Ach du liebe Ausschreibung
Ausschreibungen in Zeiten der Digitalisierung – oder: Wodurch gute Angebote erfolgreich behindert werden
Sind Sie gerade an einer Ausschreibung beteiligt? Vielleicht als Autor, der Inhalte dafür bereitstellt? Als Verantwortlicher für die Durchführung? Als Lieferant, der etwas anbietet?
Wenn Sie in der Automobilbranche arbeiten, dann haben Sie Glück. Hier ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ausschreibung strukturiert, die Anforderungen sind identifizierbar und einzeln greifbar, die Übermittlung erfolgt vollständig digital, und zwar so, dass der Empfänger der Anforderung diese einfach nur importieren muss und auf jede einzelne reagieren kann. Die Bearbeitung einer Ausschreibung kann dann ganz auf die Inhalte fokussieren.
Manch’ andere Branche ist da ganz anders aufgestellt.
Das tägliche Leben mit Ausschreibungen
Ausschreibungen werden in Word erstellt, als PDF exportiert (manchmal nur im Änderungsmodus!) und an den Lieferanten übermittelt.
Der Lieferant muss dann aus diesem PDF wieder etwas machen, mit dem er arbeiten kann. Handelt es sich um ein „richtiges“ PDF, dann geht das noch einigermaßen, ist es ein PDF, das aus einem Scan entstanden ist und Bilder enthält, muss erst einmal eine OCR vorgeschaltet werden. Zusätzlich erforderliche Tools und viel Handarbeit sind die Folge.
Die Inhalte sind oft juristisch geprägt, tief verschachtelt (selbst Aufzählungen mit 10 Schachtelungsebenen kommen vor), die Anforderungen nicht einzeln identifizierbar, missverständlich, unklar im Kontext, unvollständig beschrieben.
Wollen die Experten beim Lieferanten, die sich um den Import der Anforderungen kümmern müssen, sich mit den entsprechenden Experten beim Kunden austauschen, um zum Beispiel die Anforderungen in einem anderen Format bekommen zu können, ist das oft unmöglich. Die Kommunikation zwischen beiden Seiten läuft ausschließlich über die Projektleitung, und die hat oft ganz andere Probleme, als sich um andere Dokumentenformate zu kümmern.
Dies alles ist nicht etwa aus der Luft gegriffen, sondern kommt täglich in vielen Unternehmen dieses Landes vor (und weitere Beispiele gibt es zuhauf). Digital daran ist eigentlich nur, dass die Dokumente digital übersandt werden, zum Beispiel über ein Ausschreibungsportal. Der gesamte Prozess – die Erstellung der Ausschreibung, die Übermittlung, die Verarbeitung, die Rücksendung, das Auswerten – ist hochgradig analog.
Die pure Ineffizienz bei Ausschreibungen
Haben Sie sich schon einmal klar gemacht, welche Probleme diese heute üblichen Verfahren verursachen?
- Wie soll ein Angebot das eigentliche Problem des Kunden adressieren, wenn dieses so explizit nirgends beschrieben ist?
- Wie soll ein Angebot effizient erstellt werden – d.h. in möglichst hoher Qualität, mit möglichst geringen Kosten, mit möglichst hoher Kompetenz -, wenn die Anforderungen der Ausschreibung nur sehr schwer überhaupt in eine digital verarbeitbare Form gebracht werden können?
- Wie soll die Bearbeitung dieser Anforderungen auf die einzelnen Fachbereiche erfolgen, wenn nicht klar ist, wo eine Anforderung überhaupt anfängt, und wo sie aufhört?
- Wie sollen adäquate Lösungen angeboten werden, wenn Dinge extrem detailliert spezifiziert werden, der Grund dafür aber nicht ansatzweise erkennbar ist?
- Wie soll die beste Lösung für das Kundenproblem gefunden werden, wenn sich die Lösung ausschließlich an dem orientieren muß, was der Kunde sich bislang vorstellen kann?
