Vorsicht: Fluktuation
Suchen Sie auch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Barkeeper, Pflegekräfte, Friseure, Handwerker, Pizzabäcker, Verkäufer, Softwareentwickler – überall wird Unterstützung benötigt. Jobportale platzen fast aus allen Nähten. Wer heute bspw. auf Stepstone nach “.Net Entwicklung in Berlin” sucht, findet 6.083 Angebote. Längst befinden sich Unternehmen nicht mehr nur im Wettbewerb um Kunden; Arbeitskräfte sind inzwischen ähnlich umkämpft. Das bedeutet für Organisationen, dass jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bereits an Bord sind, immer wichtiger werden. Fluktuation wird zur Gefahr.
Welche Gründe führen zur Fluktuation von Mitarbeitern?
Warum kündigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen? Die Gründe, die zur Fluktuation führen, variieren natürlich. Häufig sind – und das kennen Sie vielleicht sogar aus Ihrem beruflichen oder persönlichen Umfeld – die Vorgesetzten “schuld”.
- Die Erwartungshaltung ist zu hoch oder die Aufmerksamkeit und das Vertrauen sind zu gering.
- Strategische Vorgaben fehlen, Entscheidung werden verschleppt, willkürlich oder sogar falsch getroffen und nur ungenügend kommuniziert.
- Die Wertschätzung fehlt. Und auch das Gehalt ist – vielleicht im Vergleich zu Kollegen – zu niedrig.
- Versprechen und Zusagen werden nicht gehalten.
- Die Arbeitslast ist zu hoch und die Work-Life-Balance stimmt nicht.
- Mitarbeiter werden gebremst, Fähigkeiten und Interessen nicht gefördert.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch zahlreiche Gründe, die zur Fluktuation führen können, die andere Ursachen haben:
- Die Arbeitsbedingungen (Räumlichkeiten, technische Ausstattungen, Arbeitszeitmodelle, Offenheit für Bürotiere, etc.) decken sich nicht mit den Vorstellungen der Mitarbeiter.
- Die Entfernung zwischen Arbeits- und Wohnort ist aufgrund geänderter Lebensrealitäten zu groß, und die Bereitschaft, Homeoffice für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzubieten, zu gering.
- Die Zusammenarbeit mit Kollegen ist schwierig.
- Die persönliche Zukunft ist unklar oder Aufstiegschancen fehlen.
- Die Identifikation mit dem Arbeitgeber ist gering und die Monotonie bei der Arbeit hoch.
- Die wirtschaftliche Prognose des Unternehmens ist schwierig, die Produkte und Services sind nicht gut genug und die Umsätze stagnieren oder sinken. Das Unternehmensimage leidet.
- …
Was kostet der Verlust eines Mitarbeiters?
Vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass der Verlust eines Mitarbeiters, dessen Stelle nach seiner Kündigung wieder besetzt werden soll, bis zu 150 Prozent des Jahresgehaltes kostet.1 Wie diese Zahl zustande kommt, kann ich leider nicht beantworten. Und auch unabhängig davon, wüsste ich nicht einmal, wie ich den Verlust und die in der Folge anfallenden Kosten ausrechnen sollte. Vielleicht
- anhand der fakturierten Arbeitszeit der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters?
- anhand des Gehalts und der geleisteten Sozialabgaben?
- durch eine Betrachtung möglicher Personalbeschaffungskosten, zu denen dann wohl auch
Aufwände zur Definition bzw. Aktualisierung der Stellenbeschreibung,
das Sichten von Jobportalen,
die Selektion entsprechender Kandidaten,
die Anschreiben, Einladungen, Kennenlerngespräche, Reisekosten, mögliche 2. und 3. Runden mit Kolleginnen und Kollegen, sowie Vertragsgestaltungen und -verhandlungen gehören? Evtl. sind drei, vier oder auch acht Runden notwendig, weil es beim ersten, zweiten oder siebten Durchlauf nicht klappt oder passt. - müssen Einarbeitungskosten und eine geringere Leistung zu Beginn der neuen Zusammenarbeit bei gleichzeitig höherem Abstimmungsbedarf ebenfalls berücksichtigt werden?
Und wie sieht es mit Stellenanzeigen, Jobmessen oder Kooperationen mit Headhuntern aus? Es sind so viele Faktoren, die ich schlicht nicht in einer Formel zusammenfassen kann.
Der Verlust von Mitarbeitern sollte jedoch nicht nur eine monetäre Betrachtung nach sich ziehen. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter hat einen individuellen Wert. Für ihr direktes Umfeld, ihr Team und ihre Organisation sind sie im wahrsten Sinne des Wortes wertvoll. Sie fungieren als Mentoren bzw. als Reverse Mentoren, sie sind Stimmungskanonen, sie wirken als kritische Geister oder packen als „Macher“ einfach an. Sie halten sich gegenseitig die Rücken frei, sie sind Ansprechpartner und Vorbilder. Manche sind auch eine Art Kleber, die alles zusammenhalten und Kollegen führen, obwohl sie eigentlich per Rolle keine Führungsaufgabe innehaben. Ein solcher Verlust lässt sich – zumindest mittelfristig – weder einfach kompensieren, auch wenn der eine oder andere Manager in solchen Situationen gerne etwas anderes behauptet, noch kalkulieren.
