Psychische Belastungen des Scrum-Master-Jobs

Gastbeitrag von | 15.12.2022

Der Scrum-Master-Job bietet durch die Art, wie er beschaffen ist, einiges Potential für psychische Belastungen. Natürlich ist es sehr individuell, was als belastend empfunden wird, und nicht in jedem Arbeitskontext tritt jede herausfordernde Situation gleich stark auf, aber wiederkehrende Muster sind vorhanden. Dieser Artikel soll Ihnen einen Überblick über Herausforderungen und mögliche Lösungen geben.

Um zu verstehen, wo die Belastungspotentiale liegen, lernen Sie zunächst die Faktoren kennen, die Menschen bei der Arbeit zufrieden machen und wie sich die Arbeitsumstände von Scrum Master:innen darauf auswirken. Zuletzt erfahren Sie, welche Möglichkeiten Sie als Scrum Master:in haben, sich selbst zu helfen.

Welche Umstände zu psychischer Belastung führen

Als Scrum Master:in unterstützen Sie Ihr Team dabei, das bestmögliche Produkt für die Anwender:innen zu entwickeln. Dabei produzieren Sie selbst aber nichts, sondern befähigen nur andere zu produktiverem Arbeiten. So haben Sie wenig sichtbare Ergebnisse, auf die Sie stolz sein und für die Sie Anerkennung bekommen können. Auch bietet der Scrum-Master-Job selten die Gelegenheit für Flow-Erlebnisse, bei denen Sie sich stundenlang zufrieden in einer moderat fordernden Tätigkeit verlieren. Ebenfalls schwierig ist, dass Sie in Ihrer Rolle als Individuum zurücktreten. Ihre persönlichen Vorlieben, wie Sie gerne arbeiten würden, sind nicht relevant, da es darum geht, die besten Arbeitsbedingungen für das Team zu finden.

Sobald die Grundstrukturen von Scrum etabliert sind, haben Sie es oftmals nur noch mit komplexen Problemstellungen zu tun, nicht zuletzt weil immer Menschen involviert sind. Im Gegensatz zu einem technischen Problem gibt es keine Fehlermeldung, sondern Sie können sich nur aus Beobachtungen und Gesprächen ein Bild von der Situation machen. Wenn Sie dann eine Maßnahme ergreifen, kann es länger dauern, bis deren Auswirkungen sichtbar werden. Außerdem macht das Auf und Ab des Alltags es schwer zu erkennen, ob eine positive Veränderung Effekt Ihrer Maßnahme oder einfach nur ein guter Tag ist. Das kann, insbesondere bei weniger erfahrenen Scrum Master:innen für große Unsicherheit sorgen. Da Sie als Scrum Master:in üblicherweise für ein – manchmal sogar für mehrere – Teams zuständig sind, sind Sie mit dieser Unsicherheit auch noch alleine.

Das Umfeld stellt viele und diverse Anforderungen an Sie als Scrum Master:in. Sie haben viele Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen und persönlichen Wünschen. Zu den in Scrum vorgesehenen Entwickler:innen und Product Owner:in kommen das unternehmensinterne Management und ggf. auch Auftraggeber:innen von Kundenunternehmen hinzu. Dabei kann es schnell passieren, dass die an Sie gestellten Anforderungen zu Zielkonflikten führen. Außerdem fordert der Scrum-Master-Job eine Vielzahl von Fertigkeiten, u. a. zum Beispiel Teamentwicklung, Change Management, Wissen über agile Praktiken, Kommunikation und Konfliktmanagement. All diesen Anforderungen gerecht zu werden, ist nahezu unmöglich.

Am Ende ist die Arbeit eines Scrum Masters oder einer Scrum Masterin hauptsächlich Change Management und bekanntermaßen ist alle Veränderung schwierig. Strukturen sind in sich änderungsresistent, Menschen gegenüber Neuem skeptisch und mit ihrem anstrengenden Alltag bereits ausgelastet. Da stoßen Initiativen von motivierten Scrum Master:innen verständlicherweise nicht auf große Gegenliebe und Sie bewegen sich in kleinsten Schritten vor und manchmal auch zurück. Wenn Sie als Scrum Master:in im Alltag zum hundertsten Mal die Grundlagen von Scrum erklären, stellen Sie sich unter Umständen die Frage, wann Sie endlich die nächsten Schritte Richtung agiles Paradies machen können, wie es angeblich Google, Spotify und Co existiert.

Was Belastungen vorbeugen und ausgleichen kann

Der Scrum-Master-Job bietet eine Menge Potential, sich an ihm aufzureiben, doch durch einen bewussten Umgang damit können Sie sich selbst helfen.

Die wichtigste Maßnahme ist, sich andere Menschen für fachlichen Austausch und emotionalen Rückhalt zu suchen. Eine offizielle oder inoffizielle firmeninterne Scrum-Community ist hier besonders wertvoll, weil Ihre Kolleg:innen die speziellen Umstände in Ihrem Alltag am besten nachvollziehen können. Aber auch öffentliche Communitys können hilfreich sein, besonders wenn es darum geht, neue Ansätze und Methoden kennenzulernen. Eine Vertrauensperson außerhalb des eigenen Teams kann Ihnen helfen, Herausforderungen strukturiert anzugehen und Unsicherheit reduzieren.

