Wissens- und Erfahrungstransfer bei Ruhestandssituationen
Der drohende Wissens- und Erfahrungsverlust durch den bevorstehenden Ruhestand der Baby-Boomer-Generation: Herausforderungen und Lösungsansätze für die IT-Branche
Mit der nahenden Pensionierung der Baby-Boomer-Generation stehen Unternehmen, auch in der IT-Branche, vor einer gewaltigen Herausforderung: dem drohenden Verlust von über Jahrzehnte aufgebautem Wissen und Erfahrungsschatz. Während der Fokus häufig auf der Entwicklung neuer Technologien und Arbeitsweisen liegt, birgt der Übergang dieser Generation in den Ruhestand eine unterschätzte Gefahr – Wissenslücken, die die Stabilität und Effizienz von IT-Systemen erheblich beeinträchtigen können.
In diesem Artikel möchte ich die spezifischen Probleme des Wissenstransfers in der IT-Branche analysieren und anschließend einen möglichen Lösungsansatz vorstellen, der nicht nur in der IT-Branche, sondern auch in anderen Branchen anwendbar ist.
Die Bedeutung von implizitem Wissen in der IT-Branche
Die IT-Branche hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Dennoch gibt es zahlreiche Systeme, Technologien und Prozesse, deren Wurzeln weit in das letzte Jahrtausend zurückreichen. Insbesondere ältere Programmiersprachen wie COBOL und Fortran, die in vielen Branchen immer noch in unternehmenskritischen Anwendungen eingesetzt werden, stehen hier im Mittelpunkt. Mit dem bevorstehenden Ruhestand erfahrener Entwickler schwindet das Wissen über diese „alten“ Technologien rapide – ein Bereich, der für jüngere Generationen oft weder relevant noch attraktiv erscheint.
Ähnlich verhält es sich mit den so genannten IT-Altsystemen: Große Unternehmen, vor allem im Finanz-, Versicherungs- und öffentlichen Sektor, betreiben nicht selten noch zentrale Anwendungen auf Großrechnersystemen. Das Wissen um deren Wartung, Weiterentwicklung und Fehlerbehebung konzentriert sich oft auf wenige langjährige Mitarbeiter.
Diese Herausforderung betrifft aber nicht nur die Softwareentwicklung. Auch im Betrieb und Service, etwa bei der Administration von Netzwerken, Servern und Sicherheitssystemen, hat sich über die Jahre spezifisches Wissen angesammelt. Vieles davon ist nicht formal dokumentiert, sondern existiert als „unbewusstes Wissen“ in den Köpfen erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Herausforderungen beim Wissenstransfer
Die Weitergabe von Wissen und Erfahrung ist in der IT-Branche aufgrund der hohen Komplexität und Spezialisierung besonders anspruchsvoll. Folgende Faktoren erschweren den Prozess zusätzlich:
- Unbewusstes Wissen: Vieles, was erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, hat sich über Jahre in der Praxis angesammelt und ist kaum formalisiert. Die Weitergabe dieses Wissens erfordert eine bewusste Reflexion und Strukturierung.
- Komplexität der Systeme: IT-Systeme sind oft ineinander verschachtelt und die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Komponenten selten vollständig dokumentiert.
- Fehlende Dokumentation: Historisch gewachsenes Wissen wurde oft nicht umfassend dokumentiert – sei es aus Zeitmangel oder weil es als selbstverständlich angesehen wurde.
- Fluktuation und Zeitdruck: Neben der Alterspyramide gibt es in der IT-Branche eine hohe Fluktuation. Wissen geht oft schon vor der Pensionierung verloren, weil Mitarbeitende das Unternehmen verlassen, ohne dass ihr Wissen weitergegeben wurde.
Folgen des Wissensverlustes
Der Verlust von kritischem Wissen hat weitreichende Folgen:
- Effizienzverlust: Ohne detailliertes Wissen können Prozesse ins Stocken geraten. Es dauert länger, Probleme zu lösen oder neue Funktionen zu implementieren.
- Erhöhte Kosten: Fehlendes Know-how führt zu teuren externen Beratungs- und Supportleistungen, z.B. für Altsysteme.
- Sicherheitsrisiken: Schlecht gewartete oder nicht verstandene Systeme sind anfälliger für Sicherheitslücken.
- Abhängigkeit von Einzelpersonen: Wenn nur wenige Mitarbeitende ein System oder einen Prozess verstehen, entsteht eine ungesunde Abhängigkeit von diesen Schlüsselpersonen.
Strategien zur Sicherung und zum Transfer von Wissen und Erfahrung
Angesichts dieser Herausforderungen ist ein strukturierter Ansatz zur Wissenssicherung und zum Wissenstransfer von entscheidender Bedeutung. Ein bewährtes System, das in verschiedenen Branchen erfolgreich eingesetzt wird, ist das Training Within Industry (TWI), insbesondere das Job Instruction Training (JIT). Dabei sollte man sich nicht von dem Begriff „Industry“ täuschen lassen, die Prinzipien sind universell anwendbar, auch für informationstechnische Branchen und Tätigkeiten.
Training Within Industry (TWI) – ein bewährter Ansatz
TWI und das Job Instruction Training wurden ursprünglich in den 1940er Jahren in den USA entwickelt, um neue Bevölkerungsgruppen in kurzer Zeit an ihnen bis dahin völlig fremde Branchen und industrielle Arbeitsprozesse heranzuführen. Ab 1945 verbreitete es sich auch in Europa und Asien. In Deutschland basiert die Handwerks- und Industriemeisterausbildung mit ihrer vierstufigen Methode der Arbeitsunterweisung wesentlich auf den Job Instructions. In Japan bildete das Training Within Industry bei Toyota die Grundlage für deren Produktionssystem und damit auch für das Lean Management, wie es ab den 80er und 90er Jahren in der westlichen Wirtschaft weite Verbreitung fand.
