Remote Retrospektive – Tipps aus vielen Jahren Praxis
Die Corona-Krise verändert für viele Menschen und Organisation die Zusammenarbeit. Für manche Mitarbeiter ist es nichts Neues im Homeoffice zu arbeiten, Videokonferenzen zu initiieren oder auch Dienstleistungen online zu erbringen. Für andere hingegen ist die Situation vollkommen neu. Gerne möchte ich Ihnen praktische Tipps geben, wie Sie Retrospektiven remote, online oder distant – wie auch immer Sie es nennen mögen – durchführen können. Um keine theoretische Abhandlung über Remote Retrospektiven zu verfassen, erläutere ich meine Erfahrungen anhand eines meiner Projekte aus dem vergangenen Jahr.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Unternehmen mit weltweit mehr als 100 Standorten. Für das Projekt relevant waren neun dieser Standorte. Die Teams saßen verteilt in Nordamerika, Europa und Asien. Oder genauer: in den USA, Irland, Deutschland, Schweiz, Italien und Malaysia, sowie zeitweise in Russland. Meine Aufgabe: Die Teams und das gemeinsame Projekt als Agile Coach zu begleiten. Vermutlich gibt es schwierigere Projekt-Settings, sicherlich aber auch deutlich einfachere. Zumindest die Terminfindung für eine Remote Retrospektive in derselben Zeitzone erscheint mir etwas einfacher. 😉
Mein Verständnis einer Retrospektive
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, bevor man sich im Detail über ein Thema auslässt, ein gemeinsames Verständnis zu dem Thema, zu verwendeten Begriffen oder Inhalten zu entwickeln. Vielleicht sind Sie bereits Retrospektiven-Profi, vielleicht haben Sie aber auch erst einige wenige Retrospektiven besucht. Gerne möchte ich mein Verständnis der Retrospektive mit Ihnen teilen.
Wie lebe und gestalte ich Retrospektiven? Für mich sind es wiederkehrende Teamentwicklungsworkshops. Sie fokussieren sich nicht zwingend nur auf einen Sprint, wie sie im Scrum Guide beschrieben sind, sondern auf den potenziell nie endenden Teamentwicklungsprozess.
Unabhängig von der Sprintlänge setze ich Retrospektiven mit einer Dauer von 90 Minuten an. Für jede Retrospektive überlege ich mir als Moderatorin vorab ein zielgerichtetes Konzept nach dem von mir entwickelten OHIR-Zyklus:
1. Observe: Tragen Sie als Moderator:in in Vorbereitung auf die Retrospektive und als Basis für das daraus entstehende Konzept Ihre Beobachtungen aus dem Teamgeschehen zusammen. Wichtig: hier ist beobachtbares Verhalten gemeint und Interpretationen sind nicht erlaubt.
2. Hypotheses: Bilden Sie perspektivenreiche und gerne auch konträre Hypothesen zu
a) Themen, die in der Retrospektive vom Team angesprochen werden könnten,
b) Teamentwicklungsthemen, die Sie als laterale Führungskraft sehen, wie z. B. Teamregeln, Konflikte, Feedback,
c) Themen, die bereits im Arbeitsalltag oder in der vorherigen Retrospektive beschlossen wurden.
3. Intervention: Konzipieren Sie die Retrospektive auf Basis von Observe und Hypotheses und entlang der 5 Phasen von Esther Derby & Diana Larsen. Helfen kann hierbei der Retromat. Bitte achten Sie auf Stimmigkeit der Zusammenstellung der Intervention.
4. Reflexion: Reflektieren Sie nach der Retrospektive, wie nützlich, sinnvoll und zielführend die Retrospektive war.
Für diejenigen, die die 5 Phasen von Esther Derby & Diana Larsen gerade nicht parat haben:
- Gesprächsklima schaffen.
- Themen sammeln.
- Erkenntnisse gewinnen.
- Entscheidungen treffen.
- Abschluss.
Spoiler: Ich werde am Ende des Artikels eines meiner Lieblings-Retrokonzepte aus dem beschriebenen Projekt mit Ihnen teilen.
ALLE Teilnehmende sind remote
So weit, so gut. Das bis hierhin beschriebene gilt gleichermaßen für Retrospektiven, bei denen alle zusammen an einem realen Ort sind, wie auch für Remote Retrospektiven.
