Systemisch denken und handeln am Arbeitsplatz

Gastbeitrag von | 19.03.2020

Der systemische Ansatz ist nicht nur hilfreich und sehr geschätzt als Beratungs-, Coaching- und Therapieansatz von Individuen, Paaren, Gruppen vor allem im sozialen Kontext, sondern nimmt immer mehr Einzug in die Arbeitswelt. Er erscheint mir zudem für jeden einzelnen von uns hilfreich, um entspannter miteinander zu kommunizieren und Beziehungen anders zu gestalten.

Mit diesem Artikel möchte ich Ihnen die Haltung und Grundlagen des systemischen Denkens nahebringen und damit ein Angebot übermitteln, wie es jedem einzelnen von uns möglich werden kann, unsere jeweilige Arbeitswelt und vor allem das Miteinander positiv zu beeinflussen.

Der systemische Ansatz in Beratung, Coaching, Therapie

Grundsätzlich geht es in der Systemik um die Betrachtung von Individuen oder Gruppen in Bezug auf deren jeweiliges soziales System im jeweiligen Kontext.

Der systemische Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass man sich nicht auf den Problemträger konzentriert, sondern ein ganzes System in den Blick nimmt.

Haltung, Werte und Verhalten

Systemiker gehen davon aus, dass jedes betrachtete System (Individuum, Paar, Gruppe, Organisation) selbst Experte für die Lösung seines Problems ist (Selbstwirksamkeit).

Statt der immer besseren „Erfassung“ von Individuen und Systemen rückt der Erkennende (Beobachter) und seine persönlichen Hintergründe (Vorerfahrungen, Glaubenssysteme, Tabus und „blinde Flecken“) in den Vordergrund. Systemisch ausgerichtete Therapeut/-innen, Berater/-innen und Supervisor/-innen gehen von der Autonomie der Rat- und Hilfesuchenden aus und betrachten diese als „Experten und Expertinnen ihrer selbst“. Dabei wird das individuelle Erleben der Einzelnen als persönliche Verarbeitung ihrer lebensgeschichtlichen, affektiven und kognitiven Beziehungserfahrungen verstanden.¹

  • Das System existiert in Wechselwirkung mit seiner Umwelt.
  • Probleme sind grundsätzlich Lösungsversuche.
  • Systeme handeln auf sich selbst bezogen aus guter Absicht heraus.

Ressourcen und Ziele

Es ist hilfreicher, sich mit Lösungen zu beschäftigen als permanent über Probleme zu reden.

Systemiker verzichten auf Zuschreibungen und Benennung von „Krankheiten“ ihrer Klient/-innen. Probleme werden als Herausforderung gesehen, wodurch beim Betroffenen und den bedeutsamen Personen in seiner Umgebung neue Kräfte geweckt werden können – und auch geweckt werden wollen. Es wird von dem ausgegangen, was er selbst verändern will und was sich auch verändern lässt. Statt Resignation, Einengung und Selbstmitleid liegt der Schwerpunkt auf der Anerkennung bereits vorhandener Fähigkeiten, auf Zukunftsperspektive und Selbstbestimmung, auch bei scheinbar aussichtslosen Problemen.

Kooperationsbeziehung zwischen Hilfesuchendem und Helfer

Es werden gemeinsam Lösungen entwickelt und neue Möglichkeitsräume geschaffen.

Die Grundlage ist der öffnende Dialog. Ziel ist es dabei immer, die Selbstwirksamkeit des Klientensystems zu stärken oder wiederherzustellen. Probleme werden anerkannt und dahingehend betrachtet, dass existierende Muster und Verhaltensweisen zur Lösungsfindung hilfreich sein können.

Wirklichkeit erzeugen

Jeder Mensch konstruiert seine eigene Wirklichkeit.

