Drei Fragen zu Ungewissheit
Ein Gespräch mit Astrid Kuhlmey über Ungewissheit
Viele Dinge im Leben sind ungewiss. Wir tun uns schwer, die Auswirkungen von Entscheidungen zu kalkulieren. Entwicklungen, Projekte und Veränderungen sind schwer vorhersehbar. Hinzu kommen Wertvorstellungen und Überzeugungen, Wahrnehmungen und neue Technologien. In solchen Situationen der Ungewissheit handlungsfähig zu bleiben, ist eine notwendige Kernkompetenz für den Erfolg von Menschen und Organisationen.
Astrid Kuhlmey ist Dipl. Informatikerin, systemischer Coach und Expertin für Ungewissheitsforschung. Und damit ist sie genau die richtige Ansprechpartnerin für die folgenden drei Fragen zu Ungewissheit:
Welche Bedeutung haben persönliche Wertvorstellungen und moralische Überzeugungen bei Ungewissheit?
Astrid Kuhlmey: Eine ganz wesentliche. Persönliche Wertvorstellungen beeinflussen unser Bild von der Welt, für Ungewissheit bedeutet das ganz konkret: Ist die Welt beherrsch- und kontrollierbar oder eben nicht? Habe ich überhaupt die Fähigkeit und das Vertrauen (in mich), mit dieser fehlenden Beherrschbarkeit umzugehen? Und was bedeutet es für mich, dass ich die Welt eben nicht beherrschen kann und somit das eine oder andere Mal „den Dingen ausgeliefert“ bin?
Aus der Beantwortung dieser Fragen ergibt sich, wie ich mit Ungewissheit umgehe: Will ich sie beseitigen, habe ich Angst vor ihr, stelle ich mich ihr ganz bewusst und im Wissen, dass das manchmal auch in die Hose geht, entdecke ich freudige Momente in der Ungewissheit. All dies sind wesentliche Aspekte, die unseren Umgang mit Ungewissheit bestimmen.
Viele dieser Fragen und persönlichen Wertvorstellungen sind mit unseren (unbewussten) Glaubenssätzen verbunden und können so schnell zu moralischen Überzeugungen werden. Dies ist für einen konstruktiven Umgang mit Ungewissheit riskant, denn Moral ist oft geprägt von „richtig“ oder „falsch“. Das blockiert das in Ungewissheit notwendige Ausprobieren, kann sogar zu Tabus führen – und genau die gilt es in Ungewissheit zu überwinden. Hier liegt für mich der wesentliche Unterschied zwischen persönlichen Werten und moralischen Überzeugungen: Persönliche Werte können leichter reflektiert und angepasst werden, bei moralischen Prämissen ist der innere (und auch gesellschaftliche) Prozess viel aufwendiger und tiefgreifender und aufgrund des Unbewussten ist die Notwendigkeit oft dissoziiert.
Für mich ist es wichtig, dass ich (auch im Zweifelsfall) an bestimmten persönlichen Werten, wie z.B. der Menschenwürde, festhalte und gleichzeitig die Vielfalt ihrer Ausprägungen (an)erkenne. Moralische Überzeugungen sind starrer und stoßen schneller an ihre Grenzen. Auch deshalb werden sie tendenziell weniger hinterfragt als persönliche Werte, weil diese engeren Grenzen auch eine Form von (Schein-)Sicherheit vermitteln.
Diese Grenzen blockieren den kreativen Umgang mit Ungewissheit, schränken unsere Handlungsoptionen ein. Das wird bspw. beim Thema “Tabu” überdeutlich. Gleichzeitig müssen aber gerade in Zeiten gefühlter Unsicherheit – man kann hier sicher auch von einer Zeitenwende sprechen – moralische Prinzipien hinterfragt und gegebenenfalls neu justiert werden.
Wie beeinflussen kulturelle Unterschiede die Wahrnehmung und Bewältigung von Ungewissheit?
Astrid Kuhlmey: Kulturelle Prägung ist ein wesentlicher Aspekt zum Umgang mit Ungewissheit. So sind westliche Kulturen stark geprägt von Planung und rationalem Denken – sicherlich ein Grund für den „Erfolg“ dieser Kulturen in den letzten Jahrhunderten. Allerdings kommt diese Form des Denkens in Zeiten sog. Polykrisen an ihre Grenzen, da die Vorhersehbarkeit abnimmt. [1]
Auch das Sicherheitsgefühl westlicher Kulturen ist stark geprägt vom äußeren (Sicherheits-)Rahmen, gerade auch in Deutschland.
