Höher, schneller, Disruption!
„Bill, ich habe eine großartige Idee! Wir sind zwar der größte Softwarehersteller auf diesem Planeten, aber wir sollten zukünftig auch Handys produzieren. Handys, auf denen kleine Programme laufen, die wir über einen Shop weltweit vermarkten können. So generieren wir Umsätze mit den Handys und den Programmen.“
Es ist nicht überliefert, ob Microsoft-Mitbegründer Bill Gates um die Jahrtausendwende eine solche disruptive Idee präsentiert bekam, es ist aber sicher, dass die Firma Apple mit dieser Idee in den letzten 15 Jahren mehr als 2 Milliarden iPhones verkauft und so mehr als 1,4 Billionen US-Dollar Umsatz erzielt hat.1 Beeindruckende Zahlen einer beeindruckenden Disruption, oder?
Disruption und Evolution – was soll das sein?
Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass immer häufiger Firmen von disruptiven Produkten, Methoden oder Ideen sprechen? Leicht kann man den Eindruck gewinnen, dass eine Innovation nicht mehr ausreicht, um Menschen zu begeistern. Höher, schneller, Disruption. Die Vermarktungsmaschinen laufen auf Hochtouren. Bämm! Aber was bedeutet Disruption genau und wo liegen Unterschiede zu einer evolutionären Innovation?
Der Begriff „disruptive“ bzw. „disruptive technologies“ wurde von Clayton Magleby Christensen in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“2 eingeführt. Eine disruptive Technologie (englisch: to disrupt „unterbrechen“) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt.3
Christensen stellte die Begriffe „disruptive“ und „sustaining“ (englisch: to sustain „erhalten“ oder „aufrechterhalten“) gegenüber und beschrieb die Geisteshaltung von Unternehmen in Bezug auf vorhandene Technologien und Produkte. Etablierte Unternehmen versuchen tendenziell, mit ihren Produkten und Dienstleistungen dauerhaft am Markt zu existieren. Sie wollen und müssen Ihre Positionen in existierenden Märkten sichern, und auch wenn sehr regelmäßig etwas anderes behauptet wird, so dreht sich ihr Purpose oftmals um den Fortbestand des Unternehmens.4 Disruptiv denkende Unternehmen suchen hingegen bewusst nach neuen Wegen für bekannte Bedürfnisse und nach Ideen für neue Herausforderungen. Sie denken eher in Chancen als in Risiken und wollen bewusst „anders“ sein und agieren.
Unter Evolution (lateinisch: evolvere u.a. „entwickeln“) versteht man die von Generation zu Generation stattfindende allmähliche Veränderung vererbbarer Merkmale.5 Es ist ein Begriff der Biologie, der auch bereits seit sehr vielen Jahren in Industrie und Wirtschaft genutzt wird. Typische Beispiele im Wirtschaftsleben von Unternehmen sind die Entwicklung neuer Versionen von bestehenden Produkten, die Anpassung von Dienstleistungen oder die Übertragung von Ideen von einer Produktgattung auf eine andere. Die Evolution an sich setzt die Existenz von Etwas – einem Produkt, einer Dienstleistung, einer Idee – voraus, die im Laufe der Zeit verändert wird. Auf eine Disruption folgt konsequenterweise eine Evolution. Klar wird dies bei einem Blick auf einige Beispiele.
Beispiele für disruptive und evolutionäre Innovationen
Wenn Sie über Disruptionen nachdenken, fallen Ihnen bestimmt einige Beispiele ein:
- Musik müssen Sie heutzutage nicht mehr kaufen, Sie können sie im monatlichen Abonnement in Ihr Wohnzimmer streamen.
- Bücher kaufen Sie vielleicht nicht mehr gedruckt, sondern per Download als E-Book.
- Und gesunde Lebensmittel werden Ihnen jeden Freitagmorgen in Ihr Büro geliefert, sodass Sie auf den Wochenendausflug zum Bauernhof Ihrer Wahl verzichten können.
Die genannten Beispiele verändern die Märkte für alle Verkäufer und Käufer von Musik, Büchern und gesunden Lebensmitteln und somit handelt es sich eindeutig um Disruptionen. Bämm!