Was wollen Mitarbeiter? Oder was wollen sie nicht?
Kennen Sie die Fähigkeiten Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Und wie sieht es mit den Fähigkeiten Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus? Immer wieder gibt es Diskussionen um die Bedeutung von Fähigkeiten: Sind fachliche Kenntnisse wichtiger als soziale Skills? Es wird argumentiert, dass die besten fachlichen Fähigkeiten ohne soziale Skills wenig wert sind. Und es wird gesagt, dass sich fachliche Kenntnisse im Gegensatz zu sozialen Verhaltensweisen erlernen ließen.
In der Softwareentwicklung ist es völlig normal, dass Entwickler mit Kopfhörern am Arbeitsplatz sitzen und sich von der Außenwelt – und damit auch von jedem Kollegen, der einfach mal mit einer Frage ins Großraumbüro läuft – abschotten. Im Einkauf, dem Vertrieb oder dem Support wäre ein solches Verhalten eher ungewöhnlich. Laut einer Umfrage von Stackoverflow sagen 81% der weltweit befragten Entwickler, dass sie Programmierung nicht nur als Beruf sondern auch als Hobby sehen.2 Haben Sie das von einem Vertriebler oder Einkäufer schon einmal gehört? Die Identifikation mit der eigentlichen Aufgabe könnte also bspw. bei Entwicklern – trotz möglicher sozialer Eigenheiten – stärker ausgeprägt sein als in anderen Berufsgruppen. Abgesehen davon lässt keine Beziehung zwischen der Qualität einer Entwicklung und der Verwendung von Kopfhörern – und der damit einhergehenden, möglicherweise unsozialen Abschottung – herstellen.
In meiner eigenen beruflichen Vergangenheit durfte ich verschiedene Positionen mit neuen Arbeitskräften besetzen und interessanterweise stand ich nie vor der Überlegung, ob ich lieber einen fachlich gut ausgebildeten, erfahrenden Psychopathen oder einen sympathischen Nichtsnutz einstelle. Es ist selten die Frage nach “entweder oder”, sondern meist eine nach “sowohl als auch”. (Um Missverständnisse zu vermeiden: ich würde mich in diesem Beispiel für den gut ausgebildeten, erfahrenen und sympathischen Kandidaten entscheiden; alle anderen Kombinationen finde ich wenig attraktiv.)
Wenn Sie die Fähigkeiten – fachlich und sozial – nicht kennen, wie interagieren Sie mit Mitarbeiterinnen und Kollegen? Wie kommunizieren Sie mit Ihnen? Woher wissen Sie, was ihnen wichtig ist, was sie wollen oder – und das kann etwas anderes sein – was sie nicht wollen?
Beispiel: Für manche Mitarbeiter ist eine Fehlerkultur im Unternehmen wichtig. Sie setzen sich mit dem Thema auseinander und wünschen sich eine bestimmte Art und Weise mit Fehlern umzugehen, sie zu betrachten und zu bewerten. Für andere Mitarbeiter hingegen ist eine Fehlerkultur nicht wichtig. Doch obwohl sie sich nicht mit dem Thema aktiv auseinander setzen, wollen sie nicht für jeden Fehler direkt an die Wand oder den Pranger gestellt werden, sie wollen sich nicht bis ins letzte Detail rechtfertigen müssen und sie wollen keine Konsequenzen fürchten müssen. Niemand möchte das. Ein solches Verhalten muss zu einer schlechten Stimmung führen – beim betroffenen Mitarbeiter und sehr wahrscheinlich auch bei den Kolleginnen und Kollegen des Mitarbeiters.
Der Gallup Engagement Index3, der jährlich die Arbeitsplatzqualität in deutschen Unternehmen bewertet, geht davon aus, dass 14 Prozent aller Mitarbeiter innerlich gekündigt haben. In vielen Fällen führt eine mangelnde Führungs- und Unternehmenskultur zur inneren Kündigung. Die Kosten für die deutsche Volkswirtschaft beziffert Gallup auf 77 bis 103 Milliarden Euro – wie auch immer dies berechnet wird. Selbst wenn die Spanne von 26 Milliarden Euro auf eine gewisse Varianz der Ergebnisse hindeutet, der Schaden ist immens. Vermutlich lässt sich auch nicht allgemeingültig beantworten, was schlimmer ist: ein Mitarbeiter, der innerlich gekündigt hat, oder ein Mitarbeiter, der die Trennung tatsächlich schon vollzogen hat? Vielleicht lässt sich der innerlich gekündigte Mitarbeiter wieder “positiv reaktivieren”, doch zu welchen Kosten? Ist der Verlust eines Mitarbeiters dann sogar günstiger als der Verbleib?
