Design Thinking in der Produktentwicklung

Gastbeitrag von | 23.07.2018

Es muss nicht immer ein Workshop sein – Design Thinking Methoden in der Produktentwicklung.

Sie haben keine Zeit für Design Thinking Workshops, die mehrere Tage lang dauern und können schon gar nicht ein fünf- bis siebenköpfiges Entwicklungsteam für diesen Zeitraum komplett freistellen? Gut, dass sich einzelne Design Thinking Methoden gezielt in Entwicklungsprozesse integrieren lassen. Ich erzähle Ihnen im Folgenden meine Erfahrungen mit dem gezielten Einsatz von Design Thinking Methoden in der Produktentwicklung.

Design Thinking im Kurzüberblick

Das Thema Design Thinking ist mittlerweile nicht mehr nur ein aufstrebender Hype, sondern gängige Praxis in vielen Unternehmen. Dahinter verbergen sich ein Rahmenprozess, eine Vielzahl an Methoden, aber vor allem ein Mindset. Es geht darum, sich in einem interdisziplinären Team mit einem Problem, einer Design Challenge, auseinanderzusetzen. Das Ziel: zu wirklich hilfreichen, ggf. auch unkonventionellen Lösungen zu kommen. Anders als bei vielen anderen Vorgehensweisen bewegt sich das Team dabei nicht direkt im Lösungsraum und sammelt Ideen, sondern dringt zunächst tief vor in die Bedürfniswelt der Nutzer. Was brauchen diese wirklich? Was sind ihre aktuellen Pain Points? Was sind ihre Ansichten, Beweggründe, Motive? Erst wenn diese Informationen vorliegen, wird gemeinsam in einen Kreativitäts-, Gestaltungs- und Feedbackprozess übergegangen, in dem viel experimentiert und ausprobiert wird, Dinge verworfen werden, aus Fehlern gelernt und vor allem aufeinander aufgebaut wird.

Um schlussendlich zu solchen Lösungen zu kommen, durchläuft man im Design Thinking einen Prozess mit den fünf Phasen Empathize, Define, Ideate, Prototype und Test. Gängig sind dazu aktuell vor allem die Durchführung