Tagesform im Berufsalltag

von | 10.10.2024

Ein Gedanke zum Mitnehmen

Tagesform ist der Normalzustand, nicht die Ausnahme. Besonders in der Wissensarbeit sollten Organisationen den Mythos linearer Produktivität hinter sich lassen und Planungsmethoden wählen, die Leistungsschwankungen und reale Unternehmensbedingungen einbeziehen.

Warum Tagesform mehr Beachtung verdient

Ich hatte drei Stunden eingeplant. Vier mit Puffer. Inzwischen war aber schon die sechste Stunde angebrochen und ein Ende war noch nicht in Sicht. Irgendwie wollte es nicht gelingen, die Aufgabe auch nur ansatzweise so umzusetzen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Weder zeitlich noch qualitativ. Dabei hatte mir das Telefon sogar den Gefallen getan, nicht ununterbrochen zu klingeln. Meine Laune war wenig überraschend im Keller und der Frust wuchs von Minute zu Minute.

Kennen Sie auch solche Tage, an denen nichts funktioniert? Schon das Aufstehen fällt schwer, der Kaffee bringt nicht die erhoffte Wirkung und jede Aufgabe, die normalerweise leicht von der Hand geht, fühlt sich wie ein unüberwindbarer Berg an. Im Sport spricht man gerne von der “schlechten Tagesform” – meist als Synonym für Leistungsschwankungen und Niederlagen.

Im Berufsalltag wird die Tagesform selten thematisiert und wenn, dann oft als Zeichen von Schwäche interpretiert. Viele von uns arbeiten in Berufen, in denen konstante Leistung erwartet wird, unabhängig davon, wie wir uns gerade fühlen. Was aber, wenn wir diese Annahme in Frage stellen? Was, wenn Schwankungen in unserer täglichen Leistungsfähigkeit nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind? Und was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir unsere Arbeit planen und mit unseren Kolleginnen und Kollegen kommunizieren?

Tagesform: Ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher Faktoren

Die Wahrheit ist, dass die Tagesform kein Zufall ist. Sie wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die wir zum Teil kontrollieren können, zum Teil aber auch nicht. Schlafqualität, Stressniveau, Ernährung, körperliche Aktivität und sogar das Wetter können darüber entscheiden, ob wir an einem bestimmten Tag zu Höchstleistungen fähig sind oder eher im Überlebensmodus arbeiten.

Darüber hinaus gibt es tiefere, biologische Einflussfaktoren wie den Biorhythmus. Dieser innere Taktgeber bestimmt, zu welchen Tageszeiten wir besonders energiegeladen und produktiv sind – und wann wir eher eine Pause brauchen. Doch in vielen Unternehmen wird auf diese natürlichen Schwankungen kaum Rücksicht genommen.

Hinzu kommen geschlechtsspezifische Aspekte wie der Menstruationszyklus bei Frauen oder die Wechseljahre bei Männern und Frauen [1], die unsere Leistungsfähigkeit über Tage und Wochen, manchmal Monate oder Jahre hinweg beeinflussen. Diese Aspekte werden nicht nur in der täglichen Arbeitsplanung selten berücksichtigt, sondern auch in der Forschung oft vernachlässigt [2].

Die Herausforderung: Ein Standard, der nicht existiert

Eines der größten Missverständnisse in der modernen Arbeitswelt ist die Annahme, dass es eine konstante “normale” Leistung gibt, an der wir uns messen können. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Tage sind so individuell wie Menschen. Unsere Leistungsfähigkeit variiert nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Die Vorstellung, dass wir immer die gleiche Menge an Arbeit in der gleichen Qualität erledigen können, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv.

Diese Missachtung der natürlichen Schwankungen führt oft zu Frustration – sowohl bei uns selbst, weil wir das Gefühl haben, an manchen Tagen “versagt” zu haben, als auch in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass viele gängige Methoden zur Planung der Arbeitsbelastung auf der Annahme beruhen, dass unsere Leistung stabil ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wir sind keine Maschinen und sollten auch nicht so tun.

Bevor wir darüber diskutieren können, wie wir unsere Arbeit besser planen und realistischere Erwartungen an uns selbst und andere stellen können, müssen wir uns über eines im Klaren sein: Tagesform ist kein Ausnahmezustand – sie ist der Normalzustand. Der erste Schritt besteht darin, dies zu akzeptieren und zu verstehen, dass unsere Arbeitsweise diese Schwankungen nicht nur berücksichtigen, sondern aktiv berücksichtigen sollte.

Ein Blick auf die gelebte Praxis im Berufsalltag

In vielen Bereichen der Arbeitswelt ist es üblich, Aufwände zu schätzen und zu planen. Beides basiert meist auf der Annahme, dass die erforderliche Arbeitsmenge in einer fest definierten Zeit erledigt werden kann. Eine Tätigkeit am Fließband, bei der ein bestimmtes Teil in immer gleicher Weise montiert wird, dauert in der Regel immer gleich lange. Hier kann aufgrund von Erfahrungswerten mit hoher Genauigkeit geplant werden. Diese Tätigkeiten sind reproduzierbar, d.h. es gibt nur wenige Variablen, die den Zeitaufwand beeinflussen.

