Lencionis Dysfunktionen sind toxisch – so ein Unsinn!
Noch nie zuvor haben mich ein paar Tweets dazu gebracht, ein Buch nochmal zu lesen, sogar mehrfach, um ja nichts zu übersehen.
- „one of the most toxic books ever“
- „one of the most harmful books I know“
Das wollte ich einfach nicht glauben, denn für mich, einen bekennenden Radikal-Pragmatiker, enthielt es ein schönes Grundmuster für die Teamentwicklung, mit dem ich gut arbeiten konnte.
Was habe ich beim Review gefunden?
Die Geschichte in Lencionis Buch
Erstmal stellte ich voller Verwunderung fest, dass das Buch in die Kategorie „Business-Belletristik“ gehört. Patrick Lencioni beschreibt in einer schön zu lesenden Geschichte, wie aus einer Gruppe von Solisten ein Team wird und welche Hürden es auf diesem Weg zu überwinden hat. Das war mir völlig entfallen, ich hatte nur noch seine Pyramide mit den 5 Dysfunktionen im Kopf.
Eine noch größere Überraschung war, als mir klar wurde, um was für ein Team es sich dabei handelt. Es geht nicht um das übliche Entwicklerteam, sondern um das Management eines IT-Unternehmens, das kurz vor der Insolvenz steht und deshalb vom Vorstand eine neue Geschäftsführerin vorgesetzt bekommt. Kathryn, eine branchenfremde Managerin, die aus dem Ruhestand zurückgeholt wird. Ihre Aufgabe: Aus den in ihren Silostrukturen verfangenen Bereichsfürsten ein Team von engagierten, ergebnisorientierten Teamspielern in einer Command & Control-Welt zu machen. Das hatte ich offensichtlich völlig überlesen.
Sie ändert an der Unternehmensstruktur nichts und sie nutzt ihre Macht auch nicht, wie andere es vermutlich getan hätten, um die „bad apples“ aus dieser Runde zu feuern. Sie gibt allen die Chance, die neue Herausforderung zu verstehen, das Verhalten zu ändern, zu bleiben und die neue Art der Zusammenarbeit mitzutragen – oder selbst zu gehen. Dieser Umgang mit Macht erinnert mich stark an TV-Serien wie „Welcome, Mrs. President!“ oder „Borgen“ in denen Frauen mit und in Machtstrukturen anders agieren. Warum Lencioni hier eine Frau eingesetzt hat – ich werde ihn mal fragen.
Kathryn jedenfalls setzt auf Zuhören, Verstehen, Argumentieren und Überzeugen. Kathryn agiert wie ein kluger Coach [Die Führungskraft als Coach – geht das doch?], legt den Finger immer wieder in die Wunden und stellt die passenden Fragen, damit die Bereichsleiter immer wieder ihr eigenes Verhalten hinterfragen müssen. Ihre einzige „Machtdemonstration“ – sie besteht auf der Wichtigkeit ihrer Meetings und Transformationsworkshops, der Rest ergibt sich durch den Lauf der Dinge.
Was mich beim wiederholten Lesen immer noch begeistert, ist die Klarheit und Prägnanz des Modells, das zu verstehen hilft, warum ein Team oft nicht so performt, wie es könnte, warum es bei der Erreichung bestimmter Ziele scheitert.
Dafür hat Geschäftsführerin Kathryn eine kurze und greifbare Einführungsrede, die sie gerne und oft wiederholt: „Wir haben ein erfahreneres und begabteres Managementteam als alle unsere Mitbewerber. Uns stehen mehr Finanzmittel zur Verfügung. Dank Martin und seinem Team haben wir die besten technischen Voraussetzungen. Und wir haben den schlagkräftigsten Vorstand. Und trotz alledem liegen wir im Moment hinter zwei unserer Wettbewerber zurück. Kann mir einer von Ihnen sagen, woran das liegt?“
Die Reaktion ist Schweigen.
„Nachdem ich Gespräche mit allen Vorstandsmitgliedern geführt, Zeit mit jedem von Ihnen verbracht und auch mit den meisten Mitarbeitern unseres Hauses gesprochen habe, ist mir voll und ganz klar, wo unser Problem liegt: Wir funktionieren nicht als Team. Genauer gesagt sind wir sogar ziemlich dysfunktional.“ [Lencioni, S.41]
Lencionis Dysfunktionen im Detail
Für Lencioni gibt es fünf Ebenen dieser Dysfunktionalität: fehlendes Vertrauen im Team, die Furcht vor Konflikten, mangelndes Engagement, die Scheu vor Verant-wortung und die fehlende Ergebnisorientierung. Sie bauen aufeinander auf, das eine geht nicht ohne das andere und alles beginnt mit dem Vertrauen im Team. Lencioni malt das als Pyramide auf:
Defizitbedürfnisse im Team
1. Fehlendes Vertrauen
Eine Atmosphäre des Vertrauens im Team zu haben bedeutet, dass man sich öffnen kann, über Zweifel und Unsicherheiten, über Fehler und Risiken reden kann. Dass man schlechte Tage haben kann. Dass man streiten kann, ohne dass es persönlich genommen wird. Im Grunde bedeutet es das sichere Gefühl, dass nichts von dem, was andere über einen wissen, zum Nachteil eingesetzt wird. Es gibt keine zwischenmenschlichen Risiken.
Wenn dieses Grundvertrauen fehlt, dann wird niemand seinen Kopf rausstrecken und sich positionieren.
Heute nennen wir das „psychologische Sicherheit“. Das ist übrigens auch das Kriterium, das die Google-Mitarbeiter bei ihrer Aristoteles-Studie als die Grundvoraussetzung für die Teamentwicklung benannt haben, ohne die alles andere nicht funktioniert.
Um daran zu arbeiten, um Vertrauen herzustellen, braucht es Nähe und Offenheit. Die Vorschläge, die Lencioni macht, um das zu erreichen, gehen sehr stark in die Richtung der „Bedienungsanleitung für Dich!“, einem tollen Ansatz für einen Team-Kickoff, für eine Teamentwicklungssession oder einen Workshop zur Kulturverbesserung.
2. Scheu vor Konflikten
Diese Scheu ist die logische Folge mangelnden Vertrauens. Warum soll ich mich an einer Diskussion beteiligen, wenn mir das hinterher als „Parteinahme“ angekreidet wird und ich dadurch vielleicht sogar Nachteile habe? Andersherum formuliert: Erst wenn ich mir sicher bin, dass mir nichts passiert, steige ich in Diskussionen ein.
Was es darüber hinaus braucht, um die Scheu vor Konflikten abzulegen, sind Sprachmuster und Vereinbarungen, wie strittige Themen so diskutiert und am Ende entschieden werden können, dass sich alle Beteiligten mit dem Ergebnis und dem Weg dahin wohl fühlen. Wir reden über die Etablierung einer angemessenen Streitkultur, über Kommunikationsregeln.
Und hier kommt mein einziger Kritikpunkt am Buch: Kathryn zelebriert exzessiv das Argumentationsmuster „Ja, aber…“. Selbst als sie das einmal bewusst vermeiden will, folgt es im darauffolgenden Satz. [Lencioni, S.74] Ein absolut kontraproduktives Sprachmuster. Der Volksmund sagt, alles vor dem“‚aber“ ist eine Lüge. Es wird zumindest oft so empfunden.
Wer wissen will, welche Sprachmuster wirklich helfen, dem möchte ich David Marquets Buch „Leadership is Language‘ empfehlen, für mich die Sprachbibel für alle, die interessiert, wie man am besten mit Meinungsverschiedenheiten umgeht und zusammen mit anderen zu guten Entscheidungen kommt.
Damit haben wir die beiden notwendigen Bedingungen für gute Zusammenarbeit. Sind diese beiden Ebenen dysfunktional, dann wird die Atmosphäre toxisch. Das macht krank und passiv, führt zu „Dienst nach Vorschrift“ in der Minimalversion, zur inneren Emigration bis hin zur Suche nach einem besseren Arbeitsumfeld.
Wenn man will, lassen sich diese beiden Ebenen mit Maslows Begriff der Defizitbedürfnisse, hier in einem Team, vergleichen. Die nächsten drei [Dys-]Funktionalitäten würden dann Maslows Wachstumsbedürfnissen entsprechen.
Wachstumsbedürfnisse im Team
Positiv formuliert brauchen wir als nächstes das Engagement von allen im Team für die Teamziele, dann die Bereitschaft, dafür auch persönlich Verantwortung zu übernehmen und letztlich einen klaren Fokus auf Ergebnisse. In dieser Reihenfolge ist das Eine wieder die Voraussetzung für das Nächste. [Ohne die ersten beiden Punkte entsteht Engagement nur bei breitschultrigen Solisten mit starkem Profilierungsdrang.]
3. Fehlendes Engagement
Zwei Ursachen sieht Lencioni für das Nichtentstehen von Engagement:
- Der Wunsch nach Konsens sowie
- das Bedürfnis nach Gewissheit.
