Scrum als Grundlage für „Neues Lernen“

Gastbeitrag von | 31.01.2019

Vor ein paar Wochen fand in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel der sogenannte Medienkompetenztag statt. Organisiert wurde er vom IQSH, dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein. Im Rahmen eines Vortrages wurden den anwesenden Lehrer*innen Ideen für ein „Neues Lernen“ mit digitaler Medienunterstützung vorgestellt. Die Zuhörer*innen teilten sich in der Diskussion schnell in zwei Lager: Diejenigen, die sich fragten, ob es tatsächlich einen Unterschied mache, wenn man eine Arbeitsaufgabe auf Papier vor sich liegen habe oder auf einem Tablet und diejenigen, die der Mediennutzung zwar durchaus positiv gegenüber standen, sich aber fragten, ob nicht nur die „guten“ Schüler in der Lage wären, mit dem neuen Lehrmethoden umzugehen. Besonders interessant dabei: die Anwesenden waren mehrheitlich der Generation Y oder den sog. Digital Natives zuzuordnen, einer Altersgruppe also, die grundsätzlich keine Scheu vor digitalen Medien haben sollte, oder?

Schließlich brachte einer der Vortragenden die Herausforderung für heutige Lehrende auf den Punkt mit der Frage: Ist eine Abiturprüfung im heutigen Stile noch zeitgemäß, bei der das erworbene Wissen von 2-3 Jahren in Einzelleistung reproduziert wird?

Die Halbwertzeit des Wissens beträgt heute nur noch 3 Jahre, d.h. das in der Abiturprüfung abgeprüfte ist im gleichen Moment irrelevant, sollte es nicht zukünftige Anknüpfungspunkte haben. Viel erfolgskritischer als das „Know-what“ ist

  • die Teamarbeit, Kooperations- und (iterative) Anpassungsfähigkeit an eine sich immer schneller wandelnde Umwelt (durch Globalisierung und Wettbewerb).
  • die Fähigkeit lebenslang zu lernen, um sich den immer schnelleren Veränderungszyklen anzupassen und aus dem immer komplexer werdenden Datenstrukturen diejenigen Informationen herauszufiltern, die im speziellen Kontext „good to know“ sind.

Es kommt also auf das „Know-how“ an.

Innovation/Lernen durch Kombination und Kooperation

In der heutigen Wissensgesellschaft ist es jedem von uns direkt einleuchtend: Es ist gar nicht möglich, alles selbst zu lernen bzw. zu können (bei der Geschwindigkeit, mit der neue Prozesse, Organisationsformen, Apps und Software entstehen), man muss sich vielmehr mit anderen vernetzen, die Kompetenzen bündeln und wissen, woher man die Information oder Unterstützung bekommen kann. Immer dann, wenn Menschen kollaborieren, ihre Ideen austauschen und gemeinsam etwas Neues schaffen, entsteht positive Energie und ein Nährboden für intrinsische Motivation. Im Grunde funktioniert das System immer dann, wenn alle Beteiligten offen sind für die Idee des „Wissen teilen ist Macht“. Wenn jeder Beteiligte die Möglichkeit hat, sich in bestimmten Situationen als Kompetenzträger zu etablieren, dann entsteht Neues und Innovatives, das die Gruppe und jeden einzelnen weiterbringt.

In Organisationen gehört dazu die Erkenntnis, dass ein kompetenzorientiertes Miteinander am besten hierarchiefrei funktioniert, weil dann die hierarchische Position der Wertschätzung der Kompetenzen der/s Anderen nicht mehr im Wege steht.  In der Schule gehört dazu ein wertschätzender Umgang mit den Kompetenzen der (im herkömmlichen Sinne) schlechteren Schüler.

Wertschätzung im Scrum-Team / Bedürfnis nach Verbundenheit

Genau diese Idee steckt auch im Scrum-Framework: Mut, Offenheit, Respekt, Vertrauen und Commitment sind die relevanten Werte bei Scrum, die alle zusammen die Relevanz von Wertschätzung transportieren. Geschieht das authentisch, funktioniert die Teamarbeit gut, da wir Menschen mit einem natürlichen Bedürfnis nach Verbundenheit auf die Welt gekommen sind. Wir wollen uns dazugehörig fühlen und ein Teil von etwas größerem sein. Eine solche Verbundenheits-„Dusche“ in regelmäßigen Abständen ist auch für eine gesunde Gehirnentwicklung immanent, wie wir heute aus der Hirnforschung wissen [Ebeling, Martin (13.01.18)].

