Entscheidungsfähigkeit – der Erfolgsfaktor eingespielter Teams

Gastbeitrag von | 15.05.2023

Entscheidungsfähigkeit durch bewusste Teamentwicklungsschritte aktiv herstellen

Stabile, interdisziplinäre Teams haben gegenüber arbeitsteilig organisierter Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachabteilungen eine Reihe von Vorteilen. Unter anderem gehört dazu die Fähigkeit, dynamische und intransparente Probleme zu lösen, an denen eine klassische Vorgehensweise mit klar getrennten Phasen der Planung, Ausführung und Auswertung scheitern würde. Wir können diese traditionelle Herangehensweise den Ingenieursstil nennen. Ein Problem wird dabei im Vorfeld untersucht, die notwendigen Schritte zur Lösung identifiziert, als Projektplan in eine Reihenfolge gebracht und dann entlang dieses Plans ausgeführt. Projektbeteiligte wissen bereits im Voraus, welche Beiträge von ihnen erwartet werden, und planen diese langfristig ein. Überraschungen lassen sich diesem Vorgehen selten gut abbilden und werden daher nach Kräften vermieden. Für Probleme, die sich im Vorfeld detailliert analysieren lassen und sich während der Ausführung vorhersehbar verhalten, ist diese Herangehensweise hervorragend geeignet.

Leider fallen nicht alle Probleme in diese Kategorie. Komplexe Probleme beispielsweise lassen sich im Vorfeld nicht analysieren, da wichtige Informationen zu Projektbeginn noch ungewiss sind. Zudem verändern sich die Rahmenbedingungen über die Zeit, teilweise von allein, teilweise als Reaktion auf unser Handeln. Das ursprünglich zu lösende Ziel kann in Bewegung sein oder muss unterwegs aufgegeben werden. Je komplexer das Problem, desto schwieriger wird es, einen Plan aufzustellen, und desto wahrscheinlicher stellt sich der Plan während der Ausführung als falsch heraus. Statt des Ingenieursstils klassischer Projektleitung braucht es hier eher einen agilen Expeditionsstil – ein Team aus sorgfältig ausgewählten Expert:innen arbeitet sich Stück für Stück in das Problem ein, bewertet die Situation jeden Tag neu und passt seine Vorgehensweise immer wieder an veränderte Bedingungen an.

Was ist Entscheidungsfähigkeit?

Auch wenn die Zusammenarbeit in agilen, interdisziplinären Teams höhere Ansprüche an ihre Mitglieder und Stakeholder stellt, sind sie in komplexen Situationen das Mittel der Wahl. Wenn die unterwegs zu lösenden Probleme im Vorfeld nicht ermittelt werden können, braucht es eine Form der Zusammenarbeit, die schnell unterschiedliche Perspektiven erheben, Optionen bewerten und Entscheidungen treffen kann. Ein Team, welches die wesentlichen Fähigkeiten und Kompetenzen an einem Ort zusammenbringt, ist in der Lage, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, Hindernisse eigenständig zu überwinden und auch bei unerwarteten Schwierigkeiten einen neuen Weg zum Ziel zu suchen. Damit es das tun kann, braucht es eine wesentliche Eigenschaft, die wir Entscheidungsfähigkeit nennen können.

Entscheidungsfähigkeit bedeutet, als Gruppe aus unterschiedlichen Wahrnehmungen schnell und routiniert eine gemeinsame Vorgehensweise ableiten zu können. Teammitglieder bringen jeden Tag Beobachtungen, Ideen und individuelle Vorstellungen in das Team ein, die oft anfangs nicht miteinander vereinbart sind. Auf Basis dieser unterschiedlichen Perspektiven muss das Team immer wieder eine gemeinsame Richtung festlegen. Je entscheidungsfähiger es ist, desto schneller und effektiver kann es entscheiden, und desto fokussierter und zielgerichteter löst es das Problem.

Auch wenn das Team eine „Expeditionsleitung“ haben kann, die im Zweifelsfall das letzte Wort hat, ist das aktive Engagement seiner Mitglieder erfolgskritisch. Oft ist die Situation zu kompliziert und unübersichtlich, als dass eine einzelne Person den Überblick behalten könnte. Entscheidungen werden damit zwangsläufig zu einer Gruppenaufgabe, und die Entscheidungsfähigkeit der Gruppe wird zu einer Voraussetzung für gemeinsamen Erfolg: Wenn das Team aus den unterschiedlichen Zielen und Perspektiven ein gemeinsames Vorgehen ableiten kann, wird es seine Ziele erreichen – wenn nicht, wird es scheitern.