Beides Sicherheitskriterien, um keine Fehler zu machen: Wie treffen wir eine richtige Entscheidung? Was, wenn nicht alle einer Meinung sind? Was, wenn der Ausgang ungewiss ist? Was machen, wenn sich rausstellt, dass die Entscheidung falsch war?…
Engagement dagegen ergibt sich für Lencioni aus der Kombination von klaren Entscheidungen und der Zustimmung aller zur Entscheidung, auch – und das ist sehr wichtig – wenn einige zu Beginn eine andere Position vertreten haben. Das Geheiminis ist nicht blinde Loyalität, sondern die Akzeptanz der Regeln des Entscheidungsprozesses, die ausführliches Gehörtwerden und sachliche Diskussion einschließt. Wir sind wieder bei der Streitkultur.
4. Scheu vor Verantwortung
Jetzt wird es richtig spannend, denn diese Dysfunktion bezieht sich nicht auf die Verantwortung, die man für die Ergebnisse der eigenen Arbeit übernimmt. Wer das nicht will, der ist einfach nur fehl am Platze.
Es geht um die Verantwortung, die man für die Ergebnisse der Arbeit aller anderen im Team empfindet und wahrnimmt, für das Teamergebnis insgesamt. Lencioni verwendet hier eine Formulierung, die mich erst mal schlucken ließ. Er spricht davon, „die anderen zur Verantwortung zu ziehen“, und das auf der Ebene der Silo-Heads, um die es in seinem Buch ja geht. Im Original heißt das „holding each other accountable for their behaviors and performance“ [The Table Group/Website] und klingt nicht weniger invasiv.
Was er hier fordert, ist nichts anderes, als dass die Führungsmannschaft eines Unternehmens, das von den Teams „weiter unten“ High Performance erwartet, selbst ein High-Performance-Team sein muss.
Und jetzt, geneigte Leserin, geneigter Leser, lehnen wir uns mal kurz zurück und gehen im Kopf durch, wie das Miteinander auf den Ebenen über uns im Unternehmen oder in den Firmen, die wir beraten, so abläuft.
Sich einzumischen in die Bereiche der anderen, sich verantwortlich zu fühlen für die Lösung der Probleme der anderen im Team als Normalität zu verstehen, als selbstverständlichen Ausdruck des Teamgeistes, das ist die Voraussetzung für die Behebung der letzten Dysfunktion.
5. Fehlende Ergebnisorientierung
Auch hier, wie im vorigen Punkt, bedeutet diese Dysfunktion nicht, überhaupt keine Ziele zu verfolgen, sondern andere als die Teamziele. Im Original heist das: „The pursuit of individual goals and personal status erodes the team’s focus on collective success.“ [The Table Group/Website]. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?
Und hier kommt Kathryn noch mit einer ziemlich krassen Frage um die Ecke: „Was ich gern wissen möchte, ist, ob Sie dieses Team hier genauso wichtig finden wie die Teams, die Sie selbst leiten, Ihre eigenen Abteilungen! … Ich meine damit, wen Sie alle als Ihr erstes Team betrachten?“
Daraus entsteht eine spannende, Einsichten generierende Diskussion.
Das System der Bonifikationen so zu ändern, dass das Teamziel mehr zählt als die Silo-Ziele, wäre eine einfache aber sicherlich nicht sehr hilfreiche Me-hode, denn ohne die anderen Voraussetzungen erzeugt das vermutlich eher Widerstand statt einsichtiges Handeln. Und für Lencioni gehen die Teamziele hier deutlich über das hinaus, was in Stückzahl, Absatz, Umsatz und Gewinn messbar wäre.
Wo liegen die Grenzen des Buches?
Patrick Lencioni zeichnet die Dysfunktionen in Form einer Pyramide, was den Eindruck eines mechanischen und diskreten Aufbaus erweckt. So ausschließlich funktioniert es sicher nicht. [Das ist ja auch die Kritik an der Maslowschen Bedürfnishierarche, die er selbst übrigens nie als Pyramide dargestellt hat.]
Die Arbeit an den ersten beiden Dysfunktionen geht Hand in Hand, man kann keinen Workshop zu Offenheit und Nähe machen, ohne gleichzeitig auch anzufangen, wertschätzender miteinander zu reden. Im Moment, da ich anfange, mich zu engagieren, entsteht automatisch auch die Frage, wofür und auch, wohin die anderen in der Zeit rennen! Die Einmischung in die Geschäfte der Anderen, um Lösungen für deren Probleme zu finden, führt zwangsläufig zur Diskussion, wie die Einzelleistungen auf das Teamziel einzahlen.
Sichtbar werden die Dysfunktionen eines Teams am deutlichsten am Ende, wenn bei der ganzen Arbeit nichts rauskommt. Startpunkt ist die psychologische Sicherheit. Und dann kann man für die Analyse schauen, an welcher Stelle die Entwicklung steckengeblieben ist.
Was Lencioni nicht beschreibt, sind die Rahmenbedingungen, die zu der desaströsen Situation in der Geschäftsführung geführt haben und wie man sie hätte verändern müssen. Das hätte vermutlich den Rahmen seiner Geschichte gesprengt und war auch nicht sein Thema. Interessant ist, dass sich das Team in der Geschichte daran macht, seine bisherigen Strukturen und Zusammenarbeitsgrenzen schrittweise eigenständig zu verändern. Mission accomplished!
Eine Anmerkung: Lencioni hat das Buch 2002 geschrieben, vor gut 20 Jahren. Da war von „Agilität“ und von „sich selbst entwickelnden Teams“ in der Breite noch nicht viel zu hören. 2014 erschien Jeff Sutherlands Buch „Scrum – The Art of Doing Twice the Work in Half the Time“ über das Framework, das er zusammen mit Ken Schwaber 20 Jahre zuvor, also 1994, entwickelt hatte. „Dysfunktionen“ ist für unsere schnelllebige Zeit also ein ziemlich altes Buch. Ob ein Modell alt oder auch veraltet ist, bekommen wir nur heraus, wenn wir darangehen, den Geist des Modells hinter den Buchstaben zu finden, hinter den Sprachmustern von „Vorgesetzten und Untergebenen“.
Generell sollte für ältere Texte gelten: Was war der Grundgedanke, passt davon was heute immer noch und wie könnte man das umsetzen? Das gilt übrigens auch für den Praxiswegweiser, den Lencioni ergänzend geschrieben hat.
Ein letzter Punkt: Auch hinter den Dysfunktionen steht keine empirisch überprüfte, wissenschaftliche Doppelblindstudie. Stimmt, wie bei vielen anderen Modellen fehlt diese. Es ist komprimiertes Erfahrungswissen, das sich mit den Erlebnissen und Analysen vieler anderer deckt. Kramen Sie in Ihren eigenen Erfahrungen mit Teams und Störungen – was davon trifft zu, woran würden Sie arbeiten, was würde helfen?
Es ist eine Checkliste zur Suche nach Arbeitspunkten, falls das Team nicht performt. Das bedeutet ja nicht, dass das die einzig möglichen Störungen sein müssen. Schlecht aufgesetztes Scrum mit Durchgriffen aus der Hierarchie hat seine eigene Wirkung.
Fazit
Patrick Lencionis Buch „Dysfunktionen“ gibt eine Anleitung, wie man den Teamzusammenhalt gemeinsam verbessern kann. Eine kleine Checkliste steht im Buch, ein ausführlicheres Angebot findet sich auf der Website von Lencionis „The Table Group“.
Im Zusammenspiel mit neuen Denkmustern und Tools, wie beispielsweise den Liberating Structures oder Delegation Poker“, ergeben sich viele spannende Möglichkeiten. Was, wenn man Lencionis [Dys-]Funktionen mit Tuckmans Ansatz zu den Teamphasen verbindet und die jeweils notwendigen Führungsstile mit dem eigenen „natürlichen Führungsstil“ vergleicht. Jetzt wird es richtig interessant, oder?
Ich habe eine Menge guter Hinweise für Agile Coaches, Project Manager, Product Owner, Scrum Master & Co. gefunden, damit die Menschen in der Neuen Welt der Zusammenarbeit in passender Weise miteinander agieren können und die Strukturen im Haus diese Entfaltung auch ermöglichen, als Spezialisten für Organisationsentwicklung und Kommunikation.
Aber „one of the most toxic books ever“ und „one of the most harmful books I know“’?
So ein Unsinn!
Hinweise:
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Patrick Lencioni, Die 5 Dysfunktionen eines Teams, Wiley-VCH-Verlag, 2014
Patrick Lencioni, Die 5 Dysfunktionen eines Teams überwinden. Ein Wegweiser für die Praxis, Wiley-VCH-Verlag, 2020
The Table Group
David Marquet, Leadership is Language, Penguin Business, 2020
Bedienungsanleitung für Dich
The Surprising Power of Liberating Structures, H. Lipmanowitz & Keith McCandless, Liberating Structures Press, 2013
TV-Serien:
Welcome, Mrs. President/ Commander in Chief [USA, 2005],
Borgen – Gefährliche Seilschaften [DK, 2010-13]
Conrad Giller hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:
Conrad Giller
Conrad Giller ist seit ca. 30 Jahren unterwegs als Trainer, Coach und Berater für fast alle Herausforderungen der mündlichen Kommunikation: Konflikt, Team, Führung, Storytelling, Präsentieren, Moderieren, Medien, etc. Gerne gibt er seine Erfahrungen online und offline in Workshops weiter.