Job Instruction Training (JIT)
Dieses Modul konzentriert sich auf die Erstellung klarer und präziser Arbeitsanweisungen und damit auf die Schaffung und Förderung von Arbeitsstandards. In der IT-Branche könnten dies detaillierte Schritt-für-Schritt-Verfahren sein für
- die Wartung von Altsystemen,
- die Fehlerbehebung bei bestimmten Anwendungen oder
- die Konfiguration von Netzwerken und Servern sein.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Dokumentation von „Warum-Fragen“ – warum ein bestimmter Schritt notwendig ist oder welche Auswirkungen Fehler und Abweichungen haben können. Diese Hintergründe machen das Wissen nicht nur nachvollziehbar, sondern helfen auch, es in neuen Kontexten anzuwenden. Durch die gezielte Reflexion anhand bestimmter Fragen gelingt es den Experten, auch unbewusst gewordene Kompetenzen wieder auf eine bewusste Ebene zu bringen, was eine notwendige Voraussetzung für den Transfer darstellt.
Job Transfer Training (JTT)
JTT ist meine Weiterentwicklung der Job Instruktion und fördert den Kompetenztransfer durch gezielte Tandemarbeit und Mentoring. Dabei arbeitet ein erfahrener Mitarbeiter eng mit einem Nachfolger zusammen, um praktisches Wissen direkt am Arbeitsplatz zu vermitteln. Im IT-Bereich könnten beispielsweise Administratoren oder Entwickler gemeinsam an komplexen Systemen arbeiten, wobei der erfahrene Mitarbeiter nicht nur das „Was“ und „Wie“, sondern auch das „Warum“ erklärt.
Umsetzung in die Praxis
Die Anwendung von TWI und seiner Elemente stellt an sich schon eine strukturierte Vorgehensweise dar, die sich aufgrund ihres industriellen Ursprungs sehr gut in den Arbeitsalltag integrieren lässt, da die Trainingsformen und -zeiten „kompatibel“ sind und bereits nach kurzer Zeit greifen, ohne die Experten von ihrer täglichen Arbeit zu entfremden.
Das Job Transfer Training trägt den besonderen Anforderungen des Wissens- und Erfahrungstransfers von Fachexperten in besonderem Maße Rechnung. Gleichzeitig fördert die Koppelung mit den Job Instructions auch die Standards in der Leistungserbringung und verhindert das große bzw. böse Erwachen, wenn diese Experten in absehbarer Zeit in den wohlverdienten Ruhestand gehen und nicht mehr zur Verfügung stehen.
Übrigens: Die beschriebenen Herausforderungen und Lösungsansätze sind keineswegs auf die IT-Branche beschränkt. Ähnliche Szenarien finden sich beispielsweise in allen Branchen der Fertigungsindustrie, im Baugewerbe und Handwerk oder im Gesundheitswesen. Überall dort, wo Expertenwissen und praktische Erfahrung eine zentrale Rolle spielen, stellt der drohende Wissensverlust ein Risiko dar.
Ein Beispiel ist das produzierende Gewerbe, in dem ältere Facharbeiter über jahrzehntelange Erfahrung mit spezifischen Maschinen und Produktionsprozessen verfügen. Auch hier können TWI-Ansätze wie JIT und JTT helfen, dieses Wissen systematisch zu sichern und an die nächste Generation weiterzugeben.
Fazit
Der drohende Wissens- und Erfahrungsverlust durch das Ausscheiden geburtenstarker Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ist eine der größten Herausforderungen für Unternehmen – auch in der IT-Branche. Mit Methoden wie Training within Industry, Job Instructions und Job Transfer Training können Unternehmen diesen Verlust gezielt abfedern und ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern.
Durch die bewusste Fokussierung auf die Sicherung und Weitergabe von Wissen und Erfahrung wird nicht nur Kontinuität geschaffen, sondern auch der Grundstein für eine Kultur des Lernens und der Zusammenarbeit gelegt. Der Übergang in den Ruhestand wird so nicht zum Risiko, sondern zur Chance, nachfolgenden Generationen ein wertvolles Wissensfundament zu hinterlassen.
Hinweise:
Hier finden Sie weitere Informationen zu Training Within Industry (TWI), u. a. die Bedürfnisse von Führungskräften, Prinzipien und einen Selbsttest. Zusätzlich bietet Götz Müller ein TWI-Programm mit JIT, JRT und JMT (Job Methods Training) an. Definitiv einen Blick wert, wenn Sie Gefahr laufen, Wissen und Erfahrung zu verlieren.
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Götz Müller hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
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Götz Müller
Götz Müller beschäftigt sich seit 1993 mit dem Management von Entwicklungsprojekten, seit 1998 mit Veränderungsprojekten und Kontinuierlichen Verbesserungsprozessen und seit 2006 mit Neuro-Linguistischem Programmieren. Er ist ausgebildeter Lean Moderator, Lean Six Sigma Black Belt und NLP Master Practitioner. Seit 2009 unterstützt er als selbstständiger Berater, Trainer und Coach Kleinbetriebe, Mittelständler, Handwerksbetriebe aber auch Konzernstandorte in Fragen der Prozessoptimierung und des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
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