Wie lässt sich Führung “ausschnapsen”?
Inhaltsverzeichnis
Was sind Randbedingungen für Selbstorganisation
Die Führungsrolle in der Selbstorganisation
1. Denkanstoß: “Be part of the game” – Reflektieren
2. Denkanstoß: “I’m free to be whatever I…” – Autonomes Handeln zulassen
3. Denkanstoß: Teilhabe – Common Ground finden
4. Denkanstoß: Transparenz – Mit offenen Karten spielen
5. Denkanstoß: Delegation – “House of cards”
All in: Pokerface abnehmen und Teamplayer werden
5 Denkanstöße für kollaborative Führungspersonen und mehr Selbstorganisation im Team
Neulich erzählte mir eine Coachee aus Österreich von einem Problem, das sie zurzeit bis spät in die Nacht wach hält. Die Organisation, in der sie als Teamlead arbeitet, steckt in puncto Agile Transformation noch in den Kinderschuhen und sie steht somit aktuell vor dem selben Problem, das Führungspersonen vielerorts beschäftigt. Unter dem Druck der anhaltenden Pandemie ist es notwendiger denn je, dass Entscheidungen schnell und vor allem dort getroffen werden, wo Kompetenz und Expertise liegen. Tatsächlich ist das selbstorganisierte Arbeiten nicht nur im Agilen Manifest1 verankert – seine Vorteile liegen auch klar auf der Hand.
Meine erschöpfte Coachee fragte mich, ob ich eine Idee hätte, wie sie mit ihrem Team am besten ausschnapsen könne, wann wer welche Entscheidungen übernimmt, also wie sie Verantwortung ins Team geben kann, um den Grad an Selbstorganisation in ihrem Team zu erhöhen.
Für alle Nordlichter: In Österreich ist Schnapsen ein Spiel und etwas ausschnapsen heißt, dass man etwas aushandelt oder vereinbart. Dafür braucht man, wie bei fast jedem Kartenspiel, einen gemeinsamen Tisch. Und den kann man auch im virtuellen Raum kreieren.
“You need to sit at the table, to be part of the discussion.”
Ich möchte an diese Stelle betonen, dass ich diesen Artikel für Führungspersonen schreibe, die bereits agil arbeiten und eine solide Basis an Vertrauen im Team aufbauen konnten. Die sich jedoch fragen, wie sie unter den geänderten Rahmenbedingungen oder Spielregeln, mehr Verantwortung ins Team geben können ohne sie ihnen aufzuzwingen. Deshalb sind es Denkanstöße zum Testen und Ausprobieren, zum Spielen ohne großes Risiko – und keine Erfolgsgaranten.
Was sind die Randbedingungen für Selbstorganisation?
In der besagten Coaching-Session haben wir uns zunächst die Randbedingungen in Erinnerung gerufen, die Selbstorganisation überhaupt entstehen lassen. Der Duden sagt dazu: “Spontane Entstehung, Bildung aus sich selbst heraus, ohne von außen wirkende Faktoren”. Meiner Meinung nach unterschlägt uns der Duden den wichtigsten Teil: die Ordnungsprinzipien bzw. die Randbedingungen. Denn ohne gewisse Spielregeln ist Selbstorganisation nicht möglich. Das ist beim natürlichen Vorbild auch nicht anders. Kristalle entstehen nicht nur nach dem Zufall, die Anordnung und das Zusammenspiel der Moleküle ist einer diskreten Ordnung geschuldet.2 Dabei walten Ordnungsprinzipien und Naturgesetze oder auch Randbedingungen. In diesem Sinne ist eine der Randbedingungen von Selbstorganisation, dass sie spontan ohne Eingriff von Außen entsteht. Eine weitere ist, dass sie einer bestimmten Ordnung folgt und gleichzeitig offen für Emergenz bleibt.
„Wenn mehrere Menschen zusammen sind, haben wir nicht einfach eine Ansammlung von Einzelwesen: es entsteht etwas Neues, Anderes, das ganz eigenen Gesetzen gehorcht.“ (Dr. Elmar Teutsch)
Die Führungsrolle in der Selbstorganisation
Schwenken wir nochmal zurück zur Ausgangsfrage: Wie gelingt der Führung die Challenge hin zu mehr Selbstorganisation, bei gleichzeitig wachsender Verteilung des Teams? Wenn wir der Definition des Dudens folgen, stellt sich die Frage, wo sich die Führung befindet. Außen oder Innen oder wird sie sogar ganz obsolet? Um diesen Fragen näher zu kommen, beginnen wir mit Ihrem eigenen Verständnis von Führung. Denn wer macht denn die Spielregeln, wenn Sie als Führungsperson sie nicht machen?
Das Team schnapst sie sich aus. Dabei wird die Funktion Führung mit jeder Runde “Ausschnapsen” mehr in das Team übertragen und der Grad an Selbstorganisation wird kontinuierlich erhöht. So die Theorie.
Um auch in der Praxis dorthin zu kommen, habe ich Ihnen die folgenden 5 Denkanstöße, mit je einer Übung, für Sie mitgebracht.
Denn mehr Selbstorganisation im Kontext von Agilität bedeutet keinesfalls das Team sich selbst zu überlassen und sich als Führungsperson komplett herauszuziehen. Ein agiles Mindset zu haben bedeutet, sich selbst und sein Handeln regelmäßig zu hinterfragen und zu reflektieren. Auch als Führungsperson und vor allem in Bezug auf den eigenen Anteil.
1. Denkanstoß: “Be part of the game” – Reflektieren
Mehr Selbstorganisation fängt beim Selbst an. Selbstreflexion ist der erste Schritt, den Sie als Führungsperson in der Challenge zu mehr Selbstorganisation üben können.
Hilfreich ist sich zu fragen, welche Rolle Sie spielen möchten. Die Scrum Rollen Schwein und Huhn, die heute nur noch selten Erwähnung finden, weil sich irgendwie niemand gern als Schwein bezeichnen lassen möchte, gehen angeblich auf einen Witz des Scrum-Mitbegründers Ken Schwaber zurück. Demnach wollten ein Schwein und ein Huhn zusammen ein Restaurant eröffnen. Das Huhn schlug vor Ham an’ Eggs auf die Speisekarte zu schreiben, aber das Schwein erhob zu Recht den Einwand, dass das Huhn ja nur involviert wäre, während er, das Schwein, ein echtes Commitment eingehen würde. Der Grund dafür liegt auf der Hand.
“To have skin in the game means that you have a personal stake in the outcome.” Warren Buffett
Es geht in erster Linie um das Mindset. Möchten Sie echte Beteiligung und Commitment? Dann verlangen Sie nichts von ihrem Team, das Sie selbst nicht bereit sind zu tun. Wenn das Team sich weiterbildet und mehr Entscheidungen trifft, können Sie die gewonnene Zeit nutzen, um sich selbst weiterzubilden.
1.1. Übung: “Put your hands together”
Sie und ihr Team können eine Hand pro Person auf einem großen Plakat nachzeichnen lassen und jede(r) schreibt seinen eigenen Anteil hinein. In Bezug auf das committete Ziel: mehr Selbstorganisation, Verantwortung ins Team übertragen (das WAS, das zunächst Sie ins Team gebracht haben). Sie dürfen jetzt schriftlich festhalten, was ihr Anteil daran ist. Also was jede(r) Einzelne beiträgt, um das Ziel zu erreichen. Vielleicht lesen Sie erst den Artikel zu Ende, dann werden Sie sicher vor Ideen sprudeln. 😉
2. Denkanstoß: “I’m free to be whatever I…” – Autonomes Handeln zulassen
An dieser Stelle können wir einen (Gedanken-)vorstoß wagen. Hier geht in erster Linie um die Freiheiten der einzelnen Mitglieder im selbstorganisierten Team. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass selbstorganisierte Teams nicht in luftleeren Räumen existieren, sondern einer diskreten Ordnung folgen. Sie sind in mehr oder weniger agile Organisations-Kontexte eingebunden, wo am Ende der Fahnenstange der CEO sitzt und die Unternehmensziele und das große WAS bestimmt.
Also Autonomie ja, absolute Freiheit nein. Aber nur wer frei ist, kann sein Potenzial maximal entfalten. Und da sind wir wieder bei Selbstreflexion und Weiterbildung. Ein Anfang kann sein: Maximale Freiheit im Weiterbildungsbudget durch die Führung (bspw. Spanisch-Kurs ohne spanische Kunden).
Freiheit bedeutet für mich, “Nein” zu Zwängen und “Ja” zu Möglichkeiten zu sagen.
2.1. Übung: “Selbst am Zug sein”
Nehmen Sie sich einen Stift und ein weißes Blatt. Listen Sie auf, welche Entscheidungen Sie in den letzten Monaten getroffen haben, die Ihnen das Gefühl gegeben haben, dass Sie selbst am Zug sind. Wie hat es sich angefühlt selbstbestimmt Aufgaben zu erledigen? Besprechen Sie im Team wie es den einzelnen Personen damit geht und wie autonom jede(r) arbeiten möchte. Eine Frage, die Sie ins Team geben können ist: “Wie kann es sein, dass wir sowohl integriert als auch autonom in unserem aktuellen Handeln sind?”.3
3. Denkanstoß: Teilhabe – Common Ground finden
Auch bei diesem Denkanstoß geht es um Commitment. Aber nicht von Außen ins Team, sondern innerhalb des Teams. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner ? Ein Ziel, mit dem sich alle Beteiligten identifizieren können. Das Team bestimmt gemeinsam das WIE und das heißt auch, Interesse und Wertschätzung für die Vorschläge und Ideen der anderen zu zeigen. Führung bedeutet auch an der Diskussion von strittigen Punkten teilzuhaben, Gemeinsamkeiten herauszukristallisieren und bei Bedarf die Anforderungen zu präzisieren.
3.1. Übung: Embodied Resonance
Es gibt tatsächlich ganz einfache Körperübungen, mit denen wir in Sekundenschnelle, das Wohlbefinden, das eigene Mindset und die Reaktion auf andere verbessern können. Deswegen können wir über unsere Körperhaltung auch unsere Gefühle beeinflussen.
Versuchen Sie mal folgende Improvisation: “Au ja! üben”- Angebote annehmen auch wenn es im ersten Moment ungewohnt wirkt. Fühlen Sie mal nach, wie sich Ihre Körpersprache dabei verändert und was das mit Ihrer Einstellung zur Aufgabe macht.
Insgesamt ist es eine gute Übung die eigene Körpersprache zu reflektieren. Vor allem im Kontext von virtuellen Gesprächen. Sie können in virtuellen Meetings und Absprachen Blickkontakt halten, und damit zeigen, dass Sie ihr Gegenüber verstanden haben. Schauen Sie mal was für eine Resonanz Sie erhalten.
“When the values of commitment, courage, focus, openness and respect are embodied and lived by the Scrum Team, the scrum pillars of transparency, inspection and adoption come to life and built trust for everyone.” The Scrum Guide
4. Denkanstoß: Transparenz – Mit offenen Karten spielen
Als Führungsperson bestimmen Sie normalerweise das WAS, aber das heißt nicht, dass das mit dem Team nicht ausschnapsbar wäre. Das wichtigste ist hierbei in einen offenen Dialog zu kommen und das WAS transparent zu gestalten. So gewinnt das Team an Vertrauen und Sie werden als Coach ein Teil des Teams und Teil des Innen.
“Model to build dialog.”
4.1. Übung: Backlog handling
Das WAS mit dem Team zu beschreiben und dabei das Gesagte zu visualisieren ist Führungsaufgabe. Ergänzen Sie ihr visuelles Wörterbuch4 täglich und bereichern Sie die iterative Erarbeitung des Backlogs im Team durch ein gemeinsam erzeugtes Bild. Das zahlt auch auf das Common-Ground-Konto des Teams ein.
5. Denkanstoß: Delegation – “House of cards”
Sind Sie bereit loszulassen und sich aufs Spiel einzulassen? Wenn ja, dann wäre die erste Randbedingung für “mehr Selbstorganisation” erfüllt: das Commitment aktiv loszulassen und Führung abgeben zu wollen. Die andere Seite der Medaille ist jedoch, dass das Team diese Verantwortung auch übernehmen möchte.
In meiner Arbeit begegnen mir immer wieder Teammitglieder, die nie gelernt haben, mit Verantwortung umzugehen und oft sogar Angst vor den Konsequenzen ihrer Entscheidungen haben. Führung bedeutet an dieser Stelle einen psychologisch sicheren Rahmen zu schaffen, damit auch sukzessive mehr Entscheidungen von diesen KollegInnen getroffen werden sowie ein gemeinsames Reflektieren der Konsequenzen. Ja, das ist eine herausfordernde aber auch spannende Challenge, die Zeit und Muße braucht – sich jedoch lohnt. In dem Moment, in dem wir über das “Ausschnapsen” sprachen, fiel mir wieder der Delegation Poker ein. Denn auch Delegation will geübt sein.
5.1. Übung: “Delegation Poker”
Dieses von Jurgen Aleppo entworfene Spiel bietet eine Möglichkeit, sich spielerisch mit den verschiedenen Stufen der Delegation von Entscheidungen auseinanderzusetzen. Das Team soll über verschiedene Stufen der Delegation zu mehr Selbstorganisation und Selbstverantwortung ermächtigt werden. Hier finden Sie eine ausführliche ausführliche Anleitung.
Diese Art Entscheidungen spielerisch im Team auszuschnapsen, entlastet sowohl die Führungsperson, als auch die Teams und nicht zuletzt die einzelnen Teammitglieder. Wichtig ist natürlich, dass alle Spaß am Spiel haben. 😉
All in: Pokerface abnehmen und Teamplayer werden
Zurück zu meiner Coachee. Ihr Wunsch war ja mehr Verantwortung ins Team abzugeben, um den Grad der Selbstorganisation zu erhöhen. Eine herausfordernde Challenge für alle Beteiligten.