„Was ist das nächste große Ding?“ Diese Frage darf sich Apple immer wieder anhören. Apple dürfte weltweit das Unternehmen sein, dass am häufigsten als leuchtendes Beispiel im Zusammenhang mit disruptiven Technologien genannt wird. Werfen wir daher kurz einen Blick auf einige Produkte von Apple:
- Die Idee zum iPhone als Gerät mit einem Touchdisplay soll Steve Jobs im Jahr 2000 gekommen sein, zu einem Zeitpunkt, zu dem der Personal Digital Assistant (PDA) der Firma Palm (der sogenannte Palm Pilot) schon lange sehr erfolgreich auf dem Markt und Alcatels One Touch Com fast schon wieder vom Markt verschwunden war.
- Den Tablet-PC hat Apple auch nicht erfunden, eines der ersten Geräte dieser Art war 1989 das GRiDPad von GRiD Systems, das allerdings keine große Marktbedeutung erringen konnte.
- Und obwohl die Smartwatch von Apple eine Armbanduhr und einen Computer integriert, so kann ich mich noch an eine Casio Armbanduhr mit Digitalanzeige und integriertem Taschenrechner erinnern, die ich in den 80er Jahren mein Eigen nannte.
Handelt es sich bei den genannten Apple-Produkten also gar nicht um Disruptionen, sondern „lediglich“ um evolutionäre Innovationen? Wenn Sie die Erfindung des Rads, des Buchdrucks, der Dampfmaschine, der Glühlampe, des Telefons oder Konrad Zuses mechanischer Rechenmaschine Z1 zum Maßstab nehmen, dann sind es Evolutionen. Betrachten Sie aber die Wirkung auf betroffene Märkte, veränderte Produktstrategien der Global Player und die Erwartungshaltung von Kunden und Konsumenten, dann sind es sicherlich Disruptionen. Kurzum: Höher, schneller, weiter lässt sich nicht eindeutig feststellen, die Bewertung hängt von der Perspektive ab.
Die Unternehmens- und Marktrelevanz von Innovationen
Aus den genannten Apple-Beispielen lassen sich zwei Erkenntnisse ableiten:
- Bei einer Disruption müssen nicht alle Elemente „neuartig“ sein. Im Zweifel kann es sogar ausreichen, verschiedene Elemente vorhandener Produkte oder Dienstleistungen miteinander zu verbinden, sodass etwas Neues entsteht, dass das Potenzial besitzt, „bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen vollständig vom Markt zu verdrängen“.
- Für eine Disruption ist es nicht wichtig, als erstes am Markt zu sein. Die Welt ist voll mit erfolgreichen Produkten und Dienstleistungen, die nicht als erste einen Markt adressiert haben.
Interessant wird es, wenn wir einen Blick auf die Unternehmens- und Marktrelevanz von Innovationen werfen. Innovationen müssen nicht auf einen Markt gerichtet sein, sondern können auch interne Abläufe, Prozesse, Verfahren etc. adressieren. Unterscheiden lassen sich demzufolge vier Kategorien:
1. Evolutionäre Innovation, hohe Unternehmensrelevanz, keine oder geringe Marktrelevanz
Der Fokus solcher Innovationen liegt auf dem Unternehmen selbst, das bspw. versucht, interne Abläufe zu vereinfachen, Produktionsverfahren zu beschleunigen oder Partnerschaften mit zusätzlichen Lieferanten zu etablieren. Dabei ist es unwichtig, ob andere Unternehmen bereits ähnliche Innovationen früher verwirklicht haben.
2. Disruptive Innovation, hohe Unternehmensrelevanz, keine oder geringe Marktrelevanz
In den 1990er und frühen 2000er Jahren versuchten Unternehmen Monostrukturen abzubauen und gleichzeitig neue Umsatzchancen in anderen Märkten zu generieren (auch bekannt als laterale Diversifikation). So engagierten sich Automobilhersteller in der Luft- und Raumfahrt und internationale Hotelkonzerne beteiligten sich an Reisebüros und Autovermietungen. Diese Veränderungen stellten die Unternehmen vor große Herausforderungen, hatten aber für die betroffenen Märkte keine oder nur geringe Relevanz. Viele dieser Beteiligungen wurden später wieder eingestellt.
3. Disruptive Innovation, hohe Unternehmens- und Marktrelevanz
Eine disruptive Innovation besitzt eine hohe Marktrelevanz, wenn bestehende Märkte damit angegriffen oder gar beseitigt werden. Auch gänzlich neue Unternehmungen entstehen durch disruptive Innovationen, Beispiele hierfür sind u.a. Busfernreisen, Car-to-go und Rent-a-Bike Modelle, private Wohnraumvermietungen, Online-Apotheken oder Online-Arztkonsultationen.
4. Evolutionäre Innovation, unterschiedlich ausgeprägte Unternehmens- und Unternehmensrelevanz
Diese Form von Innovation ist am häufigsten anzutreffen. Beispiele hierfür sind sämtliche neuen Generationen von Handys, Autos, Softwareprodukten, Computern, Maschinen, Robotern etc. Die Marktrelevanz ist je Markt und Technologie, Produkt oder Dienstleistung unterschiedlich. Und die Unternehmensrelevanz hängt von der jeweiligen strategischen Ausrichtung ab.
Interessanterweise hat jede Innovation, die eine Marktrelevanz besitzt, hat auch eine Unternehmensrelevanz, aber nicht jede Innovation, die eine Unternehmensrelevanz besitzt, ist für den Markt relevant; das ist u.a. ein Grund, warum Produktentwicklungen floppen und Produkteinführungen scheitern. Und natürlich kann die Marktrelevanz einer (disruptiven oder evolutionären) Innovation im Laufe der Zeit zurückgehen, die Unternehmensrelevanz aber dennoch steigern. Beispiel: die 1. Generation des iPhones generierte im Jahr 2008 bei praktisch absoluter Marktrelevanz ca. 6,74 Milliarden US-Dollar Umsatz, 2021 betrug der Umsatz bei geringerer Marktrelevanz fast 192 Milliarden US-Dollar.6
Fazit
Generell versuchen Unternehmen mit ihren Technologien, Produkten und Dienstleistungen Kunden zu gewinnen. Ist ein Unternehmen erfolgreich, wird es versuchen, diesen Erfolg zu konservieren. Dies führt praktisch immer dazu, dass aus einer disruptiven Entwicklung nach und nach eine evolutionäre Entwicklung wird.
Viele Unternehmen bieten jedes Jahr neue Versionen ihrer bekannten Produkte an und das Gewicht der Neuerungen nimmt zumindest gefühlt pro Version ab – ein typisches Zeichen für eine Evolution. Worauf Unternehmen allerdings achten sollten, ist „The Innovator’s Dilemma“, wie es Christensen beschrieb: Durch den Markterfolg mit bestehenden Produkten und eine damit einhergehende Risikoaversion können Unternehmen den Zeitpunkt verpassen, wenn etwas gänzlich Neues entsteht und aus einem Mobiltelefon und einem PDA ein Smartphone wird. Wer diesen Zeitpunkt verpasst, hat oftmals Schwierigkeiten, ähnliche Erfolge mit Me-too-Strategien zu erzielen. Umso wichtiger könnte es dann werden, mit eigenen Innovationen zu glänzen. Ob es sich dabei um disruptive oder evolutionäre Technologien oder Dienstleistungen handelt, ist sekundär.
Hinweise:
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[1] [6] iPhone Absatz und Umsatz weltweit
[2] The Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, Clayton M. Christensen, Verlag: Vahlen
[3] Wikipedia: Disruptive Technologie
[4] Conny Dethloff hat einen sehr lesenswerten Beitrag über den Zweck von Unternehmen geschrieben: Purpose? Habe ich: Am „Leben“ bleiben!
[5] Wikipedia: Evolution
Viele Unternehmen haben den Wunsch, Kunden langfristig an ihre Produkte oder Dienstleistungen zu binden. Eine Möglichkeit dies zu erreichen, ist der sogenannte Lock-in Effekt.
Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH