Welche Rahmenbedingungen braucht Selbstorganisation?
Hand aufs Herz: Die meisten von uns wollen gerne in einem Umfeld arbeiten, in dem zumindest ein Stück weit auf Selbstorganisation und Eigenverantwortung gesetzt wird.
Mir ist noch niemand begegnet, für den „gute Zusammenarbeit“ eine Gruppe passiver Befehlsempfänger bedeutet, die von einem klischeehaften „Chef“ kleinteilig angeleitet werden. Gute Zusammenarbeit bedeutet für die meisten ein engagiertes, konstruktives Miteinander, in dem Menschen Verantwortung übernehmen, Probleme proaktiv angehen und Arbeitsstrukturen regelmäßig überprüfen und anpassen. Auch wenn der Organisationsalltag diesem Ideal nicht immer entsprechen mag, fehlt es doch zumindest nicht am nötigen Willen.
Auf der anderen Seite wird Selbstorganisation – das (Mit-)Gestalten von Regeln und Prozessen durch die beteiligten Menschen selbst – oft als riskant wahrgenommen und der mögliche Nutzen gegenüber ihren Risiken eines Scheiterns bezweifelt. Manche machen daraus eine Charakterfrage: Partizipation sei ein schönes Ideal, in der Praxis aber nur mit den „richtigen“ Menschen möglich. Dabei wird impliziert, dass man selbst offenbar über die „falschen“ Menschen verfügt, auch wenn das selten so deutlich ausgesprochen wird.
Zeit für einen kurzen Faktencheck: Menschen leben seit Jahrtausenden in selbstorganisierten Gemeinschaften zusammen – nochmal, „selbstorganisiert“ meint hier, dass eine Gruppe ihre internen Normen und Abläufe gemeinschaftlich definiert. Ich selbst arbeite seit Jahren in und mit Teams, die genau das jeden Tag tun und damit sehr erfolgreich sind. Es ist unstrittig, dass Selbstorganisation als Konzept grundsätzlich funktionieren kann. Gleichzeitig wissen wir alle aus eigener Erfahrung, dass eine sich selbst überlassene Gruppe eben nicht zwangsläufig Erfolg hat. Zusammenarbeit kann auf vielfältige Weise scheitern: eskalierende zwischenmenschliche Konflikte, egoistisches Durchsetzen von Einzelinteressen, Verantwortungsverweigerung, sozialer Zerfall der Gruppe in Einzelkämpfer, dauerhafte Uneinigkeit über Ziele und Prioritäten, verschleppte Entscheidungen, und so weiter. Dass man nach solchen Erfahrungen den Schluss ziehen kann, dass das alles mit einem klaren Anführer und festen Regeln nicht passiert wäre, ist nur verständlich. Gleichzeitig sind diese Probleme natürlich nicht neu.
Selbstorganisation und das Allmende-Problem
Der Biologe Garrett Hardin zog schon 1968 in seinem berühmten Aufsatz über die „Tragödie der Allmende“1 ein vernichtendes Fazit: Unklare Verantwortlichkeiten und fehlende Konsequenzen in einer selbstverwalteten Gemeinschaft führten dazu, dass alle nur ihre eigenen Interessen verfolgten, was zwangsläufig zum Kollaps gemeinsam genutzter Ressourcen führen müsse. Dass Hardin dabei über das (mittlerweile vermutlich gelöste) Problem globaler Überbevölkerung schreibt2 (und als Antwort unter anderem staatliche Geburtenkontrolle im Stil Chinas vorschlägt), hat die Wirtschaftswissenschaften nicht daran gehindert, seine spezifischen Aussagen zu allgemeinen Marktprinzipien zu erklären. Ich selbst habe in BWL-Vorlesungen noch gelernt, es gäbe nur zwei Auswege aus dem Allmende-Problem: konsequente Privatisierung oder strenge staatliche Kontrolle. Bei jeder anderen Form von kollektiver Verantwortung müsse man damit rechnen, dass egoistische Einzelinteressen das Gemeinschaftsgut bis zum Zusammenbruch ausnutzten.
Tatsächlich lassen sich Phänomene wie Social Loafing und Selbstbedienungsmentalität nicht nur am freien Markt, sondern auch in Organisationen regelmäßig beobachten. Verständlich, wenn man angesichts solcher Risiken die wichtigen Entscheidungen in einer Organisation lieber einer zentralen Führungsperson überlässt („Single Wringable Neck“). Viele Themen sind zu sensibel, um sie auf gut Glück in die Hände einer unstrukturierten Gruppe zu geben. Der Preis für zentralisierte Entscheidungen ist leider oft Lethargie und Desinteresse bei den übrigen Beteiligten, die sich kontrolliert und gegängelt und nicht wirklich als kompetente Profis ernst genommen fühlen.
