Das Prinzip des leistbaren Verlustes

von | 27.06.2024

In einer Welt, die von ständigem Wandel und einer Ungewissheit geprägt ist, haben traditionelle Planungs- und Entscheidungsprozesse oft Schwierigkeiten, mit der Dynamik Schritt zu halten. Hier kommt das Konzept der Effectuation ins Spiel, das von der Unternehmerin und Forscherin Saras D. Sarasvathy entwickelt wurde. Eines der zentralen Elemente von Effectuation ist das Prinzip des leistbaren Verlustes. Statt sich auf die Maximierung potenzieller Gewinne zu konzentrieren, legt dieses Prinzip den Fokus darauf, wie viel Verlust man sich leisten kann, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen.

Was ist Effectuation?

Abraham Lincoln soll einmal gesagt haben: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu erschaffen.“

Effectuation folgt diesem schönen Gedanken, indem es Unternehmer unterstützt, Entscheidungen zu treffen, insbesondere in Situationen, in denen die Zukunft ungewiss ist und sie nicht alles kontrollieren können. Ungewissheit entsteht, wenn niemand genau vorhersagen kann, was als Nächstes passieren wird.

Der Effectuation-Ansatz ist ein Ergebnis der globalen Entrepreneurship-Forschung unter der Leitung von Professor Saras D. Sarasvathy¹. Er befasst sich mit den ökonomischen Aspekten von Unternehmensgründungen als Reaktion auf erkannte Marktchancen sowie mit Unternehmensgründern, die ein persönliches Kapitalrisiko eingehen. Im Gegensatz zu traditionellen kausalen Ansätzen, die auf Vorhersage und langfristiger Planung basieren, konzentriert sich der Ansatz darauf, die Ressourcen und Mittel, die man zur Verfügung hat, kreativ zu nutzen, um Ziele zu erreichen und neue Möglichkeiten zu entdecken.

Die zentralen Prinzipien von Effectuation sind²:

Mittelorientierung

Unternehmer beginnen mit den Mitteln, die sie bereits haben – ihren Fähigkeiten, ihrem Wissen und ihren Netzwerken – und überlegen, was sie damit erreichen können. Anstatt sich auf ein festes Ziel zu konzentrieren, sind sie offen für verschiedene Möglichkeiten, die sich aus den vorhandenen Ressourcen ergeben.

Umstände und Zufälle nutzen aka Lemonade-Prinzip

„When life gives you lemons, make lemonade“ heißt eine englische Redewendung. Aus schwierigen und unerwarteten Situationen das Beste zu machen, also aus sauren Zitronen süße Limonade zu produzieren, beschreibt eine zentrale Einstellung von Unternehmen, die unerwartete Ereignisse und Unsicherheiten als Chancen ansehen. Sie sind bereit, ihre Pläne zu ändern und sich an neue Gegebenheiten anzupassen, um innovative Lösungen zu finden.

Partnerschaften

Unternehmer suchen aktiv nach Partnerschaften und Kooperationen. Durch Partnerschaften können Unternehmen ihre eigenen Ressourcen mit denen ihrer Partner kombinieren. Dies ermöglicht den Zugang zu zusätzlichen finanziellen Mitteln, Know-how, Netzwerken und anderen wichtigen Ressourcen, die sie allein möglicherweise nicht zur Verfügung hätten. Zudem helfen Partnerschaften, das unternehmerische Risiko zu verteilen; sind mehrere Parteien in ein Projekt involviert, trägt jeder Partner einen Teil des Risikos, was die finanzielle Belastung für den einzelnen Unternehmer reduziert.

Leistbarer Verlust

Anstatt auf den maximalen Gewinn zu setzen, überlegen Unternehmen, wie viel Verlust sie sich leisten können und wollen. Schauen wir uns dieses Prinzip etwas genauer an.

Wie viel Verlust können Sie sich leisten?

In vielen Bereichen sind mittel- und langfristige Planungen nach wie vor sinnvoll. Der Bau von Brücken, Autobahnen oder Flughäfen, die Durchführung von Forschungsprojekten in der Pharmaindustrie oder die Entwicklung von Produkten in der Luft- und Raumfahrt erfordern oft jahrelange Vorbereitungen. Und es gibt Bereiche, in denen solche Planungen nicht mehr funktionieren, weil sich Märkte, Marktteilnehmer oder Verbraucherpräferenzen schnell ändern. Hier kann das Prinzip des leistbaren Verlustes helfen, aus Erfahrungen zu lernen und flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren.

Das Prinzip des leistbaren Verlustes besagt, dass Unternehmer und Entscheidungsträgerinnen sich darauf konzentrieren sollten, wie viel Verlust sie sich leisten können, ohne ihre finanzielle Stabilität oder ihren operativen Spielraum zu gefährden. Anstatt auf große, aber unsichere Gewinne zu spekulieren, wird der mögliche Verlust kalkuliert und kontrolliert.

Und wie bestimmen Unternehmen, wie viel Verlust sie sich leisten können? Unternehmen bestimmen, wie viel Verlust sie sich leisten können, basierend auf einer Vielzahl von Faktoren, die stark von ihrem spezifischen Geschäftskontext abhängen. Diese Faktoren können je nach Größe des Unternehmens, der Branche, in der es tätig ist, bisherigen Erfahrungen und der Art des Projekts, das sie verfolgen, variieren. Hier sind einige Schlüsselüberlegungen:

  • Kleinere Unternehmen haben möglicherweise begrenzte finanzielle Ressourcen und daher eine niedrigere Toleranz für Verluste im Vergleich zu größeren Unternehmen mit tieferen Taschen. Sie könnten sich daher weniger Verluste leisten können, bevor ernsthafte finanzielle Probleme entstehen.
  • Bei spezifischen Projekten könnte das Unternehmen bereits ein vordefiniertes Budget haben, das für solche Zwecke zur Verfügung steht. Dieses Budget könnte aus früheren Erfahrungen, Branchenstandards oder strategischen Prioritäten abgeleitet sein.
  • Die Risikotoleranz eines Unternehmens wird stark von seiner Unternehmenskultur beeinflusst. Einige Unternehmen sind eher bereit, höhere Risiken einzugehen, um Wachstum und Innovation voranzutreiben, während andere eher konservative Ansätze bevorzugen und Verluste auf ein Minimum beschränken möchten.
  • Die aktuellen Marktbedingungen und das Wettbewerbsumfeld können ebenfalls die Entscheidungsfindung eines Unternehmens beeinflussen. In einem wettbewerbsintensiven Markt werden Unternehmen möglicherweise mehr Risiken eingehen müssen, um sich von der Konkurrenz abzuheben und Marktanteile zu gewinnen.

 

Und wie viel Verlust wollen Sie sich leisten?

In der Praxis lässt sich immer wieder beobachten, dass die Frage „Wie viel Verlust können Sie sich leisten?“ durch die Frage „Wie viel Verlust wollen Sie sich leisten?“ ergänzt wird. Die erste Frage bezieht sich vor allem auf  die finanziellen Möglichkeiten und die tatsächliche Kapazität eines Unternehmens, Verluste zu absorbieren, ohne in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Die zweite Frage rückt die bewusste Entscheidung in den Fokus, Risiken einzugehen und dadurch Chancen wahrzunehmen.

Natürlich muss ein Unternehmen seine aktuellen finanziellen Reserven und Liquiditätsquellen kennen, um Spielräume zu nutzen, ohne die laufenden Geschäftsaktivitäten zu gefährden. Darüber hinaus determinierten bspw. der eigene Anspruch oder die Position am Markt die Antwort auf die zweite Frage:

  • Unternehmen, die sich als Innovationsführer positionieren möchten, können höhere Risiken eingehen, um neue Technologien zu entwickeln oder neue Märkte zu erforschen. Diese Bereitschaft kann dazu führen, dass ein Unternehmen bewusst höhere finanzielle Risiken eingeht, um seine Innovationsagenda voranzutreiben.
  • Unternehmen, die aggressiv wachsen wollen, können bereit sein, größere Risiken einzugehen, um neue Märkte zu erschließen oder innovative Produkte zu entwickeln. In solchen Fällen könnte das Management bereit sein, vorübergehende Verluste hinzunehmen, um langfristige Wachstumschancen zu nutzen.