Bei Wissensarbeit ist dies jedoch selten der Fall. Aufgaben wie das Lösen komplexer Probleme oder das Entwickeln kreativer Lösungen beinhalten oft viele unbekannte Faktoren, die die Dauer stark beeinflussen können. Die gleiche Aufgabe kann von Tag zu Tag sehr unterschiedlich lange dauern, abhängig von der Komplexität, dem individuellen Verständnis und der mentalen und emotionalen Verfassung der Person, die die Aufgabe ausführt.

Ergo: Lineare Produktivität in der Wissensarbeit ist ein Trugschluss.

Zeitdruck ist oft eine direkte Folge ungenauer oder unrealistischer Schätzungen. Wird die geschätzte Dauer einer Aufgabe überschritten, entsteht Druck, die Arbeit schneller zu erledigen. Dies führt häufig nicht nur zu einer Verschlechterung der Arbeitsqualität, sondern kann auch die psychische Verfassung weiter verschlechtern, was sich wiederum negativ auf die Produktivität auswirkt.

Bei Wissensarbeit ist Zeitdruck oft besonders schädlich, da kognitive und kreative Prozesse durch Stress nicht beschleunigt werden können. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Vielmehr führt Stress häufig zu einer Blockade, die die Dauer und den Aufwand der Aufgabe weiter erhöht.

Ergo: Zeitdruck ist sehr oft ein schlechter Ratgeber.

Leider berücksichtigen viele gängige Methoden der Aufwandsplanung den Arbeitskontext nur unzureichend. Geplant wird in der Regel auf Basis von Erfahrungswerten und der bestmöglichen Schätzung zum Zeitpunkt der Planung. Was dabei oft übersehen wird, ist die Arbeitsrealität zum Zeitpunkt der geplanten Leistungserbringung. Was passiert, wenn der Chef kurzfristig eine Besprechung zu einem anderen Thema einberuft, die Kolleginnen und Kollegen mehrmals am Tag Hilfe benötigen und das Telefon ununterbrochen klingelt? In solchen Situationen braucht es nicht einmal eine schlechte Tagesform, geplante Zeiten können oft nicht eingehalten werden.

Ergo: Aufwand und Dauer sind zwei Seiten einer Medaille, die im Arbeitskontext getrennt betrachtet werden sollten.

Und es gibt eine ganze Reihe von Techniken, die helfen sollen, das persönliche Zeitmanagement zu verbessern:

  • Die 5-Sekunden-Regel ist z.B. eine Selbstmanagementtechnik, die einen Impuls verstärkt, um vom Denken zum Handeln zu kommen, bevor Einwände dies verhindern.
  • Die Eat-that-Frog-Methode fordert dazu auf, die wichtigste, schwierigste und möglicherweise unangenehmste Aufgabe des Tages – z.B. das Essen eines Frosches – zuerst zu erledigen.
  • Und die Pomodoro-Technik propagiert einen kontinuierlichen Wechsel von 25-minütigen Arbeitsintervallen und 5-minütigen Pausen.

Natürlich kann man jede Technik ausprobieren und entsprechend ins Tun kommen. Was aber, wenn Sie heute keinen Frosch essen wollen, Ihre Einwände so groß sind, dass Sie nicht in 5 Sekunden loslegen können oder ständig Kollegen ins Büro stürmen, so dass 25 Minuten kontiniuerliches Arbeiten illusorisch sind? Dann hilft Ihnen wahrscheinlich keine dieser Zeitmanagement-Methoden.

Ergo: Zeitmanagementtechniken klingen in der Theorie gut, scheitern aber oft in der Praxis.

Ansätze zur Berücksichtigung der Tagesform

Die gute Nachricht ist: Auch wenn die Tagesform unberechenbar und individuell ist, gibt es Ansätze, besser mit ihr umzugehen – sowohl auf der Planungsebene als auch im zwischenmenschlichen Bereich. Es geht nicht darum, Schwankungen zu eliminieren, sondern sie zu akzeptieren und durch flexible Techniken und mehr Einfühlungsvermögen in den Arbeitsalltag zu integrieren.

Es gibt verschiedene Planungstechniken, die weniger starr sind und dennoch eine nachvollziehbare und verlässliche Basis für die Zusammenarbeit bieten. Mit diesen Techniken kann besser auf Leistungsschwankungen reagiert werden, ohne dass der gesamte Projektplan ins Wanken gerät.