Das Kernproblem der fatalistischen Allmende-Theorie ist aber, dass sie viele reale Daten und Erfahrungen nicht erklären kann. Es gibt zahllose Beispiele für Gruppen und Gemeinschaften, die sich sehr erfolgreich selbst verwalten und daraus hohes Engagement und starke gemeinsame Identität schöpfen. Jeder von uns hat schon Teams erlebt, die ohne ständige Kontrolle einer Führungskraft erfolgreich ihre Ziele erreicht haben. Dass all diese Gruppen aus außergewöhnlich altruistischen Übermenschen bestehen, ist unwahrscheinlich. Ein wesentlicher Unterschied liegt vielmehr in Rahmenbedingungen und Strukturen: Unter bestimmten Bedingungen funktioniert Selbstorganisation gut, unter anderen Bedingungen scheitert sie.
Designprinzipien für selbstorganisierte Strukturen
Diese Bedingungen für Selbstorganisation kann man schaffen, wenn man weiß, worauf es ankommt. Eine Pionierin auf diesem Feld war die amerikanische Politikwissenschaftlerin Dr. Elinor Ostrom, die für ihre Untersuchung selbstorganisierter Strukturen 2009 den Wirtschaftsnobelpreis3 verliehen bekam. In ihrer langjährigen Arbeit identifizierte sie acht zentrale Designprinzipien4, die den Erfolg selbstverwalteter Strukturen wahrscheinlicher machen, und die meiner Erfahrung nach für die Arbeit mit agilen und selbstorganisierten Teams von kritischer Wichtigkeit sind. Hier sind sie in einer für Teams und Organisationen leicht angepassten Form:
1. Klar abgegrenzte Mitgliedschaft
Eine Gruppe kann nur verbindliche Regeln und Abläufe etablieren, wenn klar ist, wer dazugehört und wer nicht. Anonymität oder ständig wechselnde Mitglieder machen es unmöglich, Erwartungen aufzubauen und Regelverstöße zu sanktionieren. Erfolgreiche selbstorganisierte Teams sind stabil, man kennt sich und erinnert sich bei Bedarf gegenseitig an die Regeln. Freiwillige Mitgliedschaft fördert diese Prozesse: Einem Team aus freien Stücken beizutreten, erzeugt die nötige Bereitschaft, sich an die dort geltenden Regeln zu halten.
2. Lokal angepasste Regeln und Strukturen
Insbesondere dann, wenn es keinen zentralen „Machthaber“ gibt, ist die soziale Akzeptanz von Regeln und Strukturen absolut entscheidend. Dazu müssen sie von den Menschen vor Ort als hilfreich, nicht als behindernd oder unsinnig angesehen werden. Arbeitsumgebungen unterscheiden sich stark voneinander, daher müssen auch Prozesse und Standards immer ein Stück weit auf lokale Bedingungen angepasst werden können. Zentral definierte Vorschriften mögen Kosteneffizienz versprechen – wer aber Engagement fördern will, sollte ein gewisses Maß an Vielfalt in der Organisation aushalten können. Das bedeutet nicht, dass alle tun können, was sie wollen – die Tatsache, dass Regeln lokal anpassbar sind, macht sie nicht weniger verbindlich.
3. Gemeinsam getroffene Entscheidungen
Menschen sind gerne bereit, sich an Vorgaben zu halten, wenn sie diese persönlich als sinnvoll ansehen. Sie mitgestalten und an den eigenen Arbeitskontext anpassen zu können ist daher ein wichtiges Ritual, das wir aus agilen Organisationen in Form von Retrospektiven oder Governance-Meetings kennen. Gemeinschaftliche Entscheidungen brauchen zwar oft etwas mehr Zeit und gute Methodik, erzeugen aber den notwendigen „Buy-In“, um sie erfolgreich umsetzen zu können. In der Praxis ist hier eine Balance zu finden: Jede Detailentscheidung mit dem kompletten Team zu besprechen wäre mühsam und langwierig, gleichzeitig dürfen Entscheidungen durch Einzelne nicht die gemeinsame Verantwortung der Gruppe in Zweifel ziehen. Konsultationsbasierte Entscheidungsmethoden5 haben sich hier in der Praxis besonders bewährt.