Für unsere Wahrnehmung ist nicht nur die aktuelle Kommunikation / Interaktion relevant ist, sondern auch die bisherige Sozialisation und die Erfahrungen [Luhmann, N. (1984)] der Individuen, denn nur auf Basis ihrer Sinnraster können Individuen kommunizieren. Wir Erwachsenen sind in dieser Hinsicht „gebrannte Kinder“. Wir haben gelernt, vorsichtig zu agieren und in Teams immer mit einer/m Opportunistin/en zu rechnen oder wir spüren die implizite Hierarchie, die trotz aller Lippenbekenntnisse im (Scrum-)Team besteht. Ein Grund, warum Konzepte wie z.B. WorkingOutLoud (#WOL) heute eine so starke Anziehungskraft haben: die authentische Verbundenheits-Dusche ohne Risiko.

Junge Menschen hingegen haben noch nicht so viele prägende Erfahrungen gemacht und sind auch aufgrund ihrer noch ausgeprägten fluiden Intelligenz in der Lage, sich schnell auf das neue Framework einzustellen.

Scrum als Lern-Framework

Die jungen Erwachsenen werden auf Basis von Scrum selbst aktiv, setzen sich ihre Ziele und arbeiten hands-on in selbstorganisierten Teams. Die Lernenden werden dabei aktiv in den Prozess eingebunden und bringen ihre Erschließungskompetenz mit ein. Die Lehrkräfte fungieren nur als Entwicklungsarrangeur für die ersten Schritte. Sie schaffen eine lernanregende Umwelt mit einer Portion pädagogischer Gelassenheit und Humor. So wird zum Beispiel bei #EDUSCRUM, entwickelt von Willy Wijnands, die Definition of Done durch eine Definition of Fun ergänzt und die Events Sprint Review und Sprint Retrospective werden im Rahmen eines Sprints (hier einer Unterrichtseinheit) immer am Ende eines erreichten Lernabschnittes, quasi eines Mini-Sprints durchgeführt. Die Lehrkraft nimmt die Rolle des Product Owner ein und bestimmt, welche Bestandteile des Product Backlog (Lehrplan) in das Sprint Backlog übergehen. Zusätzlich unterstützt die Lehrkraft als eine Art Scrum Master die Teamentwicklung der Schülerteams. Zusätzlich gibt es die Rolle des Scrum Masters in den jeweiligen Schülerteams, die mit der Hilfe der Lehrkraft nach und nach lernen, die Teammitglieder so zu unterstützen, dass sie die Werte wie Mut, Offenheit, Respekt, Fokus und Commitment verinnerlichen. Langfristig werden auf diese Weise kontinuierliche und partizipative Prozessen entwickelt, die die Qualifizierung und Kompetenzentwicklung im Arbeitsprozess integriert unterstützen.

„Neues Lernen“ mit digitalen Medien

Die aktuelle JIM-Studie von 2017 zeigt, dass 97 % der 12-19-Jährigen ein eigenes Smartphone besitzen und damit täglich das Internet nutzen, Musik hören oder Videos schauen. Laut der Studie nutzen sie zudem täglich ca. 45 Minuten lang das Internet, um sich Informationen für die Schulaufgaben zu beschaffen [JIM-Studie (2017)]. Dieser recht hohe Wert der Nutzung der privaten Systeme hängt mit der mangelhaften Ausstattung der Schulen zusammen, die in Deutschland nur bei einem Wert von 11,5 zu 1 liegt, d.h. 12 Schüler*innen teilen sich einen Computer. Zudem nutzt nur ein geringer Teil der Lehrkräfte die digitalen Medien, erstaunlicherweise im mathematischen Bereich am seltensten mit 29 % [Bos et al (2014)].

Dabei wird in der Logik des SAMR-Modells von Ruben Puentedura [Puentedura (2006 & 2012)] oftmals nur substituiert (Substitution) ober vielleicht erweitert (Augmentation). Nur sehr selten kommt es zu anstelle der Verbesserung des Lernsettings zu einer Umgestaltung durch Abwandlung (Modifikation) oder Neugestaltung (Redefinition). Ein Beispiel: Ein Arbeitspaket wird auf einem digitalen Medium angeboten (S) und der geschriebene Text wird durch verlinkte Audio- und Videodateien (A) angereichert und dadurch verbessert. Umgestaltet wird es, wenn es im Rahmen einer Website auf eine Lernplattform angeboten wird (M) bzw. durch eigene Auswahl variiert bzw. auf ein individuelles Ziel ausgerichtet wird (R).

Soll jedoch der Einsatz digitaler Medien in einen Lernerfolg münden, belegen unterschiedliche Studien (Hattie 2009, Herzig 2014 und OECD 2015), dass es u.a. besonders wichtig ist, dass die Schüler*innen den Lernprozess selbst kontrollieren und eine optimierte Kollaboration auf Augenhöhe realisieren. Dadurch wird das Verbundenheitsgefühl gestärkt, eine „Lerngruppen“-Teamidentität entsteht. Wenn zusätzlich noch unterschiedliche Lernkanäle (visuell, auditiv, haptisch) angesprochen werden, ist der Lernerfolg umso nachhaltiger.

Erneut ist im Fokus das, was Agilität und insbesondere Scrum ausmacht:

  • Selbstorganisation,
  • Iterative Adaption an Umweltkomplexität (Problemlösungskompetenz),
  • Kollaboration auf Augenhöhe,
  • Transparenz, Respekt und Wertschätzung.

 

Fazit

Als Fazit bleibt festzuhalten: Scrum u.a. mit dem Framework des EDUScrum liefert in vielen Kontexten eine sehr sinnvolle Grundlage für „Neues Lernen“. Das bietet zudem den Vorteil, dass dieses etablierte Framework umfassend erprobt und getestet ist. Es gibt viele gut funktionierende und schlanke Prozesse sowie Praktiken, die mit Sicherheit für den Lehrbetrieb adaptiert werden können. Dennoch gilt: auch neues Lernen funktioniert nur, genauso wie Scrum-Team-Arbeit, wenn die dahinter stehenden Werte authentisch gelebt werden und bei einen Beteiligten (inklusive der Lehrkräfte) ein entsprechendes Mindset existiert.

 

Hinweise:

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Bos et al. (2014): ILCILS 2013. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann Hattie, John (2009): Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. New York: Routledge
Herzig, Bardo (2014): Wie wirksam sind digitale Medien im Unterricht? Bielefeld: Bertelsmann Stiftung. https://www.theschooloflife.com/berlin/blog/selbstliebe-und-verbundenheit-mit-anderen-interview-mit-dr-martin-ebeling/
Luhmann, N. (1984) Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt (Main): Suhrkamp Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2017): JIM-Studie. Stuttgart: MPFS
OECD (2015): Students, Computers and Learning. Making the connection. PISA, OECD Publishing Puentedura, Ruben R.: Transformation, Technology, and Education (2006). http://hippasus.com/resources/tte/ (abgerufen am 07.01.19) sowie Puentedura, Ruben R.: Focus: Redefinition (18.06.2012).
http://hippasus.com/blog/archives/68, abgerufen am 07.01.19

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Barbara Hilgert
Barbara Hilgert

Barbara lebt in Schleswig-Holstein und arbeitet in Berlin & Lübeck. Sie ist agile Coach, berät kleine und mittelständische Unternehmen zur Thematik der digitalen Transformation und hat viel Know-how in den Bereichen Teamentwicklung und (New) Learning. „Wissen teilen ist Macht“ ist nicht nur ihre Lebensmaxime, die Entwicklung dieses Mindsets ist auch das Ziel ihrer Beratungen und Qualifizierungen: Die Ausbildung eine der Kernkompetenzen für die Zukunft der Arbeit  und eine wichtige Voraussetzung für die kollaborative Netzwerkarbeit und „Neues Lernen“.