Der ausgehöhlte Projektbegriff und seine Folgen

Gastbeitrag von | 21.11.2022

Die Verwendung des Projektbegriffs in der Praxis vieler Unternehmen

Welcher Projektmensch kennt es nicht, das klassische Projekt-Dreieck aus Ergebnis, Zeit und Kosten?¹ In den letzten Jahren gibt es in der Disziplin des Projektmanagements eine von Beratern propagierte Tendenz, dieses Dreieck zu einem Vieleck zu erweitern. Solche Vielecke nehmen zumeist kulturelle Aspekte, Sinnfragen oder Umgebungsbedingungen in den Fokus, auch über das Projektende hinausgehende Implikationen werden betrachtet, so dass auch das Thema Nachhaltigkeit von Projekten eine Rolle spielt.

Gleichzeitig wackelt das ursprüngliche Dreieck kräftig, man könnte auch sagen, es wird “ausgehöhlt”. Immer wieder berichten mir gerade jüngere Coachees von sog. Projekten aus ihren Unternehmen, bei denen Aufwände zur Erreichung des Projektergebnisses keine Rolle spielen und gar nicht erst betrachtet werden. Stattdessen wird ein oft vages Ergebnis (“Der Kongress muss funktionieren!” oder “Der Kunde muss zufrieden sein!”) vom Management vorgegeben, ein Termin gesetzt, manchmal ein schmales monetäres Budget bewilligt und ab geht die Post.

Hallo liebe Auftraggeber, ich möchte schon hier darauf hinweisen, dass der Projektbegriff für so einen Management-Wunsch völlig unpassend ist.

Den Beauftragten (also meinen Coachees) wird keine Zeit eingeräumt, eine ordentliche Auftragsklärung zu machen, geschweige denn eine angemessene Aufwandsplanung, die aber ohne klaren Auftrag sowieso nicht funktioniert.

Die Coachees betonen mir gegenüber immer wieder, dass sie ja genau wüssten, was als Ergebnis erwartet würde und blicken mich erstaunt an, wenn ich mich nach Aufwänden erkundige.

Frage ich nach dem Projektende nach dem erreichten Ergebnis, bin ich erstaunt, wie oft das Vorhaben gelungen scheint. Die Betroffenen wirken allerdings erschöpft, sogar ausgelaugt und sagen das auch von sich selbst.

Weitere Nachfragen zum Verlauf lassen Konflikte mit dem Auftraggeber, der zumindest zwischenzeitlich nicht zufrieden war, sowie gesundheitliche Probleme bei den Coachees erkennen, die auf Verständnis stießen und die Forderungen des Auftraggebers scheinbar reduzierten. Irgendwas kommt dann raus, was nach Aussage der Coachees alle einigermaßen zufriedenstellt, eine Reflexion des Erreichten und des damit verbundenen Aufwandes entfällt, stattdessen geht es ohne Pause mit dem nächsten “Projekt” weiter. Fällt in solchen Kontexten dann auch noch der Begriff “lernende Organisation”, kann ich meine Irritation kaum verbergen.

Der Projektbegriff versus “Ich-will-Aufgaben” oder “Ich-will-Projekte”

In der gelebten Praxis scheint also ein völlig neuer Projektbegriff zu entstehen: Projekt als etwas, das der Auftraggeber einfach will, dessen Machbarkeit nicht reflektiert wird und wo die sog. Projektleiter das irgendwie zu einem festen Termin erreichen müssen, unbezahlte Überstunden inklusive.

Vom Projektmanagement-Dreieck bleibt dabei de facto nur die Dauer übrig, Ergebnis und Kosten sind leere Hülsen im Spannungsfeld zwischen dem unklaren Wunsch des Auftraggebers – von Stakeholdern wollen wir erst gar nicht reden – und der Gesundheit des Projektleiters, manchmal auch der gesamten Projektmannschaft (wobei Projektorganisation ebenfalls ein Fremdwort scheint). Ich nenne das dann auch nicht Projekt, sondern eine “Ich-will-Aufgabe” oder ein “Ich-will-Projekt”.

Ähnliche Umdefintionen des Projektbegriffs beobachte ich auch bei öffentlichen Projekten in Deutschland, auch hier setzen sich politische Auftraggeber über Machbarkeiten hinweg. Beispiele für solche “Ich-will-Projekte” finden wir bei Stuttgart 21 oder dem Flughafen BER. Projektlaufzeiten, die jeglicher Planung spotten, Kosten, die explodieren, und Ergebnisse, die nur sehr eingeschränkt den ursprünglichen Zweck erfüllen. So ist der BER auch nach seiner Inbetriebnahme nicht unbedingt ein Quell der Freude für Flugreisende und das dort arbeitende Personal, dafür aber ein gefundenes Fressen für die Presse. Und fast selbstredend wurden Gutachten von Projektexperten ignoriert, Lessons Learned nach meiner Kenntnis nur hinter verschlossenen Türen gesammelt – sofern das überhaupt solche waren.

Die Lösungsversprechen der Superhelden

Wer diese “Ich-will-Aufgaben” lösen oder die “Ich-will-Projekte” stemmen möchte, braucht “Superhelden” – und tatsächlich finden sich in LinkedIn und XING immer wieder Angebote von Berater-Kolleg:innen mit ähnlich lautenden Versprechungen. Wahrscheinlich führt auch genau das dazu, dass der Heldenbegriff immer mehr in Verruf gerät – zu Recht, wie ich finde, denn er passt nicht wirklich zu Projekten, sondern ist eher der Ungewissheitspraxis zuzuordnen.²

Noch aufreibender wird es, wenn in dem Unternehmen die Disziplin Projektmanagement beim Management wenig Rückhalt hat und das Know-how darüber auch in der Führungsebene gering ist. Insbesondere fehlen in solchen Unternehmen oftmals wichtige Kenntnisse zu professionellem Ressourcenmanagement bzw. der Mitarbeiterauslastung.

Lesen solche Manager dann noch in Social Media von Superhelden, sind sie sicherlich angetan und sehen darin eine Chance, ihre Wünsche und Bedarfe mit Hilfe solcher „Helden“ umzusetzen. Gerne packt man auch noch andere Hype-Begriffe, wie z. B.

  • agil,
  • Selbstverantwortung oder
  • “New Work”

dazu.

Über die Aushöhlung auch dieser Begriffe haben sich in hier im t2informatik Blog bereits andere Kollegen sehr ausführlich geäußert. Letztendlich fördert das die beschriebene Selbstausbeutung “im Sinne der Sache”.

Love it, change it or leave it

Was aber tun, wenn Sie mit solchen sog. Projekten oder besser „Ich-will-Aufgaben“ beauftragt werden?

Als erfahrene Projekt-Managerin konnte ich solche Aufgaben ablehnen. Meine Begründung war natürlich nicht, dass sie nicht machbar waren, sondern dass ich sie nicht schaffe – ich will nicht ausschließen, dass es vielleicht doch Supermänner oder -frauen gibt, die das hinkriegt hätten. Um solch eine Ablehnung schlüssig herzuleiten, braucht es Erfahrung und Standing, das hatte auch ich als junge Nachwuchskraft nicht. Meine Hypothese ist, dass wir das in diesem Artikel beschriebene Phänomen deshalb auch so oft bei jungen Coachees sehen, die alten Hasen tauchen rechtzeitig ab.

Für die jungen Coachees sind Abtauchen oder Ablehnen keine wirkliche Option, denn sie verfügen nicht nur nicht über die notwendige Erfahrung, sondern sie sind eben auch aufgrund ihres Alters enthusiastisch und ehrgeizig und wollen Dinge bewegen. Sind sie auch noch von der Sinnhaftigkeit der Aufgabe überzeugt (Purpose wird hier durchaus auch gezielt manipulativ genutzt), gibt es kein Halten mehr, und es wird bis zur Erschöpfung gearbeitet. Burnouts bei jungen Menschen häufen sich entsprechend.