- Wie soll eine Ausschreibung angemessen bearbeitet werden, wenn ein Großteil der ohnehin knappen Zeit bei der Angebotsbearbeitung auf die Aufbereitung der Ausschreibung verschwendet werden muss und das Budget der Lieferanten alleine hierdurch schon signifikant strapaziert wird?
- Wie sollen Fehler vermieden werden, wenn der gesamte Prozess hochgradig stör- und fehleranfällig ist?
Wie soll also das Ergebnis, also das angebotene Produkt oder die angebotene Leistung, die notwendige Qualität haben, wenn bereits während der Angebotsphase so ziemlich alle Hürden aufgestellt werden, derer man habhaft werden kann?
Das am Ende zu liefernde Produkt kann die wahren Anforderungen und Bedürfnisse des Kunden eigentlich gar nicht erfüllen, wenn bereits in dieser frühen Phase schwerwiegende Risiken geschaffen werden – Risiken, die die Qualität, die Kosten, die Leistungen direkt negativ beeinflussen.
Die Probleme der Ausschreibenden
Aber nicht nur die anbietenden Lieferanten sind von all diesen Problemen betroffen – schlimmer noch: Diese Probleme schlagen letztlich auf den Ausschreibenden zurück.
- Wie soll der Ausschreibende die eingehenden Angebote vernünftig vergleichen, wenn die Anforderungen nicht einzeln identifiziert sind?
- Wie soll einfach ein Gesamtbild zu einer Leistung, einer Funktion gewonnen werden, wenn sich eigentlich zusammengehörige Inhalte zu einzelnen Anforderungen an vielen, weit auseinander liegenden Stellen in den Ausschreibungen befinden?
- Wie sicher kann man sich sein, dass man wirklich versteht, was angeboten wurde – wenn zuvor nicht sichergestellt war, dass die Anforderungen eindeutig und unmissverständlich geschrieben wurden?
- Wie soll die Verarbeitung der Angebote effizient erfolgen, wenn die Lieferanten die Angebote genauso analog zurücksenden (müssen), wie sie die Ausschreibung erhalten haben – als Dokument, als Word, als PDF?
Die Probleme, die zum Zeitpunkt der Ausschreibung geschaffen werden, beeinflussen alle folgenden Phasen – selten positiv, und noch seltener kostenneutral!
Vielleicht wird damit ansatzweise klar, welche Bedeutung einem effektiven Anforderungsmanagement (AM) in Zeiten der Digitalisierung bereits zum Zeitpunkt der Ausschreibung zukommt.
Gestalten Sie die Arbeit mit Ausschreibungen besser
Die Automobilindustrie hat hier bereits vor vielen Jahren eine Lösung entwickelt, die sofort auch in anderen Branchen übernommen werden könnte, und die mit einem Wort beschrieben ist: ReqIF.
ReqIF steht für „Requirements Interchange Format“ und bezeichnet ein OMG-standardisiertes Format für den Austausch von Anforderungen. Praktisch jedes professionelle Werkzeug für das Management von Anforderungen im Markt – seien es günstige, einzelplatzbasierte Lösungen oder große, unternehmensweite wie DOORS oder Polarion – ist in der Lage, Anforderungen als ReqIF-Dateien zu exportieren und zu importieren.
Nutzen Sie ein solches Werkzeug zur Erstellung der Ausschreibung, haben Sie sofort alle Vorteile an der Hand:
- Die Anforderungen sind eindeutig identifiziert.
- Jede Anforderung steht für sich und kann in sich abgeschlossen spezifiziert werden.
- Anforderungen können mit Attributen versehen werden, um zum Beispiel die Verantwortung für eine Anforderung abzubilden und damit die Arbeit besser zu organisieren.
- Alle Anforderungen sind nur und ausschließlich an einem einzigen Ort vorhanden – es gibt keine Fragen wie „wo finde ich denn die aktuelle Version von…?“ mehr.
- Anforderungen bzw. Mengen von Anforderungen können versioniert werden. Wenn Sie also eine Version 1.0 definieren, ist exakt klar und nachvollziehbar, welche Anforderungen dazu gehören.