Kommunikation verbindet diese, mal mehr – mal weniger gut. Ziel eines Veränderungsprozesses kann somit sein, dass bisherige Denk- und Verhaltensweisen durch einen Impuls von außen „verstört“ werden, um damit das Klientensystem anzuregen, über seine bisherigen Denk- und Verhaltensweisen neu nachzudenken und damit problematische Muster zu überwinden.

Beschreibung statt starrer Zuschreibung

Systemische Praxis verfolgt gemäß ihrem theoretischen Ansatz weder das Ziel, die Probleme nur diagnostisch zu erkunden und zu klassifizieren, noch sie monokausal zu verändern. Vielmehr versucht sie, im Dialog mit den Betroffenen Beschreibungen zu entwickeln, die die Möglichkeiten aller Beteiligten, wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, erweitern. Sie sucht also nach Bedingungen, mit deren Hilfe die Klienten ihre Ressourcen aktivieren können, um eigenständig zu ihren Zielen gelangen zu können.²

Ergänzend ist noch zu erwähnen, dass ein systemischer Begleitungsprozess immer wieder vom Perspektivwechsel profitiert. Der Berater lädt immer wieder zu einem solchen ein, macht dem Klientensystem Angebote in Richtung neuer Denk- und Verhaltensweisen, unterstützt vor allem durch eine Vielzahl systemischer dialog-öffnender Fragen und kreative Interventionen. Dabei wird im Gegensatz zu einer Fachberatung darauf verzichtet, Ratschläge zu geben. Ein Grundsatz hier lautet: „Beratung ohne Ratschlag, denn Ratschläge sind auch Schläge.“³

Zusammenfassung

Die Haltung, die sich hinter dem systemischen Ansatz in Beratung, Coaching und Therapie verbirgt, ist die eines sehr positiven Menschenbildes. Systemisch denken und handelnde Menschen betrachten ihre Umwelt freundlich, zugewandt und akzeptierend. Situationen, Probleme und Systeme werden stets aus verschiedenen Blickrichtungen betrachtet. Der Fokus liegt auf den bereits vorhanden Ressourcen und der zu entwickelnden Lösung.

Die Übertragung in die Arbeitswelt

Wie lässt sich nun die Haltung aus Beratung, Coaching & Therapie auf das Miteinander in der Arbeitswelt übertragen? Schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele und typische Arbeitssituationen an.

Blick über den Tellerrand hinaus

Nehmen wir an, Sie haben einen Mitarbeiter, der vor einiger Zeit noch hoch motiviert seinen Aufgaben nachgegangen ist. Seit einigen Monaten jedoch ist Nachlässigkeit und weniger Tatendrang zu erkennen. Sicher könnten Sie jetzt an der Oberfläche agieren und ihn auffordern, etwas an seinem Verhalten zu verändern. Die Frage ist, ob dies wirklich zum Ziel führt und die Situation nachhaltig positiv beeinflusst. Wie wäre es alternativ, wenn Sie Ihre Beobachtungen mit ihm teilen und sie gemeinsam erforschen, ob sich etwas ändern könnte? Was bräuchte er, damit er wieder motiviert seinen Aufgaben nachgehen kann? Wie steht es um das Verhältnis zu Kollegen, wie um das Verhältnis zwischen Ihnen als Vorgesetztem und Ihrem Mitarbeiter? Was fehlt ihm eventuell aktuell? Gibt es private Umstände, die das Arbeitsverhalten beeinflussen? Häufig lohnt es sich, den Blick über die konkrete Situation hinaus zu wagen, um eine Lösung zu finden.

