Agile Aufgabenkritik im öffentlichen Sektor

Gastbeitrag von | 14.06.2021

Bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts in Stuttgart mit 400 Mitarbeitern zwangen der Industriewandel und die COVID-19-Pandemie zu Sparmaßnahmen. Die Einnahmen brachen weg und man wollte seiner sozialen Verantwortung gerecht werden, anstatt mitten in einer Krise Mitarbeiter zu entlassen. Daher beschloss die Organisation, die Arbeitszeit für alle Mitarbeiter zu reduzieren. Die Reduktion der Arbeitszeit machte die Überprüfung der zu erfüllenden Aufgaben erforderlich, denn mit weniger Zeit die gleichen Arbeiten zu erledigen, funktioniert nicht ohne Anpassungen.

Zwar hatte die Organisation bereits Erfahrungen mit Prozessverbesserungen im Rahmen eines Qualitätsmanagementsystems (DIN-ISO 9001) gemacht. Nun war es aber erforderlich, die Situation grundlegender zu betrachten. Dies erfolgte mittels einer „agilen Aufgabenkritik“. ValueRise Consulting erhielt den Auftrag zur Durchführung und ich möchte Ihnen gerne unser Vorgehen, sowie unsere Erfahrungen und Erkenntnisse beschreiben.

Aufgabenkritik – ein eher klassischer Ansatz

Die Aufgabenkritik ist ein im öffentlichen Bereich etabliertes Verfahren zur Prozessverbesserung. Sie besteht aus einer

  • „Zweckkritik“ und einer
  • „Vollzugskritik“.

Bei der Zweckkritik evaluiert man, welche Aufgaben in Zukunft erfüllt werden sollen. Die Vollzugskritik dient dazu, bei genau diesen Aufgaben die Effizienz zu erhöhen. Die Aufgabenkritik wird meist Top-Down durchgeführt, mit entsprechend negativen Effekten auf die Akzeptanz der Maßnahmen. Auch können die Kosten für externe Berater in solchen Fällen erheblich sein.

Agile Aufgabenkritik

Die Geschäftsführung entschied daher, die Aufgabenkritik agil durchzuführen. Ein Teil der Organisation hatte schon Erfahrungen mit agilen Prozessen gesammelt und darauf baute man nun auf. Das Thema „Agilität“ wurde allerdings vollkommen undogmatisch betrachtet. Statt sich auf bestimmte Methoden wie Scrum oder Kanban zu stürzen, wendete man sich agilen Prinzipien zu. Das bedeutete im vorliegenden Fall:

  1. Fokus auf die Menschen und ihre Bedürfnisse,
  2. Beteiligung möglichst aller Mitarbeiter im Prozess,
  3. Umsetzung kleiner Erfolge, statt auf den „Big Bang“ zu warten,
  4. Wachstum der eigenen Kompetenzen und dadurch minimale externe Begleitung.

Zu diesem Zweck setzten wir eine Workshopreihe mit 12 ganztägigen Veranstaltungen auf.

Online-Durchführung in Zeiten der Pandemie

Diese Workshops konnten wegen der drohenden Pandemiegefahr nur online stattfinden. Bei knapp 400 Teilnehmenden führte das zu Workshopgrößen von 16 bis 87 Personen. Der technische Erfahrungsschatz der Teilnehmenden variierte sehr stark. Auch die vorhandene Ausrüstung mit Laptops, Mikrofonen und Kameras war sehr heterogen.

Wir entschieden uns für die Tools Microsoft Teams und Mural. Zur Vorbereitung unserer Aufgabenkritik erstellten wir eine virtuelle Schnitzeljagd auf dem virtuellen Whiteboard. Außerdem befähigten wir eine kleine Gruppe von Mitarbeitern in der Nutzung der Videoapplikation und boten allen Mitarbeitern im Vorfeld ihrer jeweiligen Workshops Vorbereitungssitzungen an. Viele nahmen dieses Angebot gerne an. Leider mussten wir trotzdem in jedem Workshop ca. 30 Minuten für die technische Befähigung aufwenden, da es immer wieder Probleme gab. Manche Teilnehmer hatten auf die Vorbereitung verzichtet, manche hatten eine veraltete Programmversion zur Hand und manchmal stolperten wir über abgelaufene Lizenzen, da diese nur bei der Anwesenheit im Büro automatisch verlängert wurden, durch das ständige Homeoffice aber viele Mitarbeiter kaum noch vor Ort waren. Alles in allem funktionierten die Online-Workshops aber sehr gut und brachten die erhofften Ergebnisse.