Kurzum: Je nach strategischen Zielen und Wettbewerbsumfeld kann ein Unternehmen entscheiden, wie viel finanziellen Spielraum es sich leisten kann, um seine Position im Markt zu stärken oder zu verteidigen. In jedem Fall ist es wichtig, dass ein Unternehmen eine ausgewogene Entscheidung trifft, die seine spezifische Situation, Ziele und langfristigen Interessen berücksichtigt. Es gilt eine Balance zwischen den finanziellen Möglichkeiten und den strategischen Zielen zu finden. Die finanziellen Möglichkeiten bestimmen, wie viel Verlust ein Unternehmen praktisch ertragen kann, während die strategischen Ziele bestimmen, wie viel Verlust das Unternehmen bereit ist, in Kauf zu nehmen, um langfristige Ziele zu erreichen oder Wachstumschancen zu nutzen.

Fazit

Das Prinzip des leistbaren Verlusts basiert auf der Annahme, dass es sicher ist, Risiken einzugehen, solange die potenziellen Verluste kontrollierbar und tragbar sind. Dies steht im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen, bei denen Risiken oft entweder vollständig vermieden oder nur bei erwarteten hohen Gewinnen eingegangen werden. „Wie viel Verlust können Sie sich leisten“ und „Wie viel Verlust wollen Sie sich leisten?“ sind dabei zwei sehr nützliche Fragen, die helfen, Entscheidungen zu treffen, um Risiken bewusster einzugehen. Zudem fördern sie eine Kultur des Experimentierens und Lernens; Unternehmen können neue Ideen ausprobieren, ohne Angst vor großen Verlusten zu haben. Dies senkt die Eintrittsbarriere für Innovation und ermöglicht es, schnell auf Marktveränderungen zu reagieren, was besonders vorteilhaft in dynamischen und unsicheren Märkten ist.

Wann nutzen Sie das Prinzip des leistbaren Verlustes das erste Mal?

Extra-Bonus

Hier finden Sie 3 zusätzliche Fragen über das Prinzip des leistbaren Verlustes, die Michael Schenkel beantwortet (bitte auf Plus drücken):

Lässt sich das Prinzip des leistbaren Verlustes auch auf Rollen oder Tätigkeiten anwenden?

Michael Schenkel: Ja, das Prinzip gilt nicht nur für Projekte oder Entwicklungen, es lässt sich auch auf Rollen und Tätigkeiten anwenden.

Lohnt sich bspw. der Einsatz einer Social Media Expertin oder benötigen Sie einen Feel-Good-Manager? Oftmals lassen sich solche Fragen nicht eindeutig beantworten, da mögliche Erfolge nicht klar zuordnen oder zu quantifizieren sind. Hier hilft das Prinzip, einen anderen Aspekt in den Fokus zu rücken: Sind mögliche Verluste durch die Beschäftigung einer Person oder die Einführung einer Rolle tragbar? Ist die Antwort ja, steht einer Beschäftigung nichts im Wege.

Erlaubt das Prinzip, getroffene Entscheidungen später zu revidieren oder anzupassen?

Michael Schenkel: Das Prinzip des leistbaren Verlusts erlaubt es, getroffene Entscheidungen im Hinblick auf die Akzeptanz von Verlusten später zu revidieren oder anzupassen. Dies liegt daran, dass das Prinzip auf der Annahme basiert, dass Verluste nur in einem Rahmen akzeptiert werden, der für das Unternehmen finanziell tragbar ist. Wenn sich die Umstände ändern oder neue Informationen verfügbar werden, kann das Unternehmen seine Entscheidungen überdenken und die Grenzen des leistbaren Verlusts neu definieren.

Ein Beispiel könnte sein, dass ein Unternehmen zu Beginn eines Projekts entscheidet, einen bestimmten Betrag in die Entwicklung eines neuen Produkts zu investieren und diesen Verlust in Kauf zu nehmen. Wenn sich jedoch während des Projekts herausstellt, dass die Marktchancen besser oder schlechter sind als ursprünglich angenommen, kann das Unternehmen seine Entscheidung anpassen, indem es entweder mehr investiert oder das Projekt stoppt, um größere Verluste zu vermeiden.