Gute Absicht der Kolleg/-innen, Vorgesetzten, Mitarbeiter

Wie oft erleben wir Kolleg/-innen, die des Öfteren gereizt reagieren? Haben Sie sich schon mal gefragt, aus welchem Grund diese sich so verhalten? Was könnte sich dahinter verbergen? Was versucht die Person für sich selbst durch ihr Verhalten, welches häufig zu Distanz und manchmal sogar Ablehnung führt, zu erreichen? Nicht selten trifft auf Menschen zu, dass diese sich durch ein solches Verhalten versuchen, von anderen abzugrenzen. Vielleicht ist das ihre Art, für sich selbst gut zu sorgen und ungestört weiter arbeiten zu können. Welche gute Absicht können Sie erkennen oder vermuten? Mit ein bisschen Wohlwollen können sich Beziehungen wesentlich entspannen. Grenzen sollten jedoch aufgezeigt werden, wenn Ihre eigenen Bedürfnisse durch das Verhalten anderer immer wieder in den Hintergrund treten.

Weg von der Problemtrance – hin zur Lösung

Kennen Sie die Momente, in denen Meetings sich immer wieder im Kreis drehen oder Gespräche auf dem Flur sich irgendwann immer um dieselben Umstände drehen, die kaum zu ertragen sind? Wie viel Energie investieren Menschen in Beschwerden und „Motzereien“, die augenscheinlich und bekanntermaßen nicht änderbar sind?

Manchmal braucht man das „Motzen“, danach jedoch sollte der Blick nach vorn folgen.

Oder glauben Sie wirklich, dass sich durch wiederholendes Meckern über Umstände, die nicht zu verändern sind, irgendetwas wandelt? Somit ist Achtsamkeit geboten, wenn sich das Problem in Besprechungen, auf dem Flur oder auch in Mitarbeitergesprächen ausbreitet und nicht mehr gehen möchte. Ich biete meinen Kunden ganz gern mal zeitlich limitierte „Motzrunden“ in Besprechungen an, so dass sie auf jeden Fall Gehör und Beachtung finden und nicht unter den Teppich gekehrt werden. Es wird eine Zeit vereinbart, die Zeit gestoppt. Nach der vereinbarten Zeit wechselt die Gruppe dann auf die konstruktive Gesprächsebene.

Selbstwirksamkeit unterstützen

Ganz gleich, ob es sich um die Ausbildung oder Einarbeitung neuer Mitarbeiter/-innen geht oder zum Beispiel die Schulung eines neuen IT-Systems: Fragen über Fragen tauchen auf. Manchmal ist eine solche als Vorgesetzter oder auch als Kollege schneller beantwortet oder ein To-do übernommen, als dem Sender Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und darauf zu vertrauen, dass er oder sie eigenständig einer Lösung näher kommen wird. Somit hilft es häufig auf eine Frage nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage zu reagieren und Antworten gemeinsam zu entwickeln. Was könnte hilfreich sein? Was schlägst du vor? Was hat in anderen Situationen bereits gut funktioniert? Somit weg von Ratschlägen hin zur eigenständigen Entwicklungen von Lösungen. Ja, ein solches Vorgehen dauert länger. Kurzfristig zumindest, aber meist zahlt sich diese Investition an Zeit doch mittel- oder langfristig aus, oder?

Menschen sind verschieden

Ein gutes Beispiel lieferte vor kurzem eine Bekannte. Sie berichtete von einer äußerst laut telefonierenden Kollegin im Büro. Sie und auch die anderen Kollegen fühlten sich erheblich gestört.  Meine erste Frage daraufhin war, weiß die Kollegin, dass sie laut telefoniert? Oder eine andere Hypothese: Möglicherweise ist sie schwerhörig und muss daher lauter sprechen. Vielleicht ist ihr gar nicht bewusst, dass sie andere stört, sondern sie geht einfach ihrer Art zu telefonieren nach? Mit der Grundannahme, dass sie nichts Böses im Schilde führt und zudem Menschen grundsätzlich verschieden sind, könnte man mit der Kollegin die eigene Wahrnehmung teilen und dann darüber verhandeln, ob sich etwas ändern ließe. Häufig sind hier offene Fragen hilfreich, die nicht werten und verurteilen.

