Drei Fragen zu Effectuation

von | 26.06.2025

Ein Gespräch mit Heiko Bartlog über Effectuation

Effectuation ist kein neues Superfood für Start-ups. Auch nicht die nächste Methodensau, die durch das Managementdorf getrieben wird. Tatsächlich ist Effectuation zunächst einmal beobachtetes Verhalten: es beschreibt, wie erfahrene und erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer handeln und Entscheidungen treffen, wenn die Zukunft nicht vorhersehbar ist – also in den meisten realen Entscheidungssituationen.

Basierend auf Erkenntnissen empirischer Forschung hat Saras Sarasvathy einen handfesten Entscheidungsansatz für Situationen beschrieben, in denen klassische Planungslogik an ihre Grenzen stößt.

Effectuation dreht dazu die übliche Kausalkette um: Nicht erst Ziel, dann Plan, dann Umsetzung, sondern erst Ressourcen, dann Partnerschaften, dann nächster sinnvoller Schritt. Die Zukunft ist nicht planbar, aber gestaltbar mit dem, was ich habe, was ich bereit bin zu riskieren und mit denen, die aktiv mitmachen.

Aber ist das auch praxistauglich? Oder nur ein cleveres Reframing von Bauchgefühl und Glück? Zeit für drei kritische Fragen an Heiko Bartlog, Fachmann für Effectuation und  „Gastgeber für Co-Kreation”.

Macht Effectuation befangen durch Optimismus?

Heiko Bartlog: Diese Frage wurde meines Wissens nach tatsächlich in Brasilien mit einem gravierenden Vorwurf heiß diskutiert. Effectuation schüre übertriebenen Optimismus. Wer denkt „Wag’s doch einfach”, verliert leicht den Blick fürs Risiko. Anstelle einer sorgfältigen Abwägung komme es dann zu hektischem Draufloshandeln. Und in der Tat kann das Narrativ vom mutigen „Macher“ oder der unerschrockenen „Macherin“, die einfach loslegen, blenden.

Wahrscheinlich hatte in den letzten Jahren in jeder Organisation schon einmal der Spruch „Machen ist wie Wollen, nur krasser” Hochkonjunktur – falls nicht: kommt sicher noch!

Aber das ist ein Missverständnis. Effectuation ist kein Plädoyer für Naivität, sondern für kontrolliertes Wagnis. Der zentrale Begriff lautet „Leistbarer Verlust“: Nicht der erwartete Gewinn bestimmt die Entscheidung, denn in einer ungewissen Zukunft ist dieser oft reine Spekulation. Die scheinobjektive Herleitung ist dann eine Verschwendung kostbarer Ressourcen. Entscheidend ist die Grenze dessen, was ich mir erlauben kann zu verlieren, um selbst im Worst Case noch handlungsfähig zu sein. Das klingt vielleicht banal, kann aber ein überaus wirkungsvoller Perspektivwechsel sein.

Klassische Businesspläne und Wirtschaftlichkeitsprognosen für Projekte rechnen mit ROI und Marktanteilen. Und Hand aufs Herz: Wie oft treten diese Prognosen wirklich ein? (Sofern sie denn im Nachhinein überhaupt jemals kontrolliert werden.)

Effectuation fragt stattdessen: Was wäre ein nützlicher nächster Schritt? Wie weit kann ich maximal gehen, ohne mein Haus verkaufen zu müssen? Diese Denkweise begrenzt Risiko nicht durch scheinbare Kontrolle, sondern durch bewusst gesetzte Einsatzgrenzen.

Im Kasino erscheint diese Taktik logisch, obwohl wir dort alle möglichen Ereignisse und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten a priori kennen. Wäre es nicht traumhaft, wenn die wirtschaftliche Realität so berechenbar wäre?

Schürt Effectuation also Optimismus? Ja, und zwar mit Airbag! Und ist dabei realistischer als der Glaube an präzise Fünfjahrespläne in einer hochdynamischen Umgebung.

Wie verhindert man, dass aus „Nutze Zufälle“ ein zielloses Herumrudern wird?

Heiko Bartlog: Das ist ein weiterer, häufiger Einwand: Überraschungen sind nicht automatisch Chancen. Das stimmt natürlich – ebenso wie die Tatsache, dass Überraschungen nicht immer Gefahren darstellen.