Esther Derby und David Horowitz widmen sich in einem einstündigen Webinar (for free auf YouTube) eingehend den Besonderheiten bei Remote Retrospektiven.1 Darin unterscheiden Sie bspw. ob einige, viele oder alle Teammitglieder remote an der Retrospektive teilnehmen. Ich habe aber eine andere Erfahrung gemacht: Wenn die Regel ist, dass einige Teammitglieder immer remote dabei sind, tue ich so, als wären ALLE Teammitglieder remote. Das bedeutet, jede:r sitzt am eigenen Rechner.
Warum? Das hat etwas mit Fairness zu tun. Alle Teilnehmenden sollen die gleiche Ausgangsbasis haben, um an der Retrospektive teilzunehmen. In dem Projekt mit dem weltweiten verteilten Teams wurde meist an einem Flipchart am Hauptstandort gearbeitet. Manchmal fand der Austausch sogar ohne zusätzliche Visualisierung statt. Nachdem wir das Setting einmal auf “ALLE Teilnehmer sind remote” geändert hatten, kam von den echten Remote Teammitgliedern, also denjenigen, die nicht am Hauptstandort tätig waren, das erstaunte Feedback: “Wow, auf einmal habe ich das Gefühl, wirklich teilzunehmen und nicht nur zuzuschauen.”
Die 8 Prinzipien für Remote Retrospektiven
Werfen wir einmal einen Blick auf die 8 Prinzipien für Remote Retrospektiven von Esther und David.
1. Design to equalize participation
Schaffen Sie gleiche Ausgangsvoraussetzungen für die Teilnehmenden, so dass alle fair und gleichberechtigt teilnehmen können. Sind Sie als Moderator:in mit einigen Teilnehmenden in einem Raum, bemerken Sie vermutlich, wenn jemand zum Sprechen ansetzt, da sich die Atmung verändert (häufig wird tief Luft geholt, bevor jemand seine oder ihre Meinung kund tut). Das können Sie aber nicht bei denjenigen bemerken, die an anderen Standorten teilnehmen. Schaffen Sie also Rahmenbedingungen und Regeln für die gleichberechtigte Teilnahme.
2. Structure, structure, structure
Gerade für Online-Meetings, -Trainings und -Workshops fehlt den meisten die Übung. Unsere routinierten Verhaltensweisen haben wir meistens in realen Räumen erlernt. Diese sind nicht 1:1 auf den virtuellen Raum übertragbar. Explizite Regeln und ein diszipliniertes Einfordern und Einhalten helfen zur Orientierung. Hier ein paar Beispiele für hilfreiche Regeln:
- Kamera an
- Mikrofon stummschalten, wenn man nicht spricht
- Kurz halten, statt zu monologisieren
- Pausen einbauen, bspw. alle 45 min
- Gemeinsames Lüften & Bewegungsübungen
Und zeigen Sie auch immer wieder auf, an welcher Stelle der Agenda sich das Team gerade befindet, denn das schafft Orientierung.
3. Enhance or replace visual cues
Ich sprach das Bemerken des Einatmens als Zeichen des Sprechen-Wollens bereits an. Das Gefühl, jemanden anderen zu unterbrechen, ist den meisten Menschen unbehaglich. Oft lassen die Videokonferenztools mehrere Teilnehmer gar nicht gleichzeitig sprechen. Visuelle Zeichen sind hilfreich. Manche Tools haben solche Funktionen eingebaut (z. B. Zoom). Andere benötigen Kameraaktivierung. Dann helfen visuelle Hilfsmittel2, die in die Kamera gehalten werden, oder auch einfache Handzeichen. Manchmal werden aber auch nicht alle Kamerabilder gleichzeitig übertragen (z. B. Google Meet). Eine Sprecher:innenliste über den Chat kann hier helfen.
4. Help people remember who is there
Wie auch in regulären fact-to-face-Meetings spielt die Häufigkeit der Redebeiträge eine Rolle. Spricht ein Teilnehmer deutlich mehr als andere, so kann das dazu führen, dass der eine oder die andere sich mental zurückzieht. In einem Meeting vor Ort ist dies oft leicht und schnell zu bemerken. In einer Remote Retrospektive ist dies aber umso schwerer festzustellen. Sorgen Sie also dafür, immer wieder in Erinnerung zu rufen, welche Personen an der Retrospektive teilnehmen.