  • Pufferzeiten sind ein oft unterschätztes, aber äußerst wirksames Instrument. Durch das bewusste Einplanen von großzügigen Pufferzeiten wird den unvermeidlichen Schwankungen in der Tagesform Rechnung getragen. Puffer sind kein Zeichen von ineffizienter Planung, sondern ein wichtiges Mittel, um Risiken abzufedern und dem Team die Möglichkeit zu geben, auch an weniger guten Tagen effektiv zu arbeiten. Diese Puffer können so gestaltet werden, dass sie nicht das gesamte Projekt verzögern, sondern als Sicherheitsnetz für unerwartete Schwierigkeiten dienen.
  • Das sogenannte 3-Experten-Konzept ist ein Verfahren zur Aufwandsschätzung mittels Expertenbefragung. Drei Experten schätzen unabhängig voneinander den Aufwand einer Aufgabe. Dabei formuliert jede Person eine optimistische, eine pessimistische und eine realistische Aufwandsschätzung. Anschließend werden die Schätzungen diskutiert: Unterschiedliche optimistische Schätzungen sind Chancen, unterschiedliche pessimistische Schätzungen sind Risiken und unterschiedliche realistische Schätzungen sind ein Hinweis auf individuelle Annahmen, die ebenso wie die optimistischen und pessimistischen Schätzungen zu hinterfragen sind. Wenn man die Tagesform in der Planung berücksichtigen will, ist es sicherlich sinnvoll, tendenziell eher die pessimistische Aufwandsschätzung zu verwenden [das sage ich als tendenziell optimistischer Mensch!].
  • Eine flexible Alternative zu starren Planungsmethoden bieten Kanban und das Pull-Prinzip. Statt Aufgaben in festen Zeiträumen zuzuweisen, können die Mitarbeitenden selbst entscheiden, wann sie Aufgaben „ziehen“ und bearbeiten. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Tagesform zu berücksichtigen und Aufgaben dann zu erledigen, wenn sie sich bereit fühlen. In Kombination mit WIP-Limits (Work in Progress), die verhindern, dass zu viele Aufgaben gleichzeitig bearbeitet werden, ermöglicht dieser Ansatz eine fokussierte und ressourcenschonende Arbeitsweise. Es entsteht ein fließender, flexibler Arbeitsprozess, der Raum für Produktivitätsschwankungen lässt.
  • Auch der No-Estimates-Ansatz verzichtet auf detaillierte Schätzungen und setzt auf kontinuierliche Lieferungen. In Verbindung mit der Planung von T-Shirt-Größen (Small, Medium, Large) können Aufgaben grob nach ihrem Umfang kategorisiert werden, ohne den Druck exakter Schätzungen aufzubauen. Dieser Ansatz bietet Orientierung und Flexibilität zugleich, da er durch den Verzicht auf feste Zeitvorgaben Schwankungen in der Tagesform berücksichtigt. So bleibt der Arbeitsfluss flexibel und der Fokus liegt auf der kontinuierlichen Erledigung von Aufgaben ohne starre Deadlines.

Fallen Ihnen noch weitere Ansätze ein, die direkt oder indirekt die Tagesform bei der Planung oder Durchführung von Aufgaben berücksichtigen?

Fazit

Die Tagesform ist kein Makel, sondern ein ganz normales Phänomen, das jeden Menschen betrifft – nur in unterschiedlichem Ausmaß und zu unterschiedlichen Zeiten. Es ist wichtig, sich selbst und anderen gegenüber zu akzeptieren, dass nicht jeder Tag gleich produktiv sein kann. Durch ein besseres Verständnis der eigenen Leistungskurve und der Faktoren, die sie beeinflussen (wie Schlaf, Ernährung oder Stress), können wir realistischere Erwartungen an uns selbst und andere entwickeln.

Manche Menschen sind morgens am produktivsten, andere arbeiten am besten nachmittags oder abends. Auch hormonelle Schwankungen oder gesundheitliche Faktoren beeinflussen die Tagesform. Diese Schwankungen sollten als normal und nicht als Schwäche angesehen werden. Es geht darum, diese Unterschiede zu akzeptieren und offen zu kommunizieren.

Um mit natürlichen Leistungsschwankungen besser umgehen zu können, sollten Organisationen Planungsmethoden einsetzen, die flexibel genug sind, um diese Variabilität zu integrieren. Großzügige Pufferzeiten, pessimistische bzw. zurückhaltende Schätzungen und Pull-Prinzipien helfen, Chancen und Risiken in der Planung besser auszubalancieren.

Und zu guter Letzt ist Empathie im Umgang mit der Tagesform ein wichtiges Element – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber den Kolleg:innen. Wenn wir verstehen, dass es völlig normal ist, an manchen Tagen oder Situationen weniger leistungsfähig zu sein, und offen darüber sprechen, schaffen wir ein Arbeitsumfeld, das auf gegenseitigem Verständnis und Unterstützung basiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass Teams, die Raum für Schwankungen lassen und sich gegenseitig respektieren, langfristig nicht nur zufriedener, sondern auch produktiver sind.

 

Hinweise:

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[1] Männer in den Wechseljahren: Symptome, Mythos, Behandlung
[2] Menopause: Die Folgen lückenhafter Forschung in der Frauengesundheit

Michael Schenkel hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing - da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen - bspw. hier im Blog - anzubieten. Wenn Sie Lust haben, verabreden Sie sich mit ihm auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen; mit Sicherheit freut er sich darauf!