4. Hohe laufende Transparenz
Erfolgreiche selbstorganisierte Teams basieren nicht auf naivem Vertrauen, sondern auf Transparenz, wechselseitiger Verantwortung und hoher Zuverlässigkeit. Regeln haben wenig Wert, wenn Gruppenmitglieder ihre Einhaltung nicht überprüfen können. Teams brauchen daher eine laufende Übersicht über den aktuellen Arbeitsstand, ein- und ausgehende Informationen und Ressourcen sowie die Entscheidungen und Handlungen ihrer Mitglieder. Hierzu gehört ein breites Spektrum von Maßnahmen, von der Nutzung gemeinsamer Taskboards, das Etablieren von „Informationsmarktplätzen“ über regelmäßige Check-Ins bis hin zur lückenlosen Nachverfolgung von Budgets oder einer Teamkasse.
5. Angemessene Sanktionen für Fehlverhalten
Regeln, deren Missachtung keine Konsequenzen hat, bleiben wirkungslos. Gleichzeitig dürfen wir anerkennen, dass Menschen sich irren, Fehler machen oder einfach mal einen schlechten Tag haben können. Regelverstöße können im Einzelfall gerechtfertigt oder sogar notwendig sein6. Erfolgreiche Teams reagieren daher differenziert auf mögliches Fehlverhalten – von schlichtem Ansprechen einer Regel über sanfte Ermahnung für kleinere Versehen („Mach es nächstes Mal bitte, wie wir es vereinbart haben“) bis hin zum Entzug von Privilegien oder sogar Ausschlussmechanismen, mit denen notorische Regelbrecher aus der Gruppe entfernt werden können. Oft sorgt schon das Wissen über diese Sanktionsmöglichkeiten dafür, dass ihr Einsatz selten wirklich nötig ist.
6. Einfach zugängliche Mechanismen zur Konfliktlösung
Wir können nicht davon ausgehen, dass Interessen und Vorstellungen unserer Gruppenmitglieder immer deckungsgleich sein werden – tatsächlich sind unterschiedliche Perspektiven und Kompetenzen in Teams ja ausdrücklich erwünscht. Menschen werden daher im Alltag in Konflikte miteinander geraten. Meistens können diese Konflikte untereinander geklärt werden, wenn das aber misslingt, können sie eskalieren und gemeinsame Ziele in Gefahr bringen. Für diese Fälle braucht es klare Mechanismen zur Streitbeilegung. Von Gruppenabstimmungen über neutrale Mediationsangebote bis hin zur Entscheidung durch eine höhere Instanz ist hier einiges denkbar. Wichtig ist vor allem, dass diese Möglichkeiten bekannt und jederzeit unkompliziert zugänglich sind, und dass es im Team klare Erwartungen gibt, für Meinungsverschiedenheiten selbst eine konstruktive Lösung zu suchen: „Es ist in Ordnung, unterschiedlicher Meinung zu sein, aber nicht, sich darüber wochenlang zu streiten.“
7. Respektiertes Recht auf Selbstverwaltung
Selbstorganisierte Teams sind nicht im Vakuum unterwegs, sondern in der Regel in einen größeren, oft hierarchisch organisierten Kontext eingebettet. Damit das Team seinen Verantwortungsbereich frei und unkompliziert gestalten kann, braucht es klare Vereinbarungen über die Grenzen dieses Verantwortungsbereichs, und glaubwürdige Zusagen, dass das Umfeld Entscheidungen des Teams respektieren wird.7 Werden Teamentscheidungen willkürlich von außen missachtet oder überstimmt, geht das Interesse, sich in die Gestaltung des Bereichs einzubringen, schnell verloren.
8. Gute Integration in größere Strukturen
Neben Kontaktpunkten in eine Hierarchie haben die meisten Teams weitere Abhängigkeiten, etwa zu anderen Teams oder Teilen der Organisation. Die Definition und Arbeit an diesen Nahtstellen sollte das Team ebenfalls selbst leisten und sich eigeninitiativ in größere Kooperationsnetzwerke integrieren, in denen etwa Fragen von strategischer Tragweite geklärt werden. Das Umfeld kann unterstützen, wo es nötig ist.
