Und er würfelt doch…
Wir schreiben das Jahr 1926. An einem regnerischen Winterabend schreibt Albert Einstein einen Brief an den befreundeten Physiker Max Born. Aus den Zeilen „Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.“ wird später der berühmte Satz „Gott würfelt nicht“.
Aufgrund seiner Ähnlichkeit zum Kriminalhauptkommissar aus der gleichnamigen Krimiserie wird Karl Maier “Der Alte” genannt. Karl ist Geschäftsführer von CoolGrill. Der mittelständische Automobilzulieferer baut Kühler für Autos. Auch Karl Maier würfelt nicht. Denn wenn es um Entscheidungen geht, zählen für den Firmenlenker nur Zahlen, Daten und harte Fakten. Allerdings fallen ihm Entscheidungen in letzter Zeit immer schwerer. Abrufzahlen schwanken in der Krise so stark wie nie zuvor. Für die Prognose, wie viele batteriebetriebene Fahrzeuge in den nächsten Jahren zu erwarten sind, fand er unterschiedliche Aussagen. Und als es um die Frage ging, auf welcher Technologie die nächste Generation eines seiner Produkte basiert, fiel es seinem Entwicklungsleiter schwer, Erfolgswahrscheinlichkeiten der unterschiedlichen Optionen zu benennen.
Lass den Zufall entscheiden
Kopf oder Zahl?
Kürzlich war Karl Maier Zuschauer beim Handballspiel seiner Enkel. Zu Beginn des Spiels bestimmte der Schiedsrichter per Münze welche Mannschaft die Seite wählen darf. In der ersten Halbzeit war Karl nicht so ganz bei der Sache. Am Freitag stellte ihm eine Agentur zwei Optionen für das Re-Design der Firmenwebsite vor. Die Entscheidung fiel ihm schwer. In der Halbzeitpause wurde es ihm dann zu viel. Er kramte eine Münze aus seiner Hosentasche und schnippte sie in die Luft. Kopf für den seriösen Entwurf, der die bisherigen Farben und Grafiken einfach nur in ein zeitgemäßes Layout und Technik überführt. Zahl für das mutige Design mit der frischen Farbpalette und neuem Logo. Als die Münze wieder auf seiner Hand landet, strahlt ihm der Bundesadler entgegen. Enttäuschung machte sich breit und Karl hörte sein Bauchgefühl laut “Trau dich. Nimm das mutige Design!” rufen.
“Cointossfeel” haben wir dieses Phänomen getauft. Der Münzwurf wirkt dabei, wie ein Verstärker für Ihre innere Stimme. Sollte sich die innere Stimme beim Münzwurf übrigens nicht zu Wort melden, macht das übrigens gar nichts. Sie sind trotzdem zu einer schnellen Entscheidung gekommen. Was macht man aber, wenn gerade keine Münze zur Hand ist? Karl war kürzlich in der Mittagspause am Imbissstand. Bratwurst oder Fischbrötchen? Das Kennzeichen des nächsten vorbeifahrenden Autos hat entschieden. Eine ungerade Zahl bescherte ihm ein leckeres Fischbrötchen.
Alea iacta est
Mittlerweile ist Karl Maier auf den Geschmack gekommen, ab und zu den Zufall entscheiden zu lassen. Bei der Entscheidung, welche Produktidee als Nächstes in die Umsetzung kommt, gibt es allerdings 10 aussichtsreiche Kandidaten. Diese 10 Kandidaten werden an einem Nachmittag der Geschäftsführung vorgestellt. Die Projektteams präsentieren Business Cases und zahlreiche weitere Gründe, warum gerade ihre Idee das Unternehmen weiterbringt. Es handelt sich allerdings nur wenig um harte Fakten, sondern vielfach um Prognosen zur Zukunft. Karl Maier und sein Vorstandsteam erbitten sich ein paar Tage Bedenkzeit.
Beim abendlichen Monopolyspiel mit den Enkeln beschert Karl ein 4er Pasch die Schlossallee. Wenn Entscheiden mit der Münze so gut klappt, warum nicht auch mal Würfeln versuchen? Nachdem die Enkel sich ins Bett verabschieden, schnappt er sich nochmal die beiden Würfel. Am nächsten Tag erhält Produktidee #9 den Zuschlag. Erst später fällt ihm auf, dass nicht alle Produktideen die gleiche Chance hatten. Denn bei zwei Würfeln treten manche Zahlen häufiger auf als andere. Beim nächsten Mal wird Karl einfach Pokerkarten nutzen und die Anzahl der Karten gleich der Anzahl der Optionen wählen.