Als nächstes hilft Erwartungsmanagement. Klären Sie mit Ihrem Team, was Sie für das Team tun sollen und auch, wie das Team Ihnen dabei helfen kann. Dabei können Sie auch abgrenzen, was nicht zu Ihren Aufgaben als Scrum Master:in gehört. Oft herrscht nur ein diffuses Verständnis davon, wozu ein/eine Scrum Master:in da ist. Dagegen hilft ein gemeinsamer Blick in den Scrum Guide mit einem anschließenden Gespräch, was die abstrakte Beschreibung konkret für den Alltag bedeutet.

Eine gezielte Auftragsklärung mit dem/der Product Owner:in kann hilfreich sein, insbesondere wenn es sich um eine/einen unternehmensexterne:n Auftraggeber:in handelt. Wenn Sie als Scrum Master:in sich ohne Abstimmung in die Belange eines externen Unternehmens einmischen, kann dies als übergriffig empfunden werden. Sprechen Sie daher mit dem/der Product Owner:in gezielt über die Verbesserungspotentiale und setzen sich ein gemeinsames Ziel.

Wenn Sie etwas bewegen wollen, müssen Sie sich sorgfältig überlegen, auf welche Kolleg:innen Sie Ihre Überzeugungsarbeit richten. Entsprechend des Konzepts der Diffusion von Innovationen nach Rogers¹ gibt es immer eine kleine Menge von Menschen, die Neuem gegenüber aufgeschlossen sind. Diese können Sie zu Ihren Verbündeten machen und ihnen Funktionen übertragen. Dann gibt es eine breite Mehrheit, die dem Neuen gegenüber neutral eingestellt sind, und eine kleine Minderheit, die – meist lautstark – dagegen ist. Oftmals konzentrieren sich Scrum Master:innen darauf, die Nein-Sager:innen zu überzeugen und arbeiten sich erfolglos an ihnen ab. Stattdessen können Sie sich auf die breite stille Masse der Unentschiedenen konzentrieren und diese deutlich leichter dazu bewegen mitzumachen.

Erwartungsmanagement sollten Sie aber nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst betreiben. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein:

  • „Was kann ich hier maximal erreichen?“ Mehr anzustreben ist nicht sinnvoll und führt zu unnötigem Frust.
  • „Was kann ich selbst verändern?“ Das ist meist sehr wenig, bietet aber die Möglichkeit, schnell zufriedenstellende Ergebnisse zu erreichen.
  • „Wo kann ich auf andere Einfluss nehmen und sie überzeugen?“ Hier können Sie eine Änderung bewirken, aber es wird Geduld und wahrscheinlich mehrere Ansätze kosten.
  • „Was ist unveränderlich?“ Hier lohnt es sich nicht, Energie in Veränderungsversuche zu investieren. Richten Sie sich stattdessen möglichst gut auf die Situation ein, so wie Sie einen Schirm mitnehmen, wenn es regnet.
  • „Verfolge ich eine eigene Agenda?“ Wenn Sie versuchen, Ihr eigenen Vorstellungen und Ideale zu verwirklichen, wird Widerstand Sie härter treffen. Außerdem sollten Sie Ihre Bemühungen für persönlichen Ziele und Ihre Arbeit als Scrum Master:in trennen, da Sie bei einer Vermischung die Glaubwürdigkeit vor Kolleg:innen verlieren können.

Eine wichtige Grundlage für das persönliche Erwartungsmanagement ist regelmäßige Selbstreflexion. Es hilft, wenn Sie sich regelmäßig bewusst machen, wie es Ihnen geht, was gerade gut und was schlecht läuft. Dies kann zum Beispiel in Form eines kurzen Wochenrückblicks passieren. Auch ein Rückblick über längere Zeiträume, zum Beispiel ein Jahr, kann Ihnen helfen, eine positive Perspektive auf Ihre eigene Arbeit zu bewahren und Ihre Erfolge zu erkennen.

Fazit

Als Scrum Master:in hängt Ihre Arbeitszufriedenheit in hohem Maße von Ihrem Umfeld und den Menschen darin ab. Ihnen begegnen vielfältige und widersprüchliche Anforderungen und der Fokus Ihrer Arbeit richtet sich vor allem auf die zu lösenden Probleme. Durch Gemeinschaft mit anderen Scrum Master:innen, Erwartungsmanagement und Selbstfürsorge können Sie sich selbst vor den potentiellen negativen Auswirkungen dieser Umstände schützen.

 

Hinweise:

[1] Diffusion of Innovations by Everett M. Rogers (1962)

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Lea Lindemann
Lea Lindemann

Als ausgebildete Diplom-Ingenieurin für Informations-Systemtechnik liebt Lea Lindemann es, nachhaltige Lösungen für Probleme zu finden. In über 10 Jahren in der agilen Softwareentwicklung und IT-Dienstleistung konnte sie zahlreiche Erfahrungen in verschiedenen Rollen, wie Qualitätssicherung, Anforderungsmanagement, Product Owner und Scrum Master sammeln. Mit diesen Erfahrungen hilft sie Menschen in Organisationen mit einer praxisnahen Mischung aus fachlicher Beratung und Coaching lean und agile Praktiken zur Lösung ihrer aktuellen Herausforderungen anzuwenden.