5. Actively engage people
Sprechen Sie Teilnehmende direkt an und aktivieren Sie sie zu Kleingruppenarbeit durch beispielsweise Breakout Rooms (z. B. in Zoom) oder auf dedizierten Slides (z. B. Google Presentations).
6. Use a back chanel
Falls technisch etwas schief geht, sorgen Sie dafür, dass Sie über einen alternativen Kanal in Kontakt bleiben (z. B. Slack) und vereinbaren können, wie es weiter geht. Im besten Fall gibt es eine gut funktionierende sofort nutzbare Alternative. Ein solcher Plan B ist gerade für eine Remote Retrospektive umso wichtiger, da sie technisch deutlich mehr Vorbereitung braucht, als ein Flipchart, Post Its und Stifte bereitzustellen.
7. Know your tools
Setzen Sie sich mit den Tools, die Sie nutzen wollen, eingehend auseinander. Die Retrospektive ist kein Experimentierraum für Unvorbereitete. Bitte unbedingt vorher Dry-Runs machen. Don´t waste the time of your colleagues.
8. Don´t let tools dictate your format
Überlegen Sie zuerst, was Sie erreichen wollen und dann folgt der Tooleinsatz dem Ziel und nicht umgekehrt.
Insbesondere Punkt 8 ist spannend. Oft ist die Frage der Tools, eine der ersten, die ich gestellt bekomme. Es ist gut zu wissen, welche Tools es für Social Collaboration gibt, welche Funktionen sie besitzen, wie teuer sie sind und wie sie die DSGVO beachten. Überblick ist super! Aber nur, um eine Entscheidung zu treffen, wie die Ziele der Retrospektive bestmöglich erreicht werden und nicht um mit einem Retrospektiven-Tool eine Retrospektive abzuhalten. Und das ist das gleiche als wollte jemand eine Lego-Retrospektive durchführen, weil Lego cool ist und Spaß macht. Sie kann sinnvoll sein, wenn mit ihr entsprechende Ziele erreicht werden, kann aber auch an den aktuellen Teambedürfnissen völlig vorbei gehen. Bitte überlegen Sie also immer zuerst, was Sie erreichen wollen, um dann zu schauen, welche Tools oder Formate dazu passen. Gehen Sie anders herum an das Thema heran, werden Sie sehr wahrscheinlich von dem ausgewählten Tool begrenzt und die Zielerreichung wird zur Glückssache.
Auf eine Toolliste möchte ich an dieser Stelle verzichten. Gerne arbeite ich persönlich mit Funretro.io3 und miro.com4, und die Breakout Session in Zoom ist eine meiner Lieblingsfunktionen. Aber wie gesagt: erst das Ziel, dann das Tool.
Ein 9. und 10. Prinzip für Remote Retrospektiven
Gerne möchte ich noch zwei Punkte hinzufügen:
9. Tool-Skills entwickeln
Für einige Teilnehmende einer Retrospektive ändert sich mehr als “nur” der Austausch in einem weiteren virtuellen Raum und die Nutzung unterschiedlicher Tools. Setzen Sie in der Remote Retrospektive ein Tool ein, dass den Teilnehmenden – und sei es nur einigen – unbekannt ist, nehmen Sie sich bitte einige Minuten Zeit und erläutern Sie das Tool und die entsprechende Handhabung. Planen Sie idealerweise auch etwas Zeit zum Erlernen der Optionen ein. Andernfalls droht die Überforderung der Teilnehmenden, die bis dato wenig oder keine Erfahrung mit ausschließlich virtueller und digitaler Arbeit haben. Entsprechende Geduld, Umsicht und auch Einzelbetreuung können helfen.
10. Visualisieren Sie gemeinsam
Da uns der Großteil der nonverbalen Kommunikation bei einer Remote Restrospektive fehlt, brauchen wir Ersatz. Für gemeinsame Bilder zu sorgen, ist nicht nur metaphorisch spannend, sondern bietet einen konkreten Nutzen. Gemeinsam auf die gleiche Visualisierung zu schauen und diese sogar gemeinsam zu bearbeiten, ist dabei essenziell. In meinem Projekt erinnere ich mich sehr gut an eine hitzige und laute Diskussion, in der uns die Visualisierung am SurfaceHub half, trotz der schlechten Tonqualität ein gemeinsames Verständnis zu einer konkreten Herausforderung zu entwickeln. Gut, dass wir entsprechende Tool-Skills und auch einen nützlichen Plan B hatten.