Wer kommt ins Team – Personalauswahl per Los
Bei Personalentscheidungen überlässt Karl Maier allerdings nichts dem Zufall. Als kürzlich der Posten des Vertriebsleiters vakant war, wurden die passenden Kandidatinnen und Kandidaten in Interviews auf ihre Eignung untersucht. In einer gewichteten Entscheidungsmatrix wurden Anforderungen wie Verhandlungsgeschick, klare Kommunikation und Geschäftssinn gewertet. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem erfahrenen Key Account Manager aus dem Unternehmen und der jungen, dynamischen externen Bewerberin. Am Ende entschied sich Karl Maier für den Bewerber aus den eigenen Reihen.
Dabei hätte auch hier der Zufall für eine gute Entscheidung sorgen können. Margit Osterloh, eine Ökonomin an der Universität Zürich, propagiert Managerpositionen per Los zu bestimmen. Beim fokalen Zufallsentscheid wird zuerst ein geeigneter Kandidatenkreis anhand von benötigten Kompetenzen bestimmt. Aus diesem Kandidatenkreis wird dann die Richtige per Los bestimmt. Der positive Effekt dieses Verfahrens wurde durch Experimente an der Universität Zürich bestätigt.
Was soll das bringen?
Denkfehler verhindern
Laut Professor Osterloh eliminiert der fokale Zufallsentscheid den Gender-Gap. Die Entscheidung von Karl Maier für den internen Bewerber als neuer Vertriebsleiter, kann nämlich durch einen Denkfehler beeinträchtigt gewesen sein. Der Gender Bias sorgt unter anderem für stereotype Rollenzuweisungen. Falls Karl Maier dem männlichen Geschlecht mehr Verhandlungsgeschick zuschreibt, mag dies unbewusst den Ausschlag für den internen Bewerber gegeben haben.
Auch bei der Entscheidung für die nächste Produktidee können Denkfehler am Werk sein. Der Status-Quo Bias sorgt dafür, dass Optionen bevorzugt werden, die für die geringste Veränderung sorgen. In Folge entscheidet sich Karl Maier möglicherweise für Produktideen, die näher am bisherigen Produktportfolio sind. Für Umsatzwachstum ist es aber möglicherweise die schlechteste Wahl.
Mit Unsicherheit umgehen
Häufig gibt es Situationen, in denen noch kein Wissen vorhanden ist oder belastbare Daten vorliegen. Im Fall der neuen Website hat Karl Maier keine Fakten, wie viele der Besucher durch einen traditionellen Auftritt angesprochen werden. Natürlich könnte er eine Umfrage unter seinen bisherigen Kunden machen, welche Option sie eher bevorzugen. Das beschert ihm allerdings keine Zahlen, wie viele neue Kunden durch den modernen Auftritt generiert werden können. Außerdem verursacht das zusätzliche Kosten, denn die Daten müssen erstmal besorgt werden.
Auch bei der Entscheidung für eine Produktidee existieren noch keine belastbaren Fakten. Alle Business Cases sind Prognosen. Manch ein Business Case mag vielleicht etwas belastbarer ausfallen, weil man Infos von Bestandskunden hat und nicht so weit in die Zukunft sehen muss. Meist werden nun weitere Daten für die Entscheidung angefragt. Es werden Abfragen bei bestehenden Kunden gemacht, Marktstudien weiter detailliert und Risiken der Umsetzung bewertet. Neben den Kosten für das Beschaffen weiterer Daten fallen allerdings auch indirekte Kosten an. Hier muss ich immer an den Werbespot für ein Geschirrspülmittel denken. Während Villabajo noch schrubbte, wurde in Villariba schon wieder gefeiert. Und während Sie noch Zahlen, Daten und Fakten sammeln, ist ihr Mitbewerber mit einem neuen Produkt schon am Markt. Das kann Sie viel Umsatz kosten.
Schnell entscheiden
Der Zufall hilft also auch schnell zu entscheiden. Ob bei Amazon auch Würfel eingesetzt werden, weiß ich nicht. Schnelle Entscheidungen werden dort allerdings propagiert, wie man aus einem Brief an die Investoren erfährt. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen zwei Arten von Entscheidungen. Die Typ 1 Entscheidung hat signifikante Konsequenzen und lässt sich nicht oder nur sehr schwer rückgängig machen. Die meisten Entscheidungen sind allerdings Typ 2 Entscheidungen. Diese sollen schnell getroffen werden, da sie leicht wieder rückgängig gemacht werden können. Man kann sich Typ 2 Entscheidungen wie eine Drehtür vorstellen, während Typ 1 Entscheidungen Türen mit nur einem Knauf sind.
Warum wird dann nicht mehr per Zufall entschieden?
Die Illusion der rationalen Entscheidung
Auch dafür ist eine kognitive Verzerrung verantwortlich, nämlich der Blind Spot Bias. Man glaubt, dass man frei von kognitiven Verzerrungen ist und vollständig objektiv entscheiden könnte. Doch leider sind nur selten Entscheidungen völlig rational. Selbst wenn ausreichend Daten und Fakten vorliegen, müssen diese meist noch interpretiert und gewichtet werden. Die kognitiven Verzerrungen und Denkfehler haben also noch ausreichend Spiel.
Kontrolle und Macht abgeben
Den Zufall als Entscheidungshilfe zu nutzen, bedeutet aber auch Kontrolle abzugeben. Denn weder Würfel noch Los kennen das Prinzip “Eine Hand wäscht die andere”. Das bekräftigt auch Professor Osterloh, als sie gefragt wird, warum der fokale Zufallsentscheid nicht mehr genutzt wird: “Das Zufallsverfahren reduziert die Macht derer, die bislang entscheiden, deshalb wehren sie sich gegen den fokalen Zufallsentscheid.”
Man kann doch eine millionenschwere Entscheidung nicht per Würfel entscheiden
Selbst wenn die Vorteile einer Zufallsentscheidung auf der Hand liegen, wer würde schon öffentlich zugeben, eine millionenschwere Entscheidung per Zufall zu treffen? Dabei muss man gar nicht all-in gehen. Das Prinzip des leistbaren Verlust aus Effectuation kann hier weiterhelfen. Beschränkt man den Umfang der Entscheidung auf einen Umfang, den man bei einem Scheitern verkraften könnte, ist eine Zufallsentscheidung leicht verkraftbar.
Schauen wir uns ein Beispiel von CoolGrill an. CoolGrill wollte sein Osteuropageschäft ausbauen und ein Vertriebsbüro in Rumänien eröffnen. Bürogebäude, Personalkosten und Betrieb bedeuten für die nächsten 12 Monate eine Investitionssumme von einer Million Euro. So eine Entscheidung wollte Karl Maier nicht mit dem Würfel treffen, denn sie übersteigt seinen leistbaren Verlust um den Faktor 50. Statt Zahlen, Daten und Fakten über unterschiedliche Standorte und Mitarbeiter zu beschaffen, hat er sich eine Liste von freien Vertriebsmitarbeitern in unterschiedlichen Städten erstellen lassen und einen davon per Los ausgewählt.
Soll für alle Entscheidungen der Zufall zu Hilfe kommen?
Sollten nun alle Entscheidungen im Unternehmen per Münze und Würfel bestimmt werden? Typ1 Entscheidungen haben signifikante Konsequenzen und sind nur schwer rückgängig zu machen. Sie wollen also wohl überlegt werden und ich würde die Entscheidung nicht einem Würfel anvertrauen. Auch Typ2 Entscheidungen, bei denen ausreichend Wissen vorhanden ist, können natürlich per Einzel- oder Gruppenentscheid getroffen werden. Außerdem kann ein partizipatives Entscheidungsverfahren dafür sorgen, dass Betroffene die Entscheidung stärker mittragen und unterstützen. Die Vorteile des Zufallsentscheids sind allerdings nicht zu unterschätzen. Trauen Sie sich also ruhig öfter mal Münze, Würfel und Los entscheiden zu lassen. Auch der Alte nutzt das immer öfters. Er würfelt also doch…
Hinweise:
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Mehr zum Thema Entscheidungen, smartem Würfeln und unternehmerische Irrgärten finden Sie im Handbuch der Entscheidungen von Nadja Petranovskaja und Tobias Leisgang.
Tobias Leisgang hat weitere interessante Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Tobias Leisgang
Als CompanyPirate inspiriert Tobias Leisgang auf dem gleichnamigen Blog und in Vorträgen Menschen in Unternehmen neue Wege zu beschreiten. Er ist überzeugt, dass erfolgreiches und nachhaltiges Wirtschaften im 21. Jahrhundert radikale Veränderungen braucht.
Die Unternehmenswelt kennt Tobias bestens aus seiner hauptberuflichen Tätigkeit. Seit November 2018 verantwortet er bei einem globalen Automobilzulieferer Innovation mit externen Partnern – vom Konzern bis zum Startup. Vorher war er 15 Jahre bei einem amerikanischen Technologiekonzern in Rollen vom Entwickler bis zum Leiter System Engineering tätig und hatte dabei Einblick in Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Die Herausforderungen wurden in globalen Teams gelöst.