Quantitative und qualitative Fluktuation
Es gibt ein Maß zur Bestimmung der Fluktuation: die Fluktuationsrate. Sie berechnet sich meist als Verhältnis von Abgänge zu mittlerem Personalbestand * 100. Offensichtlich handelt es sich um eine quantitative Betrachtung.
Grundsätzlich gibt es drei Arten von Fluktuation:
- Die institutionelle Fluktuation. Beispiel: in der Grundschule wechseln normalerweise 100% der Schüler nach der Grundschule in die Mittelstufe, bei internationalen Konzernen wechseln Expatriate (kurz Expats) nach 2 oder 3 Jahren ihren Standort.
- Die natürliche Fluktuation. Beispiel: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen in Rente oder scheiden todesfallbedingt aus.
- Die individuelle Fluktuation. Beispiel: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ein Unternehmen freiwillig verlassen oder denen gekündigt wird.
Die institutionelle Fluktuation und die Anzahl der Mitarbeiter, die altersbedingt ausscheiden, lässt sich leicht bestimmen. Schwierigkeiten macht die individuelle Fluktuation. Und bei genauerer Betrachtung nicht nur im Sinne der Quantität, sondern auch im Sinne der Qualität.
Wer schon einmal in einem Unternehmen tätig war, in dem nach und nach die “guten” Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Unternehmen verlassen haben und die weniger guten an Bord blieben, weiß, dass ein Qualitätsverlust besonders nachhaltig wirkt. Potenziert wird dieser Verlust in einem Unternehmensumfeld, in dem das Finden neuer Arbeitskräfte zu einem Wettbewerb wird. Wenn dann ausgeschiedene Mitarbeiter nicht mehr ganz so wohlwollend in ihrem privaten und/oder beruflichen Umfeld vom ehemaligen Arbeitgeber berichten und in der Folge Schritt für Schritt das Image des Unternehmens leidet, wird die Personalbeschaffung noch schwieriger. Manche Unternehmen antworten in solchen Situationen mit kurzfristigen Mitarbeiterbindungsprogrammen. Diese sichern jedoch bestenfalls den Status quo, helfen aber meist nicht beim Finden von adäquaten, qualifizierten Mitarbeiterinnern und Mitarbeitern. Die Fluktuation greift um sich und im schlimmsten Fall wird aus einer qualitativen auch noch eine quantitative Fluktuation.
Einwand: Warum entlassen zahlreiche Global Player so viele Mitarbeiter?
Wenn individuelle Fluktuation eine Gefahr für Unternehmen darstellt, warum entlassen zahlreiche Global Player in den letzten Monaten so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Bspw. kündigte Microsoft 10.000 Menschen, Google trennte sich von 12.000 und Amazon gar von 18.000 Angestellten. Die Sorge um einen bevorstehenden Zusammenbruch der Technologiebranche macht die Runde.
Möglicherweise hilft bei der Berurteilung dieser Massenentlassungen aus der Ferne ein kleiner Schritt zurück und ein Blick auf die Anzahl der Stellenbesetzungen, die viele Konzerne seit Beginn der Pandemie getätigt haben. Einen solchen Blick finden Sie in der folgenden Grafik:4
Die Grafik zeigt u. a., dass Amazon vom vierten Quartal 2019 bis zum dritten Quartal 2022 ca. 746.000 Menschen eingestellt hat. Microsoft wuchs in diesem Zeitraum um 77.000 und Google um 67.880 Menschen. Vermutlich sehen wir also nicht den Anfang vom Ende für Global Player der Technologiebranche, sondern “lediglich” das Ergebnis ungenügender Planung! Das mag zwar teuer und aufwändig sein, wenn man dann aber weiß, dass Google mehr als 3 Millionen Bewerbungen pro Jahr erhält5, dann kann sich anscheinend so mancher Gigant ein solches Vorgehen leisten.
Fazit
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind – hoffentlich ist dies den allermeisten Unternehmen (und damit auch den Global Playern der Technologiebranche) klar – das Herz eines Unternehmens. Sie bestimmen maßgeblich den Erfolg von Unternehmen. Während bis vor einigen Jahren Fluktuation eher ein Nischenthema für HR-Abteilungen war, das Unternehmen wenig Kopfzerbrechen bereitete, können heute die Folgen weitreichend sein. Für viele Unternehmen geht es oft nicht mehr um Unternehmenswachstum, sondern um die Wahrung des Bestands und Existenzsicherung. Spätestens diese Entwicklung sollte dafür sorgen, dass Unternehmen neben den Kunden auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Beachtung schenken. Und dabei geht es nicht um “entweder oder”, sondern um “sowohl als auch”.
Hinweise:
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[1] Erkenntnis vom National Business Research Institute, Texas, USA: https://www.nbrii.com/
[2] Blogbeitrag über die Umfrage von Stackoverflow: Entwickler 2018 – Motive und Zahlen
[3] Gallup Engagement Index: https://www.gallup.com/de/engagement-index-deutschland.aspx
[4] Yahoo Finance Bloomberg: Tech Companies Laying Off Workers After Pandemic Hiring Sprees
[5] Google received 3.3 million job applications in 2019
Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH