Systemische Fragen: Der Weg zu neuen Antworten

Gastbeitrag von | 14.10.2024

Sprache ist Ausdruck unserer Werte, Handlungsmotive und Bedürfnisse. Die Art und Weise, wie wir Fragen stellen, beeinflusst maßgeblich das Denken und Handeln unseres Gegenübers. Mit gezielten Fragen können wir Menschen zu neuen Sichtweisen einladen und Veränderungsprozesse anstoßen.

Unter dem Oberbegriff “Systemische Fragen” werden verschiedene Fragetypen zusammengefasst, die vor allem in der systemischen Beratung, Therapie und im Coaching Anwendung finden. In diesem Blogbeitrag beschreibe ich den Sinn systemischer Fragen, zeige konkrete Beispiele und beleuchte auch mögliche Nebenwirkungen, die der Einsatz dieser Technik mit sich bringen kann.

Wann sind systemische Fragen sinnvoll?

Systemische Fragen sind vor allem dann sinnvoll, wenn es darum geht, eingefahrene Denk- und Verhaltensweisen zu durchbrechen und neue Antworten auf scheinbar unlösbare Probleme zu finden. Diese Fragen zielen nicht darauf ab, direkte Lösungen zu liefern, sondern ermutigen die befragte Person, eigenständig neue Perspektiven zu entwickeln. Indem Klient:innen durch systemische Fragen nach Antworten suchen, die ihnen vorher nicht bewusst waren, werden ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe gestärkt und ihre Ressourcen aktiviert.

Auch in der Arbeitswelt, z.B. für Führungskräfte in Unternehmen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und Eigenverantwortung und Selbständigkeit fördern wollen, sind systemische Fragen ein wertvolles Werkzeug. Sie ermöglichen es, Konflikte zu lösen, die Zusammenarbeit zu verbessern oder individuelle Entwicklungsprozesse zu begleiten. In Teams können systemische Fragen helfen, unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen sichtbar zu machen und so die Grundlage für offene, lösungsorientierte Gespräche zu schaffen.

Die Beantwortung solcher Fragen erfordert jedoch oft Zeit und Geduld – sowohl von den Beteiligten als auch von den Fragenden. Systemische Fragen sind nicht immer leicht zu beantworten, da sie oft tiefere Reflexionen und Einsichten erfordern. Es kann durchaus vorkommen, dass nach einer Frage zunächst eine längere Pause entsteht, während die befragte Person in sich nach der Antwort sucht. Geduld und aufmerksames Zuhören sind in diesen Momenten entscheidend, um den Denk- und Entwicklungsprozess nicht zu stören.

Mit etwas Übung entwickeln die Fragesteller:innen ein Gefühl dafür, wie systemische Fragen in den jeweiligen Gesprächskontext eingebracht werden können. Sie wirken dann nicht mehr konstruiert oder künstlich, sondern fügen sich organisch in das Gespräch ein. Dies trägt dazu bei, dass sich der/die Gesprächspartner:in wohl fühlt und die Fragen als hilfreich und nicht als fordernd oder manipulierend erlebt. Gerade in einem dynamischen Arbeitsumfeld ist es jedoch wichtig, sich für diese Art des Gesprächs bewusst Zeit zu nehmen und nicht unter Zeitdruck schnelle Antworten zu erwarten.

Darüber hinaus können systemische Fragen auch im privaten Umfeld, z.B. in familiären oder freundschaftlichen Beziehungen, sinnvoll eingesetzt werden. Sie ermöglichen es, Missverständnisse aufzudecken, unterschiedliche Sichtweisen zu erkunden und gemeinsam neue Lösungswege zu entwickeln.

Welche systemischen Fragetypen gibt es?

Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Fragetypen, die je nach Kontext zum Einsatz kommen können:

1. Skalierungsfragen

Nicht immer gelingt es uns, richtig einzuschätzen, wie unser Gegenüber eine Situation wahrnimmt. In der Medizin ist es schon lange üblich, das Schmerzlevel auf einer Skala einzuordnen. Eine Skalierungsfrage wird eingesetzt, um Dinge zu erfahren, die in der Realität objektiv nicht oder nur schwer messbar sind. Es können damit Aspekte wie Zufriedenheit, Motivation, Wahrnehmungen, Eindrücke, Gefühle und Fortschritte besprochen und vor allem auch verglichen werden. Und auch in der Arbeitswelt können wir durch Skalierungsfragen verschiedene Wahrnehmungen bspw. in Bezug auf die Zusammenarbeit im Team beleuchten.

Beispiele für Skalierungsfragen:

  • Wie geht es Dir heute auf einer Skala von 1 – 10?
  • Auf einer Skala von 1 – 10, wie zufrieden bist du mit der Zusammenarbeit in unserem Team?

Skalierungsfragen vermitteln eine subjektive Empfindung und bieten die Chance, vertiefend nachzufragen:  Was müsste geschehen, damit du beim nächsten Mal etwas mehr in Richtung 10 votest?

2. Ressourcenorientierte Fragen

Ressourcenorientierte Fragen können dazu dienen, herauszufinden, welche Strategien und Möglichkeiten bereits ausprobiert wurden und welche Fähigkeiten und Chancen noch im Verborgenen liegen.

Beispiele für ressourcenorientierte Fragen:

  • Wie hast Du es geschafft, aus Deiner letzten Krise herauszukommen? Was oder wer hat Dir dabei geholfen?
  • Welche Deiner Stärken hat Dir geholfen, den Konflikt mit Deinem Kollegen beizulegen?

Ressourcenorientierte Fragen lassen sich hervorragend von Führungskräften in Gesprächen mit Mitarbeitenden nutzen, da sie die Zuversicht und die Selbstwirksamkeit der befragten Person stärken.

3. Zirkuläre Fragen

Wir Systemiker:innen irritieren gern in bester Absicht unser Gegenüber, um Veränderungsprozesse anzustoßen und zum Perspektivwechsel einzuladen. Dies funktioniert hervorragend mit zirkulären Fragen. Klient:innen werden bei dieser Fragetechnik nicht zu ihrer eigenen Einstellung und Handlungen befragt, sondern zu denen anderer Personen, die in ihrem Umfeld sind. Das Ziel des “um die Ecke” Fragens ist die gezielte Einnahme von unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen.

Beispiel für eine zirkuläre Frage:

  • Stell dir vor, Du sitzt als alte weise Frau in Deinem Schaukelstuhl und blickst auf dein Leben zurück. Was würdest Du Deinem jüngeren Ich raten?

Durch das Einnehmen verschiedener Positionen und Sichtweisen lassen sich neue Lösungsansätze für eine Situation kreieren. Eine zirkuläre Frage könnte z. B. genutzt werden, um die Kund:innenperspektive mit einzubringen: Was meinst Du, was würde unser Kunde zu dieser Neuentwicklung sagen?

4. Paradoxe Fragen

Irritationen gelingen meist auch hervorragend durch paradoxe Fragen. Sie zielen darauf ab, die Klient:innen mit einer Verstärkung des eigentlichen Problems zu verblüffen. Die von den Klient:innen als schwierig empfundene Situation wird auf diese Weise überzeichnet. So können häufig neue Ideen und Lösungsansätze generiert werden.

Beispiel für eine paradoxe Frage:

  • Wie sähe eine schrittweise Anleitung aus, sodass ich das gleiche Problem bekomme?

Gepaart mit diesem Fragetyp ist meist auch der Humor. Gerade in festgefahrenen Situationen kann die dadurch entstehende Leichtigkeit zusätzlich noch kreative Lösungsansätze für ein Problem hervorbringen.

Meine persönlich liebste, oftmals irritierende, systemische Frage ist jene nach der guten Absicht: Welche gute Absicht verfolgst du mit Deinem (schädlichen) Verhalten? Was mag sich dahinter Gutes verbergen?

Finden wir Antworten darauf, kann der Prozess nach Handlungsalternativen beginnen, die der guten Absicht eher entsprechen und schadhaftes Verhalten reduzieren. Die Frage können wir immer stellen, uns selbst oder im beruflichen und privaten Umfeld, vor allem wenn wir durch das Verhalten einer Person sehr irritiert werden. Sie führt uns zu einem versöhnlichen Blick auf die Situation und den Menschen.

5. Hypothetische Fragen

Um weg vom Problem in Richtung Lösung zu gehen, sind hypothetische Fragen sehr hilfreich. Sie zielen meist auf die Zukunft ab und geben Beteiligten die Möglichkeit, neue Blickwinkel und Lösungsansätze in Gedanken durchzuspielen. Es geht weniger darum, ein Problem konkret zu lösen, als die Durchführbarkeit von neuen Wegen, Lösungen und Wunschvorstellungen zu evaluieren.

Beispiel für eine hypothetische Frage:

  • Mal angenommen, Dein Problem würde kurz Urlaub machen, was wäre dann anders?

Eine spezielle Ausprägung der hypothetischen Frage ist die sogenannte Wunderfrage. Sie gehört zum hilfreichen Methodenkoffer von Fragen, die der amerikanische Psychotherapeut Steve de Shazer [1] entwickelt hat. Er geht davon aus, dass es hilfreicher ist, sich auf Ziele, Wünsche, Ressourcen und Lösungen zu konzentrieren, anstatt auf die Ursachen der Probleme.

Die Wunderfrage lässt Beteiligte über mögliche Problemlösungen fantasieren. Sie ist besonders in verfahrenen und aussichtslosen Situationen hilfreich. Das Ziel ist es, die befragte Person dazu zu bringen, sich den bestmöglichen Zustand vorzustellen. Die Wunderfrage hilft dabei, neue Motivation und positive Gedanken zu fassen.

Beispiel für eine Wunderfrage:

  • Stelle dir vor, heute Nacht geschieht ein Wunder, Du wachst morgens auf und gehst ins Büro. Woran merkst Du das als Erstes?

 

Welche Nebenwirkungen können systemische Fragen haben?

Auch wenn systemische Fragen den Weg zu neuen Antworten ebnen können, ist ihr Einsatz nicht ohne Risiken. Eine gut gestellte Frage erfordert nicht nur die richtige Formulierung, sondern auch Zeit und die volle Aufmerksamkeit im jeweiligen Moment. Häufig lösen systemische Fragen bei der befragten Person einen tiefgreifenden Denkprozess aus, der Zeit zum Nachdenken erfordert, bevor eine Antwort gegeben werden kann. In diesen Momenten ist es wichtig, geduldig zu bleiben und Raum für Reflexion zu schaffen – eine Herausforderung, besonders in dynamischen Arbeitsumgebungen, in denen oft schnelle Antworten gefordert werden.

Zudem kann eine systemische Frage je nach Kontext und Sensibilität der angesprochenen Themen als Forderung, Provokation oder gar Manipulationsversuch wahrgenommen werden. Dies gilt insbesondere für Fragen, die bewusst irritieren und zum Perspektivenwechsel anregen sollen. Hier gilt es, Augenmaß zu bewahren und entsprechende Fragetechniken mit Bedacht einzusetzen. Die Wahl der richtigen Frage zum richtigen Zeitpunkt entscheidet darüber, ob sich der/die Befragte eingeladen fühlt, über neue Lösungswege nachzudenken, oder ob er/sie sich unwohl und unter Druck gesetzt fühlt.

Ein weiteres Risiko besteht darin, dass einige systemische Fragen tiefe emotionale Reaktionen auslösen können, insbesondere wenn sie zur Selbstreflexion oder zur Auseinandersetzung mit schwierigen persönlichen Themen einladen. Diese unerwarteten Reaktionen können von Verunsicherung bis zu emotionaler Überforderung reichen. Die Fragenden sollten daher darauf vorbereitet sein, solche Situationen einfühlsam zu begleiten und gegebenenfalls auf weitere Gesprächsangebote oder unterstützende Maßnahmen verweisen zu können. In beraterischen und therapeutischen Kontexten ist es besonders wichtig, dass die Fragenden über entsprechende Kompetenzen und Erfahrungen verfügen, um mit emotional belastenden Reaktionen professionell umgehen zu können.

Zudem können systemische Fragen unbeabsichtigt den Eindruck erwecken, dass der/die Fragende bereits eine “richtige” Antwort im Kopf hat oder eine bestimmte Richtung vorgibt. Dies kann das Gefühl der Selbstbestimmung bei den Klient:innen untergraben, obwohl das Ziel systemischen Fragens eigentlich darin besteht, Eigenverantwortung und Autonomie zu stärken. Um diesen Effekt zu vermeiden, ist es wichtig, Fragen neutral und offen zu formulieren und gleichzeitig darauf zu achten, dass genügend Raum für individuelle Antworten und Lösungsansätze bleibt.

Schließlich ist es auch möglich, dass der Einsatz systemischer Fragen in bestimmten Kontexten auf Widerstand stößt, z.B. in hierarchischen Strukturen oder in einem besonders angespannten Umfeld. Mitarbeiter:innen können die Fragen als unangemessen oder unpassend empfinden, insbesondere wenn der Rahmen nicht passt oder die Beziehungsebene zwischen Fragenden und Befragten nicht stabil genug ist. Auch hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, um sicherzustellen, dass die Fragen im jeweiligen Kontext richtig platziert sind und den gewünschten Prozess unterstützen, anstatt ihn zu behindern.

Fazit

Systemische Fragen eignen sich hervorragend, um in Coaching- und Beratungssituationen Perspektivwechsel zu ermöglichen und Veränderungsprozesse anzustoßen. Auch im beruflichen Kontext können sie Führungskräften helfen, die Eigenverantwortung und Problemlösungskompetenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken.

Geschickt eingesetzt, können systemische Fragen die Kommunikation und Zusammenarbeit in Teams erheblich fördern. Die Kunst besteht darin, Fragen respektvoll, im richtigen Kontext und mit Bedacht einzusetzen. Letztlich sind sie nicht nur eine Technik, sondern Ausdruck einer wertschätzenden und ressourcenorientierten Haltung. Und wie bei jedem Werkzeug braucht es Übung, Zeit und Fingerspitzengefühl.

 

Hinweise:

Sandra Brauer hat überzeugt von der Wirkungsweise des systemischen Ansatzes in Beratung, Coaching, Therapie & Organisationsentwicklung im Sommer 2020 das Systemische Netzwerk gegründet: Ein Online-Magazin und Netzwerk von und für Systemiker:innen – für mehr Sichtbarkeit des systemischen Ansatzes in der virtuellen Welt.

[1] Steve de Shazer und Insoo Kim Berg: Strategien der Kooperation in der lösungsfokussierten Kurztherapie

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Sandra Brauer hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

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Sandra Brauer
Sandra Brauer

Sandra Brauer – Veränderungsbegleitung mit System – ist als systemische Beraterin und Trainerin für Stressmanagement, Achtsamkeit und Entspannung im Einsatz. Die studierte Betriebswirtin begleitet Unternehmen und Einzelpersonen in Veränderungsprozessen. Ihre Schwerpunkte sind dabei die Begleitung von Digitalisierungsvorhaben und Veränderungsprojekten, vor allem im Zuge des kulturellen Wandels. Sandra Brauer kann für Workshops, Teamreflexionen, Einzelberatung und -coachings, Moderation von Podiumsdiskussionen sowie Impulsvorträgen gebucht werden.