Umfangreiche Unterstützung durch die Organisation

Die Organisation nahm das Thema sehr ernst. Dies wurde durch die Unterstützung auf drei Ebenen deutlich. Erstens unterstütze das Management auf allen Ebenen bis hin zum Hauptgeschäftsführer durch Kommunikation und Vorleben der Veränderungsbereitschaft. Zweitens gab es eine „Arbeitsgruppe Aufgabenkritik“, die sich vor allem um Koordination, Dokumentation und Kommunikation kümmerte. Drittens gab es sechs interne Moderatoren, die nach einer kurzen Ausbildungsphase in den Workshops aktiv unterstützten. Auch in der Vorbereitung waren sie unverzichtbar. Sie sorgten dafür, dass alle Mitarbeiter informiert und mit ersten Ideen in die Workshops kamen. Wer dies wollte, erhielt außerdem im Vorfeld eine technische Einführung von den Moderatoren.

Workshops mit allen Mitarbeitern

Die zwölf Ganztagesworkshops der Aufgabenkritik folgten alle dem gleichen Schema. Die eigentliche Arbeit erfolgte in kleinen Gruppen mit maximal fünf Personen. In der Gesamtgruppe teilten wir Ergebnisse und Informationen. So kamen auch introvertiertere Menschen zu Wort und deren Ideen gingen nicht verloren. Alle Gruppenergebnisse wurden auf einem gemeinsamen digitalen Whiteboard dokumentiert, so dass nichts durch die Gruppendynamik verloren ging.

Die Agenda der Workshops war stets identisch:

  1. Strategische Leitsätze sichten und Verbesserungsvorschläge machen.
  2. Die aus Sicht der Gruppe wichtigsten Aufgaben identifizieren.
  3. Die aus Sicht der Gruppe unwichtigsten Aufgaben identifizieren.
  4. Themen, bei denen die Gruppe keinen Konsens über die Wichtigkeit erzielt, aufschreiben.
  5. Aufgaben identifizieren, die optimiert werden sollen.
  6. Quick-Wins finden und die Operationalisierung planen.
  7. Open Space mit Themen, die für diese Gruppe relevant waren.

Während ValueRise die Hauptmoderation der Aufgabenkritik übernahm, kümmerten sich die internen Moderatoren in den Kleingruppen darum, den Fokus hoch und ausufernde Diskussionen gering zu halten.

Die Beschäftigung mit den strategischen Leitsätzen erfüllte zwei Aufgaben. Einerseits wurde wertvolles Feedback gesammelt, das nach den Workshops auch wirklich in eine Schärfung der Leitsätze mündete. Andererseits sorgten wir so dafür, dass alle Mitarbeiter bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge immer die Strategie vor Augen hatten. Die Identifikation der wichtigsten Aufgaben sorgte für Transparenz und Wertschätzung, denn oftmals wussten die Kollegen gar nicht voneinander, welche Aufgaben sie täglich erledigten. Die unwichtigsten Aufgaben waren die potenziellen Streichkandidaten. Manchen Teilnehmern fiel es schwer diese zu benennen, doch in den Kleingruppen gelang dies fast immer. In einigen Fällen konnten sich aber auch die Teilnehmer in den Kleingruppen nicht einigen und nahmen die entsprechenden Punkte dann im Bereich „kein Konsens“ mit auf.