Diese Flexibilität ist ein zentraler Vorteil des Prinzips des leistbaren Verlusts, da es Unternehmen ermöglicht, dynamisch auf Veränderungen zu reagieren und ihre Ressourcen effizienter zu nutzen.

Wo findet sich das Prinzip des leistbaren Verlustes in der Softwareentwicklung?

Michael Schenkel: Es gibt verschiedene Ansätze und Vorgehensweisen, die indirekt das Prinzip des leistbaren Verlustes nutzen. Gemeinsam haben diese Ansätze, dass sie iterativ vorgehen, kontinuierlich Feedback nutzen und somit jederzeit Anpassungen im Vorgehen oder in der Entwicklung vornehmen oder gar eine andere Fortschrittsentscheidung treffen können.

Hier einige Beispiele:

Scrum ist ein Framework für die Entwicklung von Software, Produkten und Dienstleistungen. Es beschreibt ein inkrementelles, iteratives und empirisches Vorgehen und definiert den Sprint als ein zentrales Element. Der Sprint ist eine zeitlich definierte Iteration von gleichbleibender Dauer, mit ähnlichen oder sogar gleichen Handlungen, und dem Ziel, eine definierte Lösung zu realisieren. Das Risiko einer Fehlentwicklung und damit ein möglicher Verlust wird durch die Sprintdauer und auf den entsprechend geleisteten Aufwand begrenzt.

Das Minimum Viable Product – oft auch  als MVP abgekürzt – ist ein Instrument zur Risikominimierung im Zuge der Entwicklung von Produkten, Dienstleistungen oder Geschäftsmodellen. Bei einem MVP geht es nicht darum, ein Produkt mit wenigen Funktionen oder Vorteilen zu erschaffen, sondern darum, mit minimalem Aufwand möglichst viel über das Produkt, die Kunden und/oder das Geschäftsmodell herauszufinden. Die Herausforderung besteht darin, das „Minimum“ so zu definieren, dass das Produkt bereits brauchbar, also „viable“ ist und so einen ersten Nutzen für Kunden liefert. Für die weitere Entwicklung ist das Kundenfeedback elementar, denn ohne besteht für Unternehmen die Gefahr, Produkte lediglich basierend auf Annahmen und somit am anvisierten Markt vorbei zu entwickeln. 

Pretotyping ist eine Methode, um Produktideen so schnell und kostengünstig wie möglich zu testen. Ziel ist es herauszufinden, ob ein Produkt gekauft und genutzt würde, sofern es existierte. Anhand einer extrem vereinfachten Version eines Produkts werden Features und Funktionen simuliert, und die Interaktion potentieller Kunden beobachtet, um herauszufinden, ob Anwender Interesse an dem Produkt hätten, das Produkt in der Art und Weise benutzen würden, so wie es gedacht wäre, das Produkt regelmäßig nutzen würden, das Produkt erwerben würden.

Hinweise:

[1] Saras D. Sarasvathy: What makes entrepreneurs entrepreneurial?
[2] In der Literatur zu Effectuation werden manchmal vier und manchmal fünf Prinzipien beschrieben. Der Unterschied liegt in der Betrachtung des „Pilot-in-the-Plane“-Prinzips. Dieses Prinzip wird oft als Metaprinzip betrachtet, weil es die anderen Prinzipien zusammenfasst und ihnen eine übergeordnete Leitlinie gibt. Unternehmen glauben daran, dass sie die Zukunft durch ihre eigenen Handlungen und Entscheidungen gestalten können. Sie konzentrieren sich darauf, was sie kontrollieren können, anstatt sich auf äußere Umstände und Vorhersagen zu verlassen.

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Michael Schenkel hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing - da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen - bspw. hier im Blog - anzubieten. Wenn Sie Lust haben, verabreden Sie sich mit ihm auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen; mit Sicherheit freut er sich darauf!