Stoppen Sie Ihre agile Transformation!
Viele Unternehmen beschäftigen sich mit dem Thema der agilen Transformation oder befinden sich bereits in einer solchen Phase der Veränderung. Agilität – was auch immer das genau sein mag – gilt gemeinhin als gutes „Werkzeug“, um sich als Organisation für die Gegenwart und Zukunft zu wappnen. In den vergangenen 16 Jahren durfte ich zahlreiche Veränderungsvorhaben bei unterschiedlichsten Unternehmen begleiten und kann Ihnen nur einen Rat geben: Stoppen Sie Ihre agile Transformation!
Patentrezepte und die falsche Frage nach dem Warum
Was ich erlebe und oft erlebt habe, hat Simon Bennett vor einigen Jahren in einem Kommentar auf Twitter gut auf den Punkt gebracht:
Apparently ‘Agile Transformation’ means ‘keep changing agile until it perfectly fits the way in which the organisation is currently operating’ otherwise it would be called ‘Organisational Transformation’.
Frei ins Deutsche übersetzt: Agile Transformation bedeutet Agilität so lange zu verändern, bis sie perfekt zu der Art und Weise passt, wie die Organisation gerade arbeitet. Sonst wäre es eine Organisations-Transformation.
Mit anderen Worten: Agile Transformationen sind oft klassische Veränderungsprogramme, die mit vielen modernen Buzzwords agil verbrämt oder mit agilen Methoden garniert werden. Gesucht werden Patentrezepte ohne konkretes und wirklich anders gedachtes Zielbild. Gesucht werden neue, allgemeingültige Lösungen für alle, die genau das tun, was die Programme zuvor getan haben: eine interne Umstrukturierung mit dem Ziel der Effizienzsteigerung.
Ein allgemeingültiges Patentrezept für eine neue Organisation gibt es natürlich nicht und kann es auch nicht geben. Die Zukunft ist für jedes Unternehmen individuell. Das bedeutet zum Beispiel, dass jeder Versuch, ein bestimmtes Modell zu kopieren, zum Scheitern verurteilt ist. [1] Dies gilt insbesondere dann, wenn Unternehmen versuchen, Frameworks, die für die Entwicklung von Software oder Hardware, für die Abwicklung von Projekten oder für die Entwicklung von Produkten (in kleinen oder skalierten Umgebungen) entwickelt wurden, auf ganze Organisationen zu übertragen. Diese Frameworks sind in bestimmten Situationen nützlich (vor allem, wenn sie als Baukasten verstanden werden), können aber die komplexen und unterschiedlichen Anforderungen von und an Organisationen nicht vollständig erfüllen.
Tatsächlich hilft auch die Frage nicht weiter, die häufig am Anfang einer geplanten Veränderung steht: Warum beschäftigen wir uns als Unternehmen mit einer agilen Transformation? Die Antwort auf diese Frage ist kein verlässlicher Ratgeber für Veränderungsprozesse, da sich die Beteiligten oft mit einer schnellen Antwort auf dieses „Warum“ zufrieden geben. Die schnelle Antwort sagt uns aber nur, warum wir etwas tun. Was damit noch nicht beantwortet ist: Wozu gehen wir die Schritte, die wir gehen? Welchen Zweck verfolgen wir wirklich? Die Frage nach dem Warum beantwortet in der Regel, welche Motivation ein Mensch, eine Team, eine Organisation hat. Damit gerät aus dem Blick, was wir eigentlich mit den Veränderungen erreichen möchten oder glauben erreichen zu müssen.
Planvolles Vorgehen, outside in und eine wichtige Erkenntnis
Üblicherweise folgen agile Transformationen – wie andere Veränderungsprogramme auch – einem Plan, mit dem ein definiertes Ziel erreicht werden soll. Da es aber kein Patentrezept gibt und die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ nicht ausreichend Aufschluss darüber gibt, warum das Ganze angegangen wird, gibt es oft auch kein klares Zielbild einer zukünftigen Organisation. Ein typischer zielorientierter 5-Jahres-Plan funktioniert nicht. Hinzu kommt, dass diese Pläne Sicherheit vermitteln und daher selten angepasst werden, auch wenn neue Erkenntnisse eine Anpassung sinnvoll erscheinen lassen. [2]
Manchmal ist es sogar noch schlimmer: „Agilität“ und die erhoffte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit werden dann als Ausrede dafür benutzt, dass sich die Beteiligten nicht einmal ernsthaft Gedanken über Sinn und Zweck gemacht haben. Hier hilft auch der PDCA-Zyklus nur bedingt, da die Überprüfung nicht in kleinen Zyklen und nicht konkret an den Stellen erfolgt, an denen die eigentliche Veränderung stattfindet.