- Die Lieferanten bekommen einen Export, den sie ihn ihr eigenes AM-System problemlos importieren können. Besser noch: Sie können auch Aktualisierungen problemlos einstellen und Änderungen gegenüber der Vorversion einfach erkennen.
- Sie können genau festlegen, welche Inhalte an Ihre Lieferanten gehen, welche davon nur lesbar sein sollen, und welche Informationen durch Ihre Lieferanten ergänzt werden sollen.
- Die Lieferanten können ihre Antworten auf die Ausschreibungen ganz einfach in dafür vorgesehene Attribute schreiben, die wiederum auf dem Rückweg in Ihr eigenes System eingespielt werden können.
- Sie sehen damit sofort, wie jeder Anbieter auf jede einzelne Anforderungen geantwortet hat, ohne dass Sie noch irgendwelche Aufwände dafür haben.
Und das ist sicher nicht alles, was an Vorteilen auf beiden Seiten entsteht. Unnötig zu erwähnen, dass die Kosten und Risiken für den Ausschreibungsprozess, aber auch für das Produkt, um das es geht, deutlich reduziert werden.
Anforderungsmanagement als Teil der DNA
Das bedeutet nun nicht: „Wir schaffen uns so ein AM-Werkzeug an, dann wird alles besser.“ Ein AM-Werkzeug nützt nicht viel, wenn es nur als Ersatz für ein Office-Paket gesehen wird. Vielmehr bedeutet es: Anforderungsmanagement muss in die DNA Ihres Unternehmens einfließen.
Jeder, der in Ihrem Unternehmen Anforderungen schreibt, muss dieses Handwerk beherrschen. Wer auch immer an einer Ausschreibung beteiligt ist, muss verstehen, welche Bedeutung der Formulierung von Anforderungen zukommt. Welche Kriterien es für die Qualität von Anforderungen gibt. Wie sinnvoll mit Anforderungen umgegangen wird, und wie die notwendigen Prozesse Schritt für Schritt aufgebaut und weiterentwickelt werden.
Jeder Beteiligte muss ein Verständnis der Prinzipien des Managements von Anforderungen besitzen – Anforderungen als „Single Source of Truth“.
AM-Experten auf beiden Seiten müssen direkt miteinander kommunizieren können, wenn es Fragen zum Datenaustausch gibt – damit wird die sonst übliche „Stille Post“ vermieden. Der Datenaustausch kann dann schnellst- und bestmöglich stattfinden, die Anforderungen und die Angebote stehen den Fachbereichen ohne signifikante Verzögerung und ohne Qualitätsverlust zur Verfügung.
Kurz: Ihr Unternehmen muss Anforderungsmanagement als Rückgrat seiner Wertschöpfung verstehen. Wenn das erreicht ist, wird ein AM-Werkzeug und der Umgang mit Anforderungen so selbstverständlich sein, wie es heute der Umgang mit einem Office-Paket ist.
Stellt sich also nur noch die Frage: Wann beginnen Sie damit, Ihre Ausschreibungen nicht mehr analog oder pseudo-digital, sondern wirklich digital durchzuführen?
Hinweise:
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Gerhard Schneider hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Gerhard Schneider
Gerhard Schneider ist seit über 20 Jahren mit den vielfältigen Fragen des Anforderungsmanagements in großen Unternehmen befasst. Bei der Gestaltung und Einführung von Prozessen im Rahmen der Produktentwicklung kann er mit seinen Erfahrungen als Unternehmer, Gründer und Coach Menschen dabei helfen, sich und ihr Unternehmen zukunftssicher weiterzuentwickeln. Dabei achtet er darauf, die gewohnten Strukturen und Verhaltensweisen zu einer Haltung zu entwickeln, die sich konsequent am Menschen, an der Wertschätzung seiner Leistungen und einer konstruktiven Kommunikation ausrichtet, und die das eigenständige Denken und Handeln, Verbindlichkeit und Verantwortung einfordert und belohnt.