Das Finden von Optimierungsideen ging hingegen leicht von statten und auch Quick-Wins wurden in großer Zahl gefunden. Einen Quick-Win definierten wir dabei als einen Verbesserungsvorschlag, der von einer Abteilung allein binnen maximal drei Monaten umgesetzt werden könnte. Die Verantwortung für diese Quick-Wins gaben wir direkt an die betroffenen Mitarbeiter, statt an die Führungskräfte. Das war neu für einige Abteilungen, sorgte aber für eine ganz neue Dynamik. Manche Verbesserungsvorschläge wurden noch während des jeweiligen Workshops umgesetzt.

Ständige Optimierung

Die Workshops optimierten wir im Verlauf immer weiter, indem wir als Moderatoren nach jeder Durchführung eine Retrospektive durchführten. So lernten wir beispielsweise schnell, dass wir die Führungskräfte und deren Mitarbeiter nicht in den gleichen Kleingruppen arbeiten lassen durften. Einerseits sagten die Mitarbeiter dann weniger und warteten auf ihre Chefs, bevor sie sich äußerten. Andererseits hatten die Führungskräfte das Bedürfnis, strategisch über Aufgaben nachzudenken (z.B. einen zentralen Shared Service für ein Thema einzurichten), während die Mitarbeiter sehr operativ unterwegs waren (z.B. Kaffeemarken abzuschaffen). Wir lösten diesen speziellen Fall, indem wir die Führungskräfte zwar im selben Workshop wie ihre Mitarbeiter beließen, sie aber in einer eigenen Kleingruppe parallel arbeiten durften.

Viele greifbare Ergebnisse

In den Workshops erarbeiteten die Mitarbeiter 257 Ideen für Aufgabenstreichungen, 768 Effizienzverbesserungen und 345 Quick-Wins. In den Workshops wurden darüber hinaus Teamgeist und Veränderungswillen gestärkt. Die große Mehrzahl der Mitarbeiter war danach in hohem Maße motiviert und bereit, auch große Veränderungen mitzugestalten.

Die Prozesse zur fortgeführten Aufgabenkritik auf Abteilungs- und Gesamtebene sind etabliert und können durch die ausgebildeten internen Moderatoren unterstützt werden. Quasi „nebenbei“ konnten wir außerdem die technische Kompetenz der gesamten Belegschaft erheblich steigern.

Es bleibt allerdings das Risiko, dass die Veränderungsbereitschaft auch schnell wieder abnehmen könnte, sofern die Mitarbeiter das Gefühl entwickeln, ihre Ideen würden nicht umgesetzt. Diese Sorge wurde vielfach geäußert. Ihr muss nun mit Offenheit, Transparenz und aktiver Kommunikation sowie sichtbaren Verbesserungen begegnet werden.

Fazit

Es ist uns gelungen, den klassischen Prozess der Aufgabenkritik agil umzusetzen. Dabei haben wir nahezu alle der vierhundert Mitarbeiter eingebunden und sie zu Beteiligten statt nur Betroffenen gemacht. Dies erfolgte mit großer Wertschätzung und dem Fokus auf den Bedürfnissen der Mitarbeiter. Kleine Schritte wurden in den Quick-Wins ausgearbeitet, größere Hebel sind ebenfalls identifiziert. Das alles geschah mit einem minimalen Einsatz externer Unterstützung.

Zwar ist die Organisation jetzt noch nicht agil. Jedoch hat sie zum ersten Mal ein agiles Vorgehen erfahren, lebt es im Themengebiet der Aufgabenkritik und hat so die Basis geschaffen, in Zukunft noch agiler zu werden, falls sie das möchte.

 

Hinweise:

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Dominik Maximini
Dominik Maximini

Dominik Maximinis Spezialität ist es, große Probleme in kleine Scheiben zu schneiden und zusammen mit den Betroffenen zu lösen. Das gelingt besonders gut beim Sparring auf Augenhöhe mit Entwicklungsleitern und anderen Führungskräften. Dominik ist seit mehr als 14 Jahren in der agilen Welt unterwegs. Er ist nicht nur selbst Führungskraft, sondern unterstützt seine Kunden auch als Agile Coach und Trainer. Ehrlich, kantig, pragmatisch und auf den Punkt.