Andere Kulturen haben hier einen völlig anderen Zugang. Der Begriff der inneren Sicherheit ist z. B. im chinesischen Kulturkreis mit Taoismus, Taijiquan und Qigong stark verwurzelt. Er basiert weniger auf kognitivem Denken als auf ganzheitlicher Wahrnehmung und innerer Stabilität. [2]
Und im indischen Business-Kontext steht z.B. der Aufbau von Beziehung vor Professionalität, bei uns ist es eher umgekehrt.
Diese kulturellen Errungenschaften fernöstlicher Kulturen sind unterstützend für das subjektivierende Handeln, das in Ungewissheit erforderlich ist. Und – ganz essentiell – Bewegungskünste wie z.B. Taijiquan oder Yoga fördern die Körper-Intelligenz, die Basis des subjektivierenden Handelns ist. [3] In westlichen Kulturkreisen hingegen ist unser Körper eher eine Art Objekt oder Gegenstand, der zu funktionieren hat und der sich eben vor allem unserem “höher, schneller, weiter” unterzuordnen hat.
Erfreulicherweise kommt durch das Thematisieren von Achtsamkeit inzwischen Bewegung in dieses Denken gekommen – auch wenn Achtsamkeit immer noch (zu) oft als Entspannungstechnik und nicht als Prämisse für den Umgang mit dem Lebendigen eingesetzt wird.
Wie reduzieren oder erhöhen digitale Technologien und KI-gestützte Systeme Ungewissheit?
Astrid Kuhlmey: Digitale Technologien bringen als komplexe Systeme neue, unerwartete Ereignisse mit sich. Zu Beginn meines Informatikstudiums konnten wir noch dem sogenannten Determinismusgedanken folgen, die Fehlersuche begann mit der Reproduzierbarkeit. Durch die zunehmende Vernetzung haben wir komplexe Systeme geschaffen, die sogar selbst zur Quelle von Ungewissheit werden. Bereits 2016 wurde in wissenschaftlichen Studien die Technik als Quelle von Unsicherheit mit dem Faktor Mensch gleichgesetzt. [4] Seitdem hat die Komplexität weiter zugenommen, KI erreicht durch ihre Lernfähigkeit neue Dimensionen.
Und gleichzeitig steht uns mit KI ein Werkzeug zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir unerwartete Situationen vermeiden können (Ungewissheitsprävention). So helfen KI-gestützte Wettervorhersagen, Hochwassergefahren besser vorherzusagen. Entscheidend ist, dass solche Werkzeuge von Fachleuten bedient werden, die die Qualität der Ergebnisse beurteilen können. [5] Dies wird immer wichtiger, denn gerade im Bereich der Wettervorhersage ist zu beobachten, dass unsere Modelle aufgrund des Klimawandels in ihrer Vorhersagegenauigkeit abnehmen, hier sind Experten gefragt.
Die Antwort auf die dritte Frage lautet also “sowohl als auch”. KI in den Händen von Experten ist eine wichtige Entscheidungshilfe in komplexen Situationen und ein Werkzeug zur Vermeidung von Unsicherheit. Unsere Hoffnung, die Welt durch digitale Technologien und KI-Systeme besser beherrschbar zu machen, ist jedoch trügerisch und sogar riskant, wenn wir die Risiken der Technologien nicht ausreichend berücksichtigen. [6]
Hinweise:
Suchen Sie Unterstützung im Umgang mit Ungewissheit? Dann sprechen Sie Astrid Kuhlmey einfach an.
[1] Loslassen ist das neue Planen
[2] Was bedeutet Körperarbeit?
[3] Was wir von Raumschiff Enterprise lernen können
[4] Studie der GPM: Umgang mit Ungewissheit in Projekten
[5] Künstliche Intelligenz (KI) für alle?
[6] Bedrohung oder Chance? Eine neue Denkweise im Umgang mit KI: Künstliche Intelligenz, Sciencefiction und Projektmanagement
Hier finden Sie einen Podcast mit Astrid Kuhlmey zum Umgang mit Ungewissheit in Projekten.
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Es gibt weitere Beiträge aus der t2informatik Blogserie “Drei Fragen …”:
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH