Systemische Fragebogentechnik

Gastbeitrag von | 12.07.2021

„Dem guten Frager ist schon halb geantwortet“ – Systemische Fragebogentechnik in Anlehnung an Friedrich Nietzsche

Ende Mai hat der Kollege Giller hier einen wundervollen Blogbeitrag zum systemischen Fragen veröffentlicht1, der mit dem begann, was ich in meinen Workshops und Vorträgen als „eine Liebeserklärung an systemisches Fragen“ umschreibe, nämlich einem Buch von Carmen Kindl-Beilfuß mit dem Titel „Fragen können wie Küsse schmecken“2. Den Worten des Kollegen ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer vielleicht eine ganz konkrete Anwendung, die Anfängern einen Einstieg und Experten eine strukturierte Plattform bietet.

Vor ca. 15 Jahren beschäftigte mich die Frage, wie ich meine damals frisch erworbene systemische Fragentechnik in meinen Arbeitsalltag als zukünftige Leiterin eines neuen Project Management Offices (PMO) integrieren könnte – so entstand meine Idee dessen, was ich heute in meinen Vorträgen und Veröffentlichungen „Systemische Fragebogentechnik“ nenne und die sich seit damals immer wieder verfeinert hat.

Systemische Fragebogentechnik – Was ist das?

Bei der Systemischen Fragebogentechnik handelt es sich um eine standardisierte Interviewtechnik, mittels derer mehrere Personen mit demselben Fragenschema zu einem Thema befragt werden. Die Fragen werden im Vorfeld ausgearbeitet und sind systemisch basiert. Es entsteht eine vorgegebene Fragenstruktur und die qualitativen Antworten werden durch das Fragenraster vergleichbar.

Anhand des vorbereiteten Fragebogens werden nun verschiedene Personen von der/dem Interviewenden befragt, wobei die im Systemischen üblichen Nachfragen zur Konkretisierung der Antworten im Rahmen des Interviews möglich und teilweise sogar vorbereitet sind. Anschließend erhält jede Befragte und jeder Befragter die Fragen und die dokumentierten Antworten zur Überprüfung. So werden Missverständnisse erkannt, und Befragte haben die Möglichkeit, Antworten im Nachhinein zu korrigieren.

Auch zirkuläre Fragen der Form „Was glauben Sie würde Ihr Kollege, Ihre Chefin, Ihr Mitarbeiter zu dieser Frage sagen?“ werden genutzt. Dadurch wird der/dem Befragten bereits im Interview bewusst, dass es nicht nur die eigene Perspektive auf das Thema gibt, sondern möglicherweise sogar solche, die dieser widersprechen. Dies ist besonders interessant, wenn Perspektiven verschiedener Personen nicht oder zumindest teilweise nicht vereinbar sind.

Aus meiner Sicht ist die Methode hervorragend für das Einsammeln von Erwartungen und groben Anforderungen (an Projekte, neue Organisationen, Transformationen etc.) geeignet. Befragt man auf diese Art die wichtigen Stakeholder, erhält man z.B. fundiertes Material für das eigene Vorgehen aber auch für Managementpräsentationen.

Drei besondere Fragetypen

Jede Befragung beginnt mit Informationen zur befragten Person und vor allem der  jeweiligen Rolle im System. Selbst wenn man das als Interviewender prinzipiell weiß, so sind doch die Selbsteinschätzung des/der Befragten und die gewählten Formulierungen wichtige Informationen. Anschließend erfolgt die inhaltliche Befragung.

Skalenfragen geben Informationen zur Positionierung des/der Befragten (z.B. zur Einschätzung der Wichtigkeit der Initiative oder zur Bewertung der aktuellen Situation).

Veränderungsfragen („Angenommen, die Initiative ist ein Erfolg, was ist dann anders (3-5 Aspekte)?“) zeigen gewünschte Veränderungen auf und sind möglichst konkret zu fassen; hier helfen oft Nachfragen („Was genau verstehen Sie unter „meine Situation hat sich gebessert, woran machen Sie das konkret fest?“). Mit diesen einfachen Fragen können kleine Sequenzen zusammengestellt werden. Zunächst eine Skalenfrage zur Position, dann die Beschreibung der Veränderung aus Sicht des/der Befragten und mit zirkulärer Ergänzung.

Ein Beispiel:

  • Auf einer Skala von 0-10, wie wichtig ist dieses Projekt für Sie (0 = welches Projekt?, 10 = seit meinem ersten Tag in dieser Firma warte ich auf ein solches Projekt3 )?
  • Was müsste passieren, damit sich Ihre Bewertung auf der Skala um einen Strich verbessert? Mögliche Nachfrage: Was könnten Sie dazu beitragen?4
  • Was würde Ihre Chefin auf diese Frage antworten?

Ein weiterer Fragentyp bei der Systemischen Fragebogentechnik darf in keinem Interview fehlen: die Verschlimmerungsfrage. Sie ist mein persönlicher Favorit. Die Verschlimmerungsfrage ist die Frage danach, was passieren müsste, damit sich etwas verschlechtert. Die Frage ist kulturell ungewohnt und bewirkt daher Irritation, die nach meinen Erfahrungen zu ehrlichen Antworten ohne politisches Taktieren führt. Und sie kann Kreativität fördern, viele kennen sicher die Kopfstandtechnik, die gut geeignet ist, gerade auch Nörgler in einen Kreativitätsmodus zu versetzen. Besonders wirksam ist die Frage, wenn sie persönliche Betroffenheit auslöst: „Was genau könnte ich (der Interviewende) dazu beitragen, dass sich Ihre Situation durch die Initiative verschlechtert /sich auf der Skala um einen Wert nach unten bewegt?“.

Bitte nicht wundern, diese Frage muss oft mehrfach gestellt werden, eben weil wir uns im Business-Kontext eher selten damit auseinandersetzen, dass sich etwas verschlechtert und schon gar nicht, dass ein Auftragnehmer dazu auch noch beiträgt. Aber sie ist wichtig, denn sie zeigt uns die Grenzen unseres Handelns und Gestaltens auf.

Empfehlungen zur Systemischen Fragebogentechnik

Eine Kombination mehrerer kleiner Frage-Sequenzen aus dem vorigen Abschnitt sowie einer Verschlimmerungsfrage bilden bereits einen einfachen und effektiven Fragebogen. Dabei dürfen wichtige, themenbezogene Aspekte durchaus mehr als einmal und an unterschiedlichen Stellen beleuchtet werden. Gerade (scheinbare) Widersprüche sind in der Befragung spannend. Entweder, ich habe als Interviewender etwas noch nicht ausreichend verstanden, oder aber es gibt tatsächlich einen Widerspruch. Menschen sind in Ihren Ideen und Erwartungen durchaus ambivalent, nur ist uns das nicht immer bewusst, und die Erkenntnis darüber hilft Frager und Befragtem. Solche (scheinbaren) Widersprüche gilt es im Interview vorwurfsfrei anzusprechen („Ich bin nicht sicher, ob ich Sie hier richtig verstanden habe, vorhin habe ich verstanden <…>, jetzt höre ich <…> – für mich steckt darin ein Widerspruch.“).

Mit einem solchen, einfachen Setting können auch Anfänger mit der Systemischen Fragebogentechnik beginnen. Ich fand es gerade am Anfang sehr hilfreich, die Fragen vorbereitet und schriftlich vor mir liegen zu haben. Diese einfachen Fragen, gut kombiniert, bringen bereits viel an Informationen und Erwartungen ans Licht. Eine ganz triviale Sequenz, wie ich sie im vorigen Abschnitt beschrieben habe, nutze ich auch bis heute für erste Auftrags- und Erwartungsklärungen. Befragt man dazu mehrere Personen erhält man einen ersten Überblick über die verschiedenen Perspektiven.

Mit ein bisschen mehr Erfahrung lässt sich das Spektrum der Systemischen Fragebogentechnik erweitern:

  • Noch recht einfach, aber hochwirksam ist z.B. die Frage, was nach einer eingetretenen Veränderung vermisst würde („Angenommen, die Initiative ist aus Ihrer Sicht ein Erfolg, was würden Sie vermissen?“). Menschen tendieren dazu, diesen Aspekt zu verdrängen und sind dann später enttäuscht, weil eben etwas aus der alten Welt vermisst wird. Alleine die Frage darüber löst ein Nachdenken und ein Abwägen zwischen Erfolg und möglichem Verlust aus.
  • Die vom Kollegen Giller vorgestellte Wunderfrage nutze ich in der Fragebogentechnik selten und wenn dann eher spontan. Vermutlich hat es damit zu tun, dass ich bei den meisten Initiativen nicht an flächendeckende Wunder glaube 😉 – in individuellen Entwicklungen dagegen schon.
    Aber ich arbeite gerne mit Metaphern, wie z.B. „Welches Tier fällt Ihnen ein, dass Ihren möglichen Widerstand gegen eine solche Initiative symbolisiert?“. Gerade bei Initiativen, die „von oben angeordnet“ werden, sind Widerstände oft versteckt und kommen in Form dieser Tierchen, über die man sich dann trefflich und sehr humorig austauschen kann, zu Tage.
  • Das führt uns direkt zum nächsten Punkt. Systemische Fragen sind hoch-wirksam und bringen Verstecktes und ungern Gesagtes zu Tage. Das geht nur, wenn Sie dem Befragten strikte Vertraulichkeit zusichern und sich auch daranhalten. D.h. nicht, dass Sie die Aussagen nicht weitergeben und auswerten dürfen, aber bitte so anonym, dass unklar bleibt, wer welche Perspektive eingenommen oder Aussage getroffen hat. Das gilt umso mehr, wenn Sie Kritik am Management einsammeln (wollen). Und manchmal hat man – so wie ich gleich am Anfang – das Glück, dass ein einflussreicher Kritiker sich gerne namentlich zitieren lassen möchte, dann darf in gegenseitiger Abstimmung die Vertraulichkeit natürlich aufgehoben werden.
  • Am Anfang stelle ich gerne die Frage, ob es etwas gibt, dass der Interviewte im Rahmen des Interviews gerne adressieren möchte und notiere mir das. Am Ende hinterfrage ich, ob das ausreichend adressiert wurde oder noch etwas offen ist. Meine Erfahrung ist, dass die entsprechende Frage, nur am Ende des Interviews gestellt, nicht ausreicht, denn nach intensiven Gesprächen gehen oft Perspektiven / Aspekte verloren.
  • Bei der Abarbeitung der Fragen gibt der/die Interviewte häufig Informationen, die ich eigentlich einer anderen Frage zuordne. Im Interview erwähne ich dann, wenn ich diese stelle, die genannten Aspekte und frage, ob es weitere gibt. So entsteht beim Interviewten das gute Gefühl gehört und nicht nur schematisch abgefragt zu werden.
  • Bei umfangreicheren Fragebögen (Dauer ca. 1-1,5 Stunden) fasse ich in der schriftlichen Dokumentation, die dem Befragten ja zur Korrektur zugeht, nicht nur die Antworten zusammen, sondern kompiliere und dokumentiere auch 3-4 Kernbotschaften, die ich so verstanden habe. Die meisten Stakeholder beschäftigen bestimmte Aspekte des Themas besonders, diese werden so fassbarer. Auch ist das eine geeignete Plausibilisierung, ob ich den Interviewten und ihre / seine Anliegen verstanden habe.

 

Fazit

Die Systemische Fragebogentechnik ist eine hoch-wirksame Methode zur qualitativen, strukturierten Erfassung von Erwartungen, Anforderungen und Grenzen verschiedener Stakeholder einer Initiative. Auch wenn systemisches Fragen inzwischen im Business-Kontext angekommen ist, ist die konsequente, facettenreiche Nutzung doch noch nicht gewohnt. Irritationen, wie Verschlimmerung, Widerstands-Metaphern oder der Hinweis auf mögliche Verluste erzeugen Verblüffung und Ehrlichkeit statt politischem Kalkül.

Wesentlich für die inhaltliche Qualität der Ergebnisse ist, dass Sie auch bei zunächst ausweichenden oder oberflächlichen Antworten (z.B. Buzzwords oder Modetrends) an den Fragen dranbleiben und solange nachfragen, bis Sie eine ganz konkrete Vorstellung von der Sicht Ihres Gegenübers haben. Beispiel: „Woran machen Sie fest, dass die Organisation agil geworden ist? Was in Ihrem Arbeitsalltag hat sich dann geändert?“ Auch die Verschriftlichung mit der Korrekturschleife unterstützt das Ziel des tiefgehenden Verstehens.

Durch die Vorbereitung der Fragen im Vorfeld des Gespräches und die Information an Ihr Gegenüber, dass Sie als Vorlage einen Fragebogen nutzen, der auch der Dokumentation dient, sind auch mit systemischem Fragen noch nicht vertraute Menschen in der Lage, ein solches Interview zu führen und so nach und nach Frage-Kompetenz aufzubauen.

Last but not least, es macht einfach Spaß. Und das gilt sowohl für die Vorbereitung des Fragebogens – hier ist der Kreativität Tür und Tor geöffnet – als auch für die Interviews selbst sowie deren Auswertung. Im Ergebnis erweitert es Ihre Perspektive und die Ihrer Gegenüber. All das finde ich ungemein bereichernd. Versuchen Sie es einfach einmal selbst.

 

Hinweise: 

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Astrid Kuhlmey stellt Ihnen gerne weiteres Material zu der von ihr entwickelten Systemischen Fragebogentechnik zur Verfügung stellen. Schreiben Sie Frau Kuhlmey einfach an.

[1] Conrad Giller: Von Warum-Fragen zu Wunder-Fragen
[2] Carmen Kindl-Beilfuß: Fragen können wie Küsse schmecken
[3] Bei Skalenfragen werden grundsätzlich die Werte am Rand so „extrem“ definiert, dass sie von Befragten nicht gewählt werden.
[4] Mit diesem kleinen Kniff senden Sie als Interviewender an Ihr Gegenüber die Idee, dass er/sie durchaus unterstützen kann.

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Astrid Kuhlmey
Astrid Kuhlmey

Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.