Entscheidungsfähigkeit ist dabei eine kollektive, keine individuelle Eigenschaft, und hängt nur lose mit den Persönlichkeiten der Teammitglieder zusammen. Entscheidungsfähige Menschen bilden nicht automatisch ein entscheidungsfähiges Team. Eine Gruppe aus „starken Charakteren“ kann sich genauso in Diskussionen verrennen wie jede andere. Das bedeutet, dass das Team aktiv Schritte unternehmen muss, um als Gruppe entscheidungsfähig zu werden und zu bleiben.

Wie verbessert ein Team seine Entscheidungsfähigkeit?

Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, mit denen das Team seine eigenen Entscheidungsprozesse verbessern kann. Dazu gehören:

Den Handlungsrahmen des Teams eindeutig abstecken

Damit das Team effektiv Entscheidungen treffen kann, muss es seinen Verantwortungsbereich kennen und verstehen. Unsicherheit über die eigenen Möglichkeiten zieht Diskussionen in die Länge und sorgt für Frust. Besonders wichtig ist dabei, dass das Team dieses Verständnis gemeinsam mit seinen Stakeholdern festlegt, damit es hier nicht zu Missverständnissen oder Irritationen kommen kann. Um diesen Dialog zu unterstützen, haben wir bei Chili and Change den Shared Leadership Compass1 als frei zugängliches Werkzeug entwickelt und veröffentlicht. Meine Kollegin Leonie Heiß hat ihn letztes Jahr auf diesem Blog vorgestellt.2

Gemeinsames Verständnis von Zielen und Prioritäten erarbeiten

Ohne ein gemeinsames Zielbild werden die Entscheidungen des Teams immer wieder durch grundsätzliche Richtungsdebatten erschwert. Gemeinsam erarbeitete Team- oder Produktvisionen, Strategien und Ziele sind die Basis für schnelle und effektive Entscheidungen im Alltag. Wichtig ist, dass sich die Teammitglieder intensiv mit den Prioritäten des Teams auseinandersetzen und diese auch aktiv mitgestalten. Eine im Monolog vorgestellte PowerPoint-Folie der Teamleitung wird dieses gemeinsame Verständnis nicht herstellen und die Entscheidungsfähigkeit im Team nicht verbessern.

Teamgeeignete Entscheidungsmethoden erlernen und anwenden

Entscheidungen in der Gruppe brauchen etwas mehr Struktur und Methodik als Entscheidungen, die individuell getroffen werden. Viele Teams wissen jedoch nicht, welche Möglichkeiten sie hier haben, oder haben sie nicht ausreichend eingeübt, um sie in Meetings routiniert zum Einsatz bringen zu können. Aus Unkenntnis greifen sie dann auf langwierige Konsensentscheidungen, gruppendynamisch problematische Mehrheitsabstimmungen oder den Klassiker – diskutieren, bis keiner mehr Lust hat – zurück.

Erfolgreiche Teams setzen sich bewusst mit Ansätzen wie Einwandintegration, konsultativem Einzelentscheid oder Widerstandsabfrage auseinander.3 Sie legen gemeinsam fest, welche Entscheidungen sie als Gruppe mit welcher Methodik treffen wollen, und üben ihre Anwendung regelmäßig, um sie gerade auch bei Überraschungen und in Krisenmomenten souverän einsetzen zu können.

Rollen und Aufgabenbereiche definieren und verteilen

Rollen und Aufgabenbereiche legen innerhalb des Teams fest, wer zu welchen Themen Entscheidungen treffen und für alle verbindlich eine gemeinsame Richtung festlegen kann. Achtung, sie sind ein zweischneidiges Schwert: Innerhalb des Teams schaffen sie Erwartungsklarheit und ermöglichen schnellere und besser informierte Entscheidungen. Sie schaffen jedoch auch Ausfallrisiken, etwa bei Krankheit des Rolleninhabers, und erschweren der Gruppe die gemeinsame Verantwortungsübernahme für Ergebnisse. In einem Artikel für t2informatik habe ich letztes Jahr diese Problematik unter die Lupe genommen.4

Entscheidungsfreudige Regeln der Zusammenarbeit festlegen

In seiner Zusammenarbeit kann das Team bewusst Regeln festlegen, die Entscheidungen erleichtern und die Übernahme von Verantwortung fördern. Beispiele für solche Regeln können etwa sein, dass die Gastgeber eines Meetings nach eigenem Ermessen über Ziele und Ablauf des Termins bestimmen dürfen, dass die Gruppe auch bei einzelnen Abwesenheiten Entscheidungen treffen darf, oder dass Vorschläge im Teamchat, gegen die es keine begründeten Einwände gibt, nach Ablauf eines gewissen Zeitraums (z. B. 48 Stunden) automatisch angenommen sind.