Einige Insights meiner liebsten Retrospektive
Gerne möchte ich Ihnen zur Inspiration noch einige Insights meiner liebsten Retrospektive mitgeben. Zur Erinnerung: Hierfür orientiere ich mich an den oben kurz erwähnten 5 Phasen von Esther Derby und Diana Larsen.
Schaffen Sie ein angenehmes Gesprächsklima.
Bspw. mit folgender Frage: “Wenn der letzte Sprint eine Mahlzeit gewesen wäre, was hätte es heute zu essen gegeben?” in meinem Projekt haben wir viel gelacht und die Teilnehmenden waren begeistert über die Vielfalt an Mahlzeiten, die insbesondere durch das multikulturelle und -nationale Setup entstanden. Inhaltlich ist diese Arbeit mit Metaphern besonders spannend, da sich durch den automatisch entstehenden Abgleich mit der eigenen Assoziationen, Kreativität freigesetzt wird und neue Fragen entstehen.
Sammeln Sie Themen und gewinnen Sie Erkenntnisse.
Bspw. mit der Futurespektive: “Stellen wir uns vor, es ist <Datum des Tages der Retro ein Jahr später>. Ihr seid <kurze Beschreibung des Idealzustands, z. B. Overperforming, nutzt Konflikte für kreative neue Ansätze (variiert von Team zu Team). Wie genau sieht das aus (Person für Person ins Storytelling bringen)? Was habt ihr getan, um so erfolgreich zu werden?
Treffen Sie Entscheidungen.
Aus der Vielzahl an potenziellen Action Items maximal 3 priorisieren lassen. Warum nur 3 oder sogar noch lieber weniger? Zu viele Action Items gehen im Daily Business unter. Lieber ein langsamerer, aber konstanter und nachhaltiger Entwicklungsprozess, als das Gefühl entstehen zu lassen, dass Retrospektiven nur “Labermeetings” sind und dass Unverbindlichkeit im Team eine gute Idee wäre.
Holen Sie sich ein Feedback zum Abschluss der Retrospektive.
Kurz und knapp wäre ein ROTI (Return on time invested). Wie sehr hat sich deine gerade investierte Zeit gelohnt?
1 = verschwendete Zeit, 3 = aufgewendete Zeit und Mehrwert halten sich die Waage, 5 = mega wertvoll.
Ein letzter Tipp für eine erfolgreiche Remote Retrospektive:
Bitte versuchen Sie nicht im ersten Schritt, die beste Remote-Retrospektive der Welt zu halten! Inkrementell und iterativ gilt auch für Scrum Master oder andere Moderator:innen. 😉
Retrospektiven – ganz gleich ob es sich um remote, online, distant oder lokale Retrospektiven handelt – sind auch eine Frage der Haltung. Versuchen Sie es Stück für Stück etwas besser zu machen. Seien Sie gut vorbereitet (kennen Sie die Tools, Sie wissen schon), seien Sie mutig und experimentieren Sie transparent mit bester Absicht. Es ist ein großer Abenteuerspielplatz, den es zu erforschen gilt. Spielen Sie und haben Sie Spaß dabei!
Hinweise:
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[1] YouTube Video: Secrets of Remote Retrospectives with Esther Derby and David Horowitz
[2] Ein Beispiel für visuelle Hilfsmittel: Supercards
[3] FunRetro.io
[4] Miro
Wollen Sie sich mit Kristina Müller über Ihre Erfahrungen austauschen oder suchen Sie nach Unterstützung in Ihren Projekten? Dann nehmen Sie einfach über ihre schöne Website Kontakt mit ihr auf: https://99facets.de/
Kristina Müller
So facettenreich Unternehmen mit ihren Kulturen, Produkten und Dienstleistungen sowie ihren Mitarbeitenden sind, so individuell und facettenreich sollte bei der Einführung und Adaptierung von Agilität vorgegangen werden. Nach diesem Motto handelt Kristina Müller. Als enthusiastische Wirtschaftspsychologin, Organisationsentwicklerin und agiler und systemischer Coach, befähigt sie Teams und Unternehmen zu selbstorganisierter Arbeit.