Die Vielfalt von Shared Leadership
Ich habe häufig mit Fach- und Führungskräften zusammengearbeitet, die sich (Führungs-) Aufgaben mit anderen Menschen teilen. Je mehr ich mich mit dem Konzept des Shared Leadership beschäftige, desto deutlicher wird mir, dass es viele verschiedene Begriffe dafür gibt, aber keine einheitliche Definition oder klare Verwendung. In diesem Artikel werde ich versuchen, eine Art Lexikoneintrag zu erstellen, um mehr Klarheit in die Begriffswelt des Shared Leadership zu bringen.
Shared Leadership: Die Basis
Shared Leadership, auch bekannt als verteilte Führung, ist ein Oberbegriff, der im Englischen als „umbrella term“ bezeichnet wird. Es bezieht sich auf die Idee, dass Führung nicht allein von einer Person ausgeübt werden sollte, sondern auf mehrere Personen verteilt werden kann. Die deutsche Übersetzung „verteilte Führung“ hilft dabei, nicht automatisch von einer Beteiligung von nur zwei Personen auszugehen, wie es der Begriff „geteilte“ Führung suggerieren könnte. Stattdessen öffnet sie den Raum für die Vorstellung, dass Führung in Gruppen aufgeteilt werden kann.
In der Praxis beobachte ich drei Anwendungsmöglichkeiten von Shared Leadership, in denen das Konzept zum Tragen kommen kann. Lassen Sie uns also unseren Lexikoneintrag mit diesen Szenarien beginnen:
1. Teams und ihre Führungskraft
Wenn Teams und ihre Führungskraft den Anspruch haben, selbstorganisierter zu arbeiten bzw. Verantwortung dezentraler zu verteilen und ich dazu Workshops (z.B. mit Hilfe des Shared Leadership Compass¹) durchführe, dann ist das ein Anwendungsfall von Distributed Leadership. Statt alle Verantwortungsbereiche auf die Führungskraft zu schieben, schauen wir gemeinsam, wo im Team die verschiedenen Verantwortungsbereiche der Führung am besten angesiedelt sind. Dabei berücksichtigen wir die Motivation und Kompetenz aller Teammitglieder. Einige dieser Teams haben einen Bezug zum agilen Projektmanagement und sind durch Frameworks wie Scrum und Kanban mit verteilter Verantwortung vertraut.
2. Ein Projektteam / eine Task Force
Wenn sich ein Team temporär zusammenfindet, um an einem Projekt zu arbeiten oder ein Problem zu lösen, kann es vorkommen, dass dieses Team ohne formale Führung zusammengestellt wird. Ohne formale Führungsstruktur ist es in diesem Fall ebenso wichtig, die Verteilung der Verantwortlichkeiten unter den Teammitgliedern festzulegen. Wer übernimmt welche Anteile der Führung im Team? Auch hier spreche ich also von einem Szenario der verteilten Führung.
3. Job Sharing auf Führungsebene
Und hier komme ich zu dem Thema, das oft als Synonym für Shared Leadership verwendet wird: Die Aufteilung einer Führungsposition auf zwei Personen. Es handelt sich also um eine Job-Sharing-Situation mit der Besonderheit, dass die Führungsaufgaben von zwei Personen wahrgenommen werden.
Diese drei Beispiele sind erlebte Szenarien, die bei mir im Beratungsalltag am häufigsten vorkommen. Zusätzlich möchte ich noch eine Alternative aus der Literatur anbieten: Sigrid Endres und Jürgen Weibler haben sich in ihrem Buch „Plural Leadership“² auch mit einer Unterscheidung verschiedener Praxisfälle von Shared Leadership auseinandergesetzt und unterscheiden vier Bereiche:
- Duale Führung: Ausübung aller Führungstätigkeit zu zweit (ohne erkennbare Teilführer*innenschaft)
- Führungsdual: Ausübung zwei unterschiedlicher zusammenhängender Führungstätigkeiten auf gleicher Hierarchiestufe (klar erkennbare Teilführer*innenschaft beider einzelnen Personen)
- Verteilte Führung: Unterschiedliche Führungsaspekte werden klar voneinander abgegrenzt und auf mehrere Personen verteilt (klar erkennbare Teilführer*innenschaften)
- Gemeinschaftliche geteilte Führung: Ausübung aller Führungstätigkeiten gleichberechtigt in einer Gruppe von Personen (ohne erkennbare Teilführer*innenschaft)
Besondere Formen des Job Sharings mit und ohne Führungsverantwortung
Bei der geteilten Führung zu zweit gibt es weitere konzeptionelle Unterschiede, wie folgende Beispiele zeigen:
- Job Splitting (auf Führungsebene): Beide Personen haben aus einer Position zwei gemacht, tragen ihre komplett voneinander abgegrenzten Verantwortungsbereiche eigenständig und haben wenig bis keine Überschneidungspunkte – ein Beispiel könnte die Trennung in disziplinarische und fachliche Führung sein, die ich im Alltag oft sehe. Hier würde ich dringend zu einer starken Überlappung raten. An sich sind die Verantwortungsbereiche klar „aufgeteilt“. (Vgl. Führungsdual bei Endres und Weibler.)