Regelmäßig die Zusammenarbeit reflektieren

Zur Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit gehört auch die regelmäßige Reflexion der eigenen Zusammenarbeit, etwa im Rahmen von Retrospektiven. Das Team kann dabei Entscheidungssituationen aus der jüngeren Vergangenheit unter die Lupe nehmen und besprechen, wie einfach oder schwierig das Festlegen einer gemeinsamen Richtung war, was mögliche Ursachen für Schwierigkeiten gewesen sein könnten, und Maßnahmen beschließen, um seine Entscheidungsbereitschaft für die Zukunft zu verbessern.

Fazit

Die Fähigkeit, als Gruppe schnell und effektiv Entscheidungen zu treffen, ist für Teams in komplexen Situationen absolut erfolgsentscheidend. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, gute (oder schlechte) Entscheidungsfähigkeit eines Teams mit charakterlichen Eigenschaften ihrer Mitglieder zu verwechseln. Als Gruppe ein gemeinsames Vorgehen festzulegen ist ein sozialer Prozess mit sozialen Voraussetzungen – mögliche Probleme sind daher auch in sozialen, nicht in individuellen und psychologischen Ursachen zu suchen.

Die erfreuliche Erkenntnis ist, dass sich Entscheidungsfähigkeit durch bewusste Teamentwicklungsschritte aktiv herstellen lässt. Ein gemeinsames Verständnis der angestrebten Ziele und des eigenen Handlungsrahmens stellt das Fundament dar, auf dem das Team durch geschickt gewählte Entscheidungsmethoden, Regeln und Aufgabenbereiche an seiner eigenen Entscheidungsfähigkeit arbeiten kann. Es ist klar, dass ein komplexes und dynamisches Problem immer wieder Änderungen an diesen Arbeitsstrukturen des Teams notwendig macht. Regelmäßige Retrospektiven, in denen diese überprüft und weiterentwickelt werden können, sind daher für entscheidungsfähige Teams essenzielle Rituale. Ein Team, welches seine eigenen Entscheidungsprozesse als entwickelbare, kollektive Fähigkeit begreift, nimmt damit insgesamt einen wichtigen Schritt zum eigenen Erfolg.

 

Hinweise:

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[1] Shared Leadership Compass
[2] Wie arbeitet ein radikal selbstorganisiertes Team?
[3] Für eine Übersicht siehe bspw. Pukall, Kai-Marian (2023). Selbstorganisation im Team. Vahlen, S.98ff oder Oestereich, Bernd & Schröder, Claudia (2016). Das kollegial geführte Unternehmen. Vahlen, S.149ff.
[4] Rollenklärung im Team

Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Drei Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten Transformationen im deutschsprachigen Raum. Aktuell berät er als Seniorberater für Chili and Change Kunden deutschlandweit zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erkenntnis, dass sich besonders erfolgreiche Teams oft durch Aspekte wie freiwillige Mitgliedschaft, hohes Engagement und klare interne Strukturen auszeichnen. Wie man diesen Zustand als Team erreicht, davon handelt sein Fachbuch Selbstorganisation im Team. Sehr lesenswert!

Selbstorganisation im Team - Blog - t2informatik

Kai-Marian Pukall hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Modern Agile Principles - Agiler arbeiten einfach gemacht

Modern Agile Principles – Agiler arbeiten einfach gemacht

t2informatik Blog: Agiles Risikomanagement - braucht man das?

Agiles Risikomanagement – braucht man das?

t2informatik Blog: Rollenklärung im Team

Rollenklärung im Team

Kai-Marian Pukall
Kai-Marian Pukall

Kai-Marian Pukall arbeitet als Organisationsentwickler für die Seibert Media GmbH. Seit vielen Jahren begleitet er agile Teams, immer mit dem Ziel, die Zusammenarbeit wertvoll und professionell, einfach und menschenfreundlich zu gestalten. Den Lean-Grundsatz “Eliminate Waste” wendet er bevorzugt auf alles an, was nach Methoden- und Businesstheater riecht.