Häufig entbrennen in Unternehmen Diskussionen darüber, ob eine Veränderung hin zu einer zukunftsfähigen Organisation eher bottom up oder top down zum Ziel führt. Ich habe in Unternehmen unterschiedlicher Größe agile Transformationen erlebt und begleitet, die sowohl den Anspruch einer Bottom-Up-Bewegung hatten, als auch einer klaren Top-Down-Ordnung folgten. Bei genauerem Hinsehen war die Umsetzung der Programme immer ein Hybrid aus beidem. Klar – ohne die breite Masse geht es nicht und ohne die Entscheidungen der Entscheidungsträger gibt es keinen Fortschritt. Nur das eine oder nur das andere würde nicht funktionieren. Allerdings haben beide Ansätze das gleiche Grundproblem: Sie sind ausschließlich nach innen gerichtet und betrachten die Kundenbedürfnisse erst an zweiter Stelle.
Eine agile Transformation kann weder top down noch bottom up funktionieren, sondern nur outside in. Sie muss sich konsequent am Markt, also an den Kundenbedürfnissen orientieren und dabei die Bedürfnisse der Menschen im Unternehmen und bei den Kunden berücksichtigen. Dies ist insgesamt kein radikaler Wandel, sondern eher eine evolutionäre Entwicklung, auch wenn kleine Einzelschritte radikal erscheinen mögen. Der Wandel zu zukunftsfähigen Organisationen muss nach anderen Prinzipien gestaltet werden, als dies bisher bei Veränderungsprogrammen der Fall war.
Diese Beobachtungen führen zu einer wichtigen Erkenntnis: Agile Transformationen, die den Regeln klassischer Veränderungsprogramme folgen, werden genauso wenig verändern wie klassische Veränderungsprogramme zuvor.
Die Grundlage neugestalteter Unternehmen
Wie genau eine neue Organisation in der Zukunft aussehen muss, welchen Strukturen sie folgt, welche Prozesse sie benötigt, wird sich im Laufe der Transformation zeigen und abhängig von neuen Anforderungen immer wieder hochgradig flexibel verändern. Grundprinzipien heutiger Organisationen müssen neuen Prinzipien weichen. Der Wandel ist tiefgreifend und grundlegend. [3] Das bedeutet auch, dass „agile Transformation“ je nach Sichtweise das letzte Veränderungsprogramm einer Organisation ist oder gar keines, denn das Ziel muss ein nie endender Prozess der kontinuierlichen und schnellen Anpassung und dabei ausreichend stabil sein.
Die mir bekannten Reorganisationen haben nicht wirklich das Ziel, Anpassungsfähigkeit, Autonomie, Individualität und Flexibilität insgesamt zu etablieren. Eine grundlegende Veränderung des gesamten Verständnisses von Zusammenarbeit und Organisation ist nur vordergründig das Ziel.
Meist geht es im Kern nur darum, das bestehende Geschäft schneller abwickeln zu können und die bestehenden Strukturen zu optimieren. Eine konsequente Verlagerung von Verantwortung in die wertschöpfenden Teams und eine flexible, nicht am internen Controlling, sondern am Markt orientierte Strukturierung der Organisationen, die den unmittelbar an der Wertschöpfung Beteiligten Unterstützung und Freiräume bieten würde, scheitert in der Regel schnell. Strukturen und Formen werden nicht wirklich neu gedacht. Stattdessen werden die bestehenden Zäune nur etwas anders aufgestellt. Insofern passt das Zitat von Albert Einstein wie die Faust aufs Auge:
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
In zukünftigen Organisationen müssen sich eigenverantwortliche Teams, Einheiten, Gruppen als dezentrales Netzwerk organisieren, in dem Menschen nach gemeinsamen Prinzipien handeln und sich gegenseitig unterstützen. Was bisher durch detaillierte, für alle gleichermaßen gültige und oft historisch gewachsene Regeln und Prozesse gemeinsam ausgerichtet, organisiert und strukturiert wurde, muss sich in ein dichtes, dezentral organisiertes, aber kohärentes Netzwerk verwandeln.
Bei der Erhöhung der Transparenz kann es nicht darum gehen, dass im Unternehmen die Spitze endlich wirklich alles im Detail weiß oder gar jeder im Unternehmen im Detail weiß, was alle anderen machen. Das kann angesichts der Notwendigkeit schnellerer und häufigerer Entscheidungen niemand mehr leisten. Und damit ist es auch nicht mehr möglich, dass sich alle in eine Struktur pressen und auf ein Ziel ausrichten.
Grundlage neu gestalteter Organisationen sind gemeinsame Prinzipien der Zusammenarbeit, verbindende Elemente und ein Zusammenhalt der Menschen untereinander für eine positive Wertschöpfung. Organisationen sind Konstruktionen für Menschen und damit lebendige, agile, ständig lernende, kreative, flexible Organismen.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass etwas ganz Wichtiges vergessen wird: Hoher Wert entsteht durch großartige Menschen, nicht durch neue Prozesse oder optimierte Rahmenbedingungen. Die Rahmenbedingungen und Prinzipien müssen die Wertschöpfung, die Kreativität und das Lernen der Menschen fördern und nicht behindern. Und was das genau ist, das können die Menschen eigenverantwortlich für sich, ihr direktes und indirektes Umfeld, miteinander und füreinander erkennen und gestalten.
Einer der wichtigen Sätze aus dem Agilen Manifest lautet: „Menschen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge“. Dazu gehören neben der Entwicklung von Kommunikationsfähigkeiten weitere zukunftsweisende Kompetenzen. Solange dieses Prinzip nicht eine der obersten Leitlinien sowohl für die neue Organisation als auch für den Weg dorthin darstellt, wird man während und nach einer „agilen Transformation“ ein genauso zukunftsorientiertes „agiles“ Unternehmen haben wie vor diesem aufwändigen Veränderungsprogramm.
Wenn also das Ziel bzw. der Kern von sogenannten agilen Transformationen neue Strukturen, Regeln und Prozesse sind und nicht die individuelle Förderung von Menschen, ihrer Kommunikation, Entwicklung und Interaktion, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich auch hier nur um ein anders bemaltes, teures Change-Programm handelt, das den Anschein einer großen Veränderung erweckt, aber nichts wirklich verändert.
Irgendwie beruhigend ist dann, dass sich daran auch nichts ändert, wenn das Veränderungsprogramm werbewirksam „agile Transformation“ genannt wird und die Beteiligten damit ziemlich genau wissen, was wirklich neu ist: nämlich gar nichts.
Fazit
Vermutlich ist die Beschäftigung mit Agilität in Form einer agilen Transformation besser, als gar nichts zu machen. Das, was ich in den letzten 16 Jahren erlebt habe, war gewisse nicht wertlos. Trotzdem ist mein Empfehlung heute – lassen Sie es lieber bleiben mit der agilen Transformation. Zu wahrscheinlich ist das Risiko, dass das Ergebnis nach Plandurchführung nicht zufriedenstellend sein wird. Gut gemeint, ist noch lange nicht gut gemacht.
Starten Sie stattdessen echte kleine und große Veränderungen und Verbesserungen überall dort, wo sie einen konkreten Nutzen bringen. Es geht um die Entwicklung einer menschengerechten Organisation durch kontinuierliche Verbesserung hin zu einem großartigen Umfeld und einer konsequent markt- und kundenorientierten, flexiblen Wertschöpfung mit dem Ziel, die Welt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Kunden jeden Tag ein bisschen besser zu machen.
Hinweise:
Nehmen Sie Kontakt mit Daniel Dubbel auf, wenn Sie die Welt für Ihre Mitarbeitenden und Kunden ein bisschen besser machen wollen. Sie können ihn ganz einfach über die Website seines großartigen Blogs INSPECT&ADAPT oder über LinkedIn erreichen.
[1] Scheitern ist Scheiße
[2] Sicherheit in stetige Veränderung
[3] Werte für die Zusammenarbeit
Was gestern Unternehmen erfolgreich gemacht hat, wird heute häufig schon zu einem Hindernis und zukünftig die Wettbewerbsfähigkeit völlig in Frage stellen. Hier wirft Daniel Dubbel einen Blick auf Future Skills in der Kreativarbeit.
Dies ist ein Best of Blog 2024 Beitrag.
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Daniel Dubbel hat einen weiteren Beitrag (zusammen mit Sebastian Daume) im t2informatik Blog veröffentlicht:
Daniel Dubbel
Mit über 24 Jahren Berufserfahrung, mehr als 16 Jahre davon agil in unterschiedlichen Rollen, verfolgt Daniel Dubbel stets das Ziel, die Zusammenarbeit in Teams, Abteilungen und Organisationen zu verbessern für großartige Mitarbeitende in erfolgreichen Unternehmen für zufriedene Kunden.
Seit 2018 arbeitet er bei der DB Systel GmbH, der Digitalisierungswegbereiterin der Deutschen Bahn, seit 2019 in geteilter Führungsverantwortung für 100 Mitarbeitende einer Einheit, die Frontendsolutions und Mobile Apps für die DB entwickelt.