Schlussgedanken
Wenn wir daraus die wichtigsten Grundsätze für erfolgreiche Selbstorganisation in Teams zusammentragen, kommen wir auf eine Liste wie etwa die folgende:
- Feste Mitglieder mit stabilen Beziehungen
- Freiwilliger Beitritt auf Basis klarer Absprachen
- Klare, aber realistische Leistungserwartungen auf gemeinsam festgelegte Ziele
- Explizit vereinbarte, lokal angepasste Regeln und Abläufe
- Regelmäßiges Überprüfen und Anpassen der Strukturen durch die Gruppe selbst
- Fokussierte und effiziente Entscheidungsfindung, u.a. das Vermeiden von Konsenssuche („disagree and commit“)
- Hohe interne Transparenz
- Differenzierte Sanktionsmöglichkeiten durch die Gruppe
- Einfach zugängliche Mechanismen zur Bearbeitung und Lösung von Konflikten
- Vom Umfeld ausdrücklich respektierte Selbstverwaltung, inklusive klar abgegrenzter Verantwortungsbereiche des Teams
- Enge Vernetzung mit anderen Teams und Stakeholdern in der Organisation
Es wird deutlich, dass erfolgreiche Selbstorganisation in Teams wenig mit chaotischem „Free for all“, und umso mehr mit Verbindlichkeit, Interessenausgleich und gegenseitiger Disziplinierung zu tun hat. Der Schlüssel hierzu ist, dass Gruppenmitglieder diese soziale Kontrolle akzeptieren und als wertvoll und notwendig anerkennen. Diese Entscheidung klingt nur auf den ersten Blick nach einer Aufgabe persönlicher Freiheiten. Hardin selbst schreibt dazu:
„Was bedeutet ‘Freiheit’? Als Menschen sich darauf einigten, Gesetze gegen Raub zu erlassen, wurde die Menschheit freier, nicht unfreier. Individuen, die in der Logik der Allmende gefangen sind, sind nur frei, den allgemeinen Ruin herbeizuführen; sobald sie die Notwendigkeit des gegenseitigen Zwangs erkennen, werden sie frei, andere Ziele zu verfolgen.“8
Gleichzeitig ist offensichtlich, wie sehr sich ein solches Team von einer Gruppe unterscheidet, die in fröhlicher Naivität sich selbst überlassen wurde, im Vertrauen darauf, dass gruppendynamische Prozesse schon irgendwie Lösungen generieren werden. Die Mitarbeit in erfolgreichen selbstorganisierten Teams kann herausfordernd und anstrengend sein, aber eben auch konkrete Mehrwerte erzeugen – für alle Beteiligten.
Hinweise:
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[1] Hardin, Garrett (1968). The tragedy of the commons. Science 162.
[2] How Did The World Population Change?
[3] Der korrekte Name der Auszeichnung ist der „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“.
[4] Ostrom, Elinor (1990). Governing the Commons. Cambridge University Press.
[5] Beispielmethoden etwa bei Oestereich, Bernd & Schröder, Claudia (2017). Das kollegial geführte Unternehmen. Vahlen, S.186ff.
[6] Siehe z.B. Kühl, Stefan (2020). Brauchbare Illegalität: Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. campus.
[7] Meine Kollegin Leonie Heiß hat ein Werkzeug für diese Vereinbarungen hier bereits vorgestellt: Wie arbeitet ein radikal selbstorganisiertes Team?
[8] Siehe [1], S. 1248. Übersetzung des Autors.
Weitere Literaturtipps:
Brinkmann, Babette & Schattenhofer, Karl (2022): Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation. Vahlen.
Helfrich, Silke & Bollier, David (2015). Die Welt der Commons. transcript.
Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Drei Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten Transformationen im deutschsprachigen Raum. Aktuell berät er als Seniorberater für Chili and Change Kunden deutschlandweit zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erkenntnis, dass sich besonders erfolgreiche Teams oft durch Aspekte wie freiwillige Mitgliedschaft, hohes Engagement und klare interne Strukturen auszeichnen. Wie man diesen Zustand als Team erreicht, davon handelt sein Fachbuch Selbstorganisation im Team. Sehr lesenswert!
Diesen Beitrag finden Sie auch im kostenlosen Blogpaper Selbstorganisation – Sechs Perspektiven auf Selbstorganisation.
Kai-Marian Pukall hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Kai-Marian Pukall
Kai-Marian Pukall arbeitet als Organisationsentwickler für die Seibert Media GmbH. Seit vielen Jahren begleitet er agile Teams, immer mit dem Ziel, die Zusammenarbeit wertvoll und professionell, einfach und menschenfreundlich zu gestalten. Den Lean-Grundsatz “Eliminate Waste” wendet er bevorzugt auf alles an, was nach Methoden- und Businesstheater riecht.