Aus meiner Erfahrung als Agile Coach und Scrum Master kann ich sagen, dass die Praxis für mehr Selbstorganisation oft an dem Letzten Punkt, der Delegation und der Einstellung der Führungsperson sowie jene einzelner Mitglieder, scheitert. Der erste wichtige Schritt ist deshalb das eigene Führungsverständnis zu reflektieren und der letzte, Führung abgeben zu wollen.
Dazwischen findet das Ausschnapsen statt. Es ist ein Balanceakt, den Sie sich wie eine Art Schieberegler vorstellen können. Je stärker der Common Ground, das Commitment, je mehr Transparenz und der Wille Führung auf verschieden Schultern zu verteilen ist, desto selbtsorganisierter und schneller ist das Team. Am Anfang befindet sich die “Ich-Führung” am anderen Ende die “Wir-Führung” (siehe 1. Grafik).
Ich finde den Gedanken mit der gemeinsamen Challenge auch wichtig. Die Challenge (das WAS) gibt natürlich auch der Product Owner vor. Das WAS, die Challenge anzunehmen und sich zu committen ist dann allerdings Teamsache.
Was sind nun ihre Aufgaben als Führung?
- Begleiten,
- Entwickeln,
- Coachen.
In diesem Zusammenhang passt auch die Idee des Servant Leaderships, die im Agile Leadership die Rolle der Führung neu definiert: Führung spielt nunmehr eine dienende, untergeordnete Rolle. Die Führungsperson in ihrer Rolle als Servant Leader unterstützt und dient dem Team so, dass es seine Aufgaben selbstorganisiert erledigen kann, um das WAS bestmöglich umzusetzen.5
Wenn Sie ernsthaft bereit sind, sich auf das Spiel einzulassen, das Pokerface abzunehmen und sich als ein Teil des Innen zu committen und ein Teamplayer zu werden, können Sie Verantwortung ins Team abgeben, wo es sich, einer diskreten Ordnung folgend, einspielt, selbstorganisiert verteilt. In diesem Spiel übernimmt jede(r) mal die Führung.
Und wenn Sie nicht am Zug sind, dann behalten Sie den Überblick, vermeiden Chaos, schaffen den Rahmen für Spontanität und Emergenz. Schaffen Sie optimale Rahmenbedinungen für ein leistungsstarkes Team, so dass jede(r) einzelne seine größte Wirksamkeit entfalten kann. Durch eine diskrete Ordnung, die gleichzeitig sich selbst trägt und flexibel ist. Ihre wichtigste Aufgabe als Servant Leader ist jedoch einfach: da zu sein.
“Your best ability is your availability.”
Autonomes Fahren bedeutet ja auch nicht, dass der Fahrer nicht anwesend ist. 😉
Viel Spaß beim Üben und falls Sie ihre Erkenntnisse mit mir teilen möchten, freue ich mich auf Ihre Nachricht persönlich im Gespräch und virtuell, ganz nach ihrem Gusto.
Herzliche Grüße,
Nadja Obenaus
Hinweise:
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Beschäftigen Sie sich mit dem Thema Führung? Wollen Sie mit Ihrer Organisation nachhaltig lernen und gleichzeitig Teams befähigen, ins schnelle Liefern zu kommen? Dann sprechen Sie Nadja Obenaus gerne hier an.
[1] Agile Manifest
[2] https://teamworks-gmbh.de/6-regeln-fuer-die-selbstorganisation-von-teams-nach-prinzipien-der-natur-laufen/
[3] https://www.liberatingstructures.de/integratedautonomy/
[4] http://www.visualdictionaryonline.com/communications.php
[5] https://www.agile-academy.com/de/scrum-master/servant-leadership-wie-funktioniert-fuehrung-im-agilen-kontext/
Nadja Obenaus hat drei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Nadja Obenaus
Nadja Obenaus arbeitet seit mehr als 15 Jahren als IT-Beraterin und D-Coach mit internationalen Teams. In ihrem eigens entwickelten D-Coaching Ansatz folgt sie als zertifizierte LeSS-Anwenderin und Genusstrainerin dem Leitspruch „Weniger ist mehr“. Ihre Themenfelder sind gesundes Wachstum, selbstorganisierte Teams und organisationale Resilienz.
Die gebürtige Steiermärkerin ist leidenschaftliche Triathletin und wenn sie sich nicht gerade für die Kinder in der Weekendschool Deutschland engagiert, radelt sie am liebsten durch ihre Wahlheimat Hamburg.