- Job Pairing (auf Führungsebene): Zwei Personen arbeiten entweder gemeinsam oder zeitlich getrennt an den gleichen Themen und tragen gemeinsam die Verantwortung für alle Endergebnisse; ein Beispiel könnte sein, dass sich zwei Personen die Wochenarbeitstage aufteilen, aber an ihren jeweiligen Arbeitstagen die Aufgaben der jeweils anderen Person vom Vortag übernehmen. (Siehe Doppelspitze bei Endres und Weibler.)
- Succession Tandem/ Legacy Tandem: Hierbei handelt es sich um eine Zusammensetzung aus einer seniorigeren Person aus dem Unternehmen, die entweder bald aus dem Beruf ausscheidet oder die Rolle wechselt und einer juniorigeren Person, die nach einer vereinbarten Zeit, die Rolle übernehmen soll. Ein Beispiel sind neue Führungskräfte, die in einer geteilten Position in ihrem neuen Arbeitsumfeld und in der Fachumgebung mit Hilfe ihres*r Tandempartners*in in Ruhe ankommen können.
- Diversity Tandem: Das Diversity-Tandem zielt darauf ab, Perspektivenvielfalt zu nutzen, indem zwei Personen, die sich in mindestens einem Diversitätsaspekt unterscheiden, wie z.B. Alter, Muttersprache oder Geschlecht, gemeinsam Führung übernehmen.
- Crossfunctional/ Cross-company Tandem: Hier werden zwei Kolleg*innen aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen absichtlich zusammengebracht, um Silos aufzubrechen, Synergieeffekte und Lösungsorientierung zu fördern.
- Peer Tandem: Zwei Personen, die sich eine ansonsten schwer zu besetzende Stelle oder Schlüsselposition teilen, um eine hohe Arbeitsbelastung oder vielfältige Kompetenzanforderungen abzudecken.
Damit beende ich meinen Lexikoneintrag und überlasse Ihnen nun die passende Begriffswahl für Ihr nächstes Gespräch über moderne Führung und die verschiedenen Formen und Ausprägungen von Shared Leadership.
Fazit
Shared Leadership ist ein Konzept mit vielen Facetten. Meines Erachtens sollte es nicht als Synonym für eine Führungsaufgabe verwendet werden, die sich zwei Personen teilen. Führung als solche ist ebenso vielfältig wie die verschiedenen hier genannten Ausprägungen und kann daher häufig auf mehrere Personen verteilt sein.
Wenn es sich um eine Führungsaufgabe handelt, die von zwei Personen ausgeübt wird, verwende ich am liebsten den Begriff Tandem-Führung, weil er für mich mit dem dynamischen Charakter, der Vorwärtsbewegung zu zweit, dem gemeinsamen Beitrag zum Ergebnis und dem Spaßfaktor einige Vorteile des Konzepts direkt bildlich in den Vordergrund rückt.
Welcher Begriff gefällt Ihnen am besten?
Extra-Bonus
Hier finden Sie 3 zusätzliche Fragen zu Shared Leadership, die Jenny Pfeifer beantwortet (bitte auf Plus klicken):
Wie lässt sich die Entstehung eines Verantwortungsvakuums bei Shared Leadership vermeiden?
Jenny Pfeifer: Ich empfehle ein initiales Kickoff-Meeting (gerne über 2 Tage), um den Übergang zu Shared Leadership zu starten. Dort sollte am besten unter externer Begleitung die Aufgaben- und Verantwortungsteilung ein Tagesordnungspunkt sein. Dazu kann z.B. der Shared Leadership Compass von Chili and Change genutzt werden, um alle Führungsaufgaben zu betrachten und in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess nach Motivation und Kompetenz den Beteiligten zuzuordnen. Neben den reinen Führungsaufgaben gibt es möglicherweise noch weitere Aufgabenbereiche, die positionsspezifisch sind und ebenfalls verteilt werden müssen. Diese sollten im gemeinsamen Prozess gesammelt, geclustert und ebenfalls explizit zugeordnet werden. Als Endergebnis kann eine Tabelle oder Visualisierung entstehen, in der konkrete Namen bzw. Rollen benannt werden. Diese Visualisierung sollte im Nachhinein aus Gründen der Transparenz auch externen Stakeholdern zur Verfügung gestellt und regelmäßig angepasst werden.
Welches Vorgehen empfiehlt sich bei Konflikten zwischen den Beteiligten im Shared Leadership-Konstrukt?
Jenny Pfeifer: Grundsätzlich sollten Konflikte als Chance zur Lösung von Spannungen und Missständen verstanden werden. Bei geteilter oder verteilter Führung können die Ursachen und Hintergründe von Konflikten komplex sein, weshalb auch hier eine externe Moderation zu empfehlen ist. Eine außenstehende Person kann alle Parteien ermutigen, sich offen zu äußern und ehrlich miteinander umzugehen. Bei Führungstandems ist ein regelmäßiges Coaching der beiden Parteien sinnvoll, um Konflikten vorzubeugen. Auch Feedbackrunden werden hier als hilfreiches Mittel zur Konfliktprävention angesehen. Auf Gruppenebene sind Teambuilding-Events und Feedback ebenso vorteilhaft, um sich kontinuierlich besser kennenzulernen, die Arbeitsweise der Kolleg*innen zu verstehen und sich der Werte und Prinzipien der Menschen bewusst zu werden, mit denen man Führungsverantwortung teilt.
Was ist insbesondere bei der Implementierung von Shared Leadership in traditionellen hierarchischen Strukturen zu bedenken?
Jenny Pfeifer: Shared Leadership kann grundsätzlich in allen Unternehmenskulturen einen Mehrwert bringen. Es ist jedoch immer wichtig zu prüfen, welche Erwartungen die Beteiligten haben. Shared Leadership ist kein Selbstzweck und der Wechsel von einer formalen Ein-Personen-Führung zu einem geteilten/verteilten Führungsmodell, wenn alles gut läuft und die Teams und die Führungskraft zufrieden sind, sollte hinterfragt werden. In einem Umfeld, das zwar grundsätzlich Mehrwerte (z.B. erhöhte Innovation oder Nachfolgeplanung) in Shared Leadership erkennt, dem Konzept aber noch skeptisch gegenübersteht, kann in einer 1.0-Variante geprüft werden, welche Anteile der Führung am unkompliziertesten auf andere Personen übertragen werden können, bevor der gesamte Status Quo in Frage gestellt wird. Auch ein Erwartungscheck der bisherigen Alleinverantwortlichen und der neuen Mitverantwortlichen darf nicht fehlen. Mit seiner Hilfe können unausgesprochene Unzufriedenheiten und Ängste bearbeitet werden. Auch hier kann ein Außenstehender als Moderator einen gewissen Puffer bilden, der als Grundlage für eine geeignete Gesprächsatmosphäre dient.
Wollen Sie die Zusammenarbeit in Ihrer Organisation verbessern, dann ist Jenny Pfeifer eine sehr gute Ansprechpartnerin. Hier finden Sie eine gelungene Übersicht, was Chili and Change für Sie tun kann.
[1] Shared Leadership Compass. Meine Kollegin Leonie Heiß hat die Anwendung des Hilfsmittels hier im Blog im Beitrag „Wie arbeitet ein radikal selbstorganisiertes Team?“ beschrieben.
[2] Sigrid Endres & Jürgen Weibler (2019): Plural Leadership – Eine zukunftsweisende Alternative zur One-Man-Show, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-27116-9
[3] Stefanie Junghans & Janina Schönitz (2023). Co-Leadership – Jobsharing als Antwort auf eine veränderte Arbeitswelt. Vahlen.
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Jenny Pfeifer hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Jenny Pfeifer
Jenny Pfeifer hat Personalentwicklung und Kommunikationsmanagement im Master studiert und danach ihren Weg in die Welt der agilen Zusammenarbeit gefunden. Sie bringt mehrjährige Erfahrung als Agile Coach in der IT-Branche mit und hält verschiedene Zertifikate im Bereich Scrum und SAFe. Mittlerweile arbeitet sie als Change Consultant und Leadership Trainerin bei der Beratung Chili and Change.
Im Alltag unterstützt sie Teams, Unternehmen und Führungskräfte auf dem Weg zur modernen Zusammenarbeit und geteilten Führung. Ihre Motivation zieht sie aus Erleuchtungsmomenten bei ihr selbst und ihren Kund*innen dazu, wie die Arbeitswelt von heute gestaltet werden kann.