Aus meiner Sicht liegt die Wahrheit – wie so oft und so langweilig – in der Mitte: Wenn ich in allem Ungeplanten direkt eine Gefahr sehe, von meinem geplanten Weg abzukommen, dann verhindert diese Haltung höchstwahrscheinlich, dass ich Chancen erkenne, die sich mir unterwegs bieten. Meiner Meinung nach wird Risikomanagement oft missverstanden: In jedem ernsthaften Ansatz ist auch von Chancen die Rede, doch der Titel enthält den Begriff „Risiko“ und lenkt unseren Fokus ganz subtil auf die Gefahren.

Effectuation beschreibt erst einmal, dass erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeiten unter Ungewissheit ihren Fokus zunächst eher auf Chancen als auf Risiken legen. Das ist wichtig, um überhaupt ins Tun zu kommen. Und je mehr das Vorhaben voranschreitet, je mehr Wissen über den Markt ich erlerne und je klarer meine Richtung wird, desto mehr achte ich auch auf mögliche Risiken.

Denn das andere Extrem wäre genauso absurd: Wenn ich ständig auf alles reagiere, was gerade so passiert, geht schnell der rote Faden verloren und die Gefahr besteht, dass ich mich im Kreis drehe und nie zu einem fertigen Resultat komme.

Auch hier gilt: Der Unterschied liegt in der Haltung. Effectuation ist kein zielloses Reagieren auf das, sondern ein aktives Gestalten mit dem, was (unerwarteterweise) passiert. Überraschungen sind keine Umwege, sondern Impulse für den nächsten Schritt – vorausgesetzt, sie werden sinnvoll integriert.

Wichtig ist, dass das Handeln immer in einem Bezugsrahmen stattfindet:

  • Ich kenne meine Ausrichtung, basierend auf meinem Handlungsanlass und den aktuell möglichen Handlungsoptionen.
  • Ich kenne meine Mittel (Bird in Hand).
  • Ich überprüfe ständig, ob das, was ich tue, im Rahmen meiner „leistbaren Verluste“ bleibt.

Unter diesen Voraussetzungen kann ich Umstände und Überraschungen neutral betrachten und sie dazu nutzen, meine Entscheidung über die nächsten Schritte zu vereinfachen: Ist das eine Gefahr für unser Vorhaben? Dann vermeide ich es! Tut sich damit eine Chance auf? Dann nutze ich sie! Immer innerhalb der eigenen Ausrichtung, mit den vorhandenen Mitteln (und Partnern) und innerhalb des „leistbaren Einsatzes“.

Mit anderen Worten: Ich behalte die Kontrolle über das Steuer (Pilot in the Plane). Effectuation ist eben nicht: Ich lasse mich vom Wind treiben. Sondern: Ich nutze Windstöße, um voranzukommen – mit klarem Blick auf meine Mittel, den Kontext und meine Crew (meine Partner).

Ganz nebenbei: Die Kritik trifft agile Ansätze wie Lean Startup, Design Thinking oder Scrum oft ähnlich. Auch dort ist nicht jede Iteration, jedes “Pivot” sinnvoll. Entscheidend ist immer die Qualität der Reflexion und die Klarheit, mit der neue Erkenntnisse in die nächste Aktion übersetzt werden.

Widerspricht das Prinzip der „leistbaren Verluste” nicht der betriebswirtschaftlichen Verantwortung?

Heiko Bartlog: Insbesondere in Organisationen mit begrenztem Spielraum – etwa NGOs, Schulen oder kleinen Initiativen – klingt „leistbarer Verlust“ wie ein zynischer Luxus. Was aber, wenn gar kein Verlust leistbar ist? Wenn der kleinste Fehler fatale Folgen hätte?

Effectuation will keine Harakiri-Experimente. Im Gegenteil. Es lädt gerade in prekären Kontexten dazu ein, kontrolliert und in kleinen Schritten Neues auszuprobieren. „Was können wir riskieren, ohne in Schieflage zu geraten?“ ist eine extrem verantwortungsbewusste Frage – oft sogar die klügere gegenüber dem klassischen „Was bringt den meisten Nutzen?“.

