Weg abzukommen.
- Statt eine Person als Anwalt des Teufels zu bestimmen, kann ein gesamtes Team regelmäßig Rollen tauschen: Mal übernehmen alle bewusst eine skeptische Perspektive, mal argumentieren sie gegen ihre eigenen Überzeugungen. Dieser Perspektivwechsel lockert festgefahrene Meinungen auf und senkt die Hemmschwelle, Unbequemes auszusprechen.
- Ein häufiger Grund für Schweigen: Alle glauben, sie seien mit ihrer Meinung allein. Tools wie anonymes Stimmungsbilden („Daumen hoch/mittel/runter“), digitale Umfragen oder das schriftliche Einholen erster Reaktionen (z. B. auf Moderationskarten) können helfen, Spannungen sichtbar zu machen – bevor sie sich in Zustimmung tarnen.
- Führungskräfte oder erfahrene Teammitglieder, die offen und wertschätzend widersprechen, setzen ein wichtiges Signal. Wer Kritik mit Humor, Neugier und Respekt vorträgt, zeigt: Man kann widersprechen, ohne den Raum zu vergiften. Und wer dankbar auf Kritik reagiert, gibt die Erlaubnis zum Mitdenken gleich mit.
- Wenn alle zustimmen, ist das kein Zeichen von Klarheit, sondern oft ein Warnsignal. Gute Moderatoren horchen in die Stille hinein: „Was spricht denn gegen diese Idee?“ oder „Welche Perspektive fehlt hier noch?“. So wird Konsens nicht als Ziel, sondern als Prüfstand behandelt.
- In der Hitze der Diskussion kann es schwerfallen, die Gegenposition noch sachlich zu prüfen. Deshalb lohnt es sich, Entscheidungen in zwei Phasen zu strukturieren: erst sammeln, dann hinterfragen. In der zweiten Phase wird explizit zur Gegenrede eingeladen – ohne Zeitdruck, ohne Gesichtsverlust.
Der Advocatus Diaboli ist kein Rollenklischee, sondern ein Denkwerkzeug – flexibel einsetzbar, tiefgreifend wirksam. Wer es schafft, diese Haltung in den Arbeitsalltag zu integrieren, schützt sich nicht nur vor Fehlentscheidungen, sondern fördert ein Teamklima, in dem echte Qualität entsteht: durch Reibung, Reflexion und Respekt.
Impuls zum Diskutieren
In vielen Organisationen gibt es Menschen, die konsequent kritisch denken, unbequeme Fragen stellen und nicht sofort in den allgemeinen Konsens einstimmen. Sie sehen Risiken, wo andere Chancen feiern – und sprechen aus, was andere nur denken. Statt als wertvolle Impulsgeber werden sie jedoch oft als Querulanten, Bedenkenträger oder Störer wahrgenommen.
Warum fällt es so schwer, kritisches Denken als Beitrag und nicht als Widerstand zu verstehen? Und was sagt das über die gelebte Kultur im Unternehmen aus?
[1] Lexikon für Theologie und Kirche: Im ursprünglichen, engeren Sinn bezeichnet der Advocatus Diaboli einen kirchlichen Anwalt, dessen Aufgabe es war, im Rahmen eines Heiligsprechungsverfahrens die vorgebrachten Belege und Argumente kritisch zu hinterfragen oder eigene, negativ belegte Gegenargumente einzubringen. Sein Gegenpart, der die Heiligsprechung befürwortete, war traditionell der sogenannte Advocatus Dei – der „Anwalt Gottes“.
Man spricht auch von der Advocatus-Diaboli-Methode, weil es sich nicht nur um eine Rolle, sondern um eine bewusste Denk- und Gesprächstechnik handelt. Die Methode fördert kritisches Denken, systematisch und konstruktiv.
Hier finden Sie ein Video zum Anwalt des Teufels.
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