Zuschreibungen vermeiden

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen wie oft wir am Tag Bewertungen vornehmen? Gerade im Arbeitsalltag nicht ungewöhnlich. Hier treffen sich die Haltung aus der Systemik mit der Lehre der Achtsamkeit: Versuchen Sie doch einfach immer mal wieder zu registrieren, ob Sie gerade eine Bewertung oder Beschreibung vornehmen? Ganz gleich, ob es sich um Situationen oder Menschen handelt. Wie viel Wahrheit steckt in Ihren Äußerungen? Sind es doch nur Vermutungen und „Ihre“ Wahrheit? Wären Beschreibungen nicht so manches Mal zuträglicher im Umgang und in der Kommunikation mit Vorgesetzten, Mitarbeitern und Kollegen?

Fazit

In Studien werden immer wieder ein schlechtes Arbeitsklima, emotionaler Stress, Mobbing und fehlender sozialer Rückhalt am Arbeitsplatz als Stressfaktoren genannt.

Ich bin der festen Überzeugung, wenn jeder einzelne von uns die oben genannten Denk- und Kommunikationsweisen trainiert, kann das Miteinander (in der Arbeitswelt) erheblich verbessert werden. Solche Denk- und Kommunikationsweisen sind oftmals Ausdruck – ganz gleich in welcher Rolle ausgelebt – von Wertschätzung, Akzeptanz, Offenheit und Freundlichkeit.

Soziale Systeme erfahren durch genau diese gelebten Werte Stärkung und Stabilität. Ein stabiles soziales Netz (beruflich und privat) ist wiederum einer der Faktoren, der unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber Veränderungen und Krisen (Resilienz) positiv beeinflusst. In Zeiten des digitalen Strukturwandels unerlässlich. Das Gute ist, jeder einzelne von uns kann durch Veränderung seiner Denkweisen, seines Verhaltens und seiner Sprache hier täglich und immer wieder einen Einfluss nehmen, so er denn will.

 

Hinweise:

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

Zum Thema Systemisch denken und handeln hat Sandra Brauer eine sehr interessante Podcastfolge aufgenommen.

Sandra Brauer möchte Ihnen auch ein Buch empfehlen: https://www.carl-auer.de/fragen-konnen-wie-kusse-schmecken

[1] https://systemische-gesellschaft.de/systemischer-ansatz/was-ist-systemisch/, abgerufen am 02. März 2020
[2] https://systemische-gesellschaft.de/systemischer-ansatz/was-ist-systemisch/ abgerufen am 02. März 2020
[3] Buchempfehlung: Beratung ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen

Weitere Informationen zum systemischen Ansatz finden Sie bei Systemische Gesellschaft: Was ist systemisch?

– Männlich, weiblich, diversen sind gleichermaßen gemeint bei Nutzung der maskulinen Form
– Alle systemisch agierenden Fachkräfte sind in den Aufzählungen gemeint, nicht nur Berater, Coaches und Therapeuten, sondern ebenso Organisationsentwickler 😃

Sandra Brauer hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

t2informatik Blog: Digitales Bewusstsein

Digitales Bewusstsein

t2informatik Blog: Digital Leadership - Führung in digitalen Zeiten

Digital Leadership – Führung in digitalen Zeiten

t2informatik Blog: Vom Umgang mit Veränderung

Vom Umgang mit Veränderung

Sandra Brauer
Sandra Brauer

Sandra Brauer – Veränderungsbegleitung mit System – ist als systemische Beraterin und Trainerin für Stressmanagement, Achtsamkeit und Entspannung im Einsatz. Die studierte Betriebswirtin begleitet Unternehmen und Einzelpersonen in Veränderungsprozessen. Ihre Schwerpunkte sind dabei die Begleitung von Digitalisierungsvorhaben und Veränderungsprojekten, vor allem im Zuge des kulturellen Wandels. Sandra Brauer kann für Workshops, Teamreflexionen, Einzelberatung und -coachings, Moderation von Podiumsdiskussionen sowie Impulsvorträgen gebucht werden.