Und: Leistbarer Verlust bezieht sich nicht nur auf Geld. Es geht auch um Zeit, Reputation, Beziehungen oder mentale und körperliche Energie. Manche Organisationen können sich keine gescheiterten Investitionen leisten, aber vielleicht einen halben Tag Aufwand für ein Experiment, ein Gespräch mit einer externen Partnerin oder einen ersten Prototypen auf Papier.

Effectuation ist die Einladung, genau diesen Schritt bewusst zu gehen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bonusfrage: Ist Effectuation überhaupt neu oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Heiko Bartlog: „Start with what you have“ klingt nach Bootstrapping. „Fail fast“ und „Get out of the Building“ sind typische Lean-Startup-Prinzipien. „Fokussiere dich auf das, was du beeinflussen kannst“ hören wir so oder so ähnlich auch nicht zum ersten Mal. Ist Effectuation also nur ein Rebranding alter Konzepte?

Es wäre ja fast verrückt, wenn es nicht so wäre! Schließlich ist Effectuation beobachtetes Verhalten. Saras Sarasvathy hat nicht behauptet, was funktionieren wird, sondern erforscht, wie erfolgreiche Gründerpersönlichkeiten unter Ungewissheit entscheiden und handeln. Es ist also nicht überraschend, dass sich „alte“ Konzepte aus ganz unterschiedlichen Modellen in der Realität wiederfinden. Und ist es nicht großartig, dass wir mit Effectuation eine wissenschaftlich fundierte Bestätigung dafür haben, dass diese Ansätze zum Erfolg führen?

Effectuation bringt zudem bekannte Prinzipien in eine strukturierte Logik. Es ist kein Haufen guter Ratschläge, sondern ein zusammenhängendes Entscheidungsmodell.

Effectuation ist somit ein Rahmen für eine unternehmerische Haltung unter Ungewissheit. Kein Rebranding, sondern eine Synthese. Und wie so oft liegt die Magie nicht in der einzelnen Idee, sondern im Zusammenspiel.

Ein Gedanke zum Mitnehmen

Effectuation ersetzt keine Planung, sondern ergänzt sie dort, wo klassische Strategien versagen. Sie eröffnet andere Perspektiven – beispielsweise Mittelorientierung statt Ziel- oder Kundenorientierung sowie Chancenfokus statt Risikovermeidung – und schafft damit neue Möglichkeiten, ins Tun zu kommen, gerade in Situationen hoher Ungewissheit. Wer nicht weiß, was kommt, muss nicht hilflos sein! Mit dem Blick auf vorhandene Mittel, dem Mut zur Partnerschaft und der Bereitschaft, unterwegs zu lernen, entsteht Gestaltungsfähigkeit trotz aller Unsicherheiten.

Effectuation ist also vielleicht kein Superfood, aber ein ziemlich nahrhafter Denkansatz für alle, die auch ohne Rezept kochen und dabei dennoch etwas Leckeres servieren wollen.

Hinweise:

Projekte ohne starren Plan voranbringen, vorhandene Mittel strategisch nutzen und Überraschungen als Chancen begreifen – genau darum geht es beim Effectuation Training – Effectual Product Ownership mit Heiko Bartlog.

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Effectuation Training – Effectual Product Ownership mit Heiko Bartlog

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Heiko Bartlog hat im t2informatik Blog verschiedene Beiträge veröffentlicht, zuletzt: Risikomanagement co-kreativ gedacht.

Hier finden Sie weitere Informationen zum Thema Effectuation.

Es gibt weitere Beiträge aus der t2informatik Blogserie „Drei Fragen …“:

t2informatik Blog: Drei Fragen zur Organisationsentwicklung

Drei Fragen zur Organisationsentwicklung

t2informatik Blog: Drei Fragen über digitale Transformation

Drei Fragen über digitale Transformation

t2informatik Blog: Drei Fragen zu Ungewissheit

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing – da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen hier im Blog anzubieten. Beispielsweise die neue Serie „Drei Fragen …“.

Im t2informatik Blog veröffentlichen wir Beträge für Menschen in Organisationen. Für diese Menschen entwickeln und modernisieren wir Software. Pragmatisch. ✔️ Persönlich. ✔️ Professionell. ✔️ Ein Klick hier und Sie erfahren mehr.