Als Coachin suche ich mit den Coachees nach Lösungen. Hierzu verlasse ich ganz transparent meine Rolle als Coach und werde zum Berater und Trainer für Projektmanagement. Und wir machen Visionsarbeit, um herauszufinden, was der/die Coachee eigentlich im Arbeitsleben will.

Das Schwierige an den sich so entwickelnden Lösungen ist, dass wir sie nicht in den Systemen finden, in denen “Ich-will-Aufgaben” üblich sind und in denen der/die Coachee aktuell arbeitet. Getreu dem schönen Motto “love it, change it or leave it” bleibt eigentlich nur der Weg raus aus dem System. Da diese Systeme gleichzeitig Karriere und Purpose versprechen, ist die Hoffnung auf “change it” allerdings bei vielen Coachees hoch und wird durch die aktuell so hochtrabenden Jobtitel weiter gefördert. Hier kommen Coaching und auch Beratung zu Projektmanagement an ihre Grenze.

Und nun?

Wenn aber die Situation durchaus als verfahren bezeichnet werden kann, was soll dann ein solcher Artikel?

Gerne möchte ich aufzeigen, dass der Projektbegriff in vielen Unternehmen manipulativ und falsch genutzt wird. Schauen Sie hin, ob Sie gerade wirklich Projektleiter oder eben “Ich-will-Umsetzender” sind.

Meine Coachees beschreiben die Situation in solchen sog. Projekten auch gerne als “Der Auftraggeber sitzt mir im Nacken” – das ist oft sogar physisch spürbar. Oder Auftraggeber und Führungskräfte sprechen von großen Gestaltungsspielräumen, die Begrenzungen derselben aber sind unklar und durchaus als stimmungsabhängig zu bezeichnen. Beides ist spätestens kurz nach dem Projektstart zu merken und ein untrügliches Zeichen, dass hier eine kaum lösbare Aufgabe mit Burnout-Potential lauert. Auch systemische Auftragsklärung³ kann die Lage klären, wird sie unterbunden, ist bereits frühzeitig klar, wohin die Reise gehen soll.

Fazit

Meine klare Empfehlung für Projektmenschen, die solche Situationen kennen und täglich erfahren: Suchen Sie sich eine andere Herausforderung!

Es gibt Unternehmen, die Projektmanagement professionell betreiben, und dazu gehört eben auch absolut zwingend, sich um die Machbarkeit und die mit der Aufgabenerfüllung verbundenen Aufwände zu kümmern. Das umfasst sowohl eine erste Planung zu Projektbeginn als auch eine laufende Planaktualisierung während der Projektlaufzeit, sowie eine angemessene Nachbetrachtung von Plan und Ist am Projektende. Nur so können ein Unternehmen und eben auch der Einzelne lernen und (die nächste Planung) verbessern. Ihre Gesundheit wird es Ihnen danken und an sich sollte ein solches Vorgehen auch im Interesse Ihres Unternehmens sein. Wo es all das nicht gibt, lauert Selbstausbeutung.

Und zu guter Letzt habe ich eine Bitte an meine Beraterkolleg:innen: Ich mag Eure Vielecke, vor allem dann, wenn es um die nachhaltige Wirkung von Projekten geht. Aber hey, die Praxis der jungen Menschen in Unternehmen sieht leider oft ganz anders aus. Dem sollten wir bei all unserer Begeisterung für (Führungskräfte-)Akademien und Selbstverantwortung nicht ausweichen, denn es besteht das Risiko, dass die Schere noch weiter auseinanderläuft – alle stürzen sich begeistert auf die neuen Ecken und vergessen die Basics des Projektmanagements, die eben zu “Ich-will-Aufgaben” nicht passen.

 

Hinweise:

[1] Weiteres zur Projektdefinition
[2] Wirksame Projektführung braucht keine Helden
[3] Eine mögliche Methode zur Auftragsklärung

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Astrid Kuhlmey hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

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Astrid Kuhlmey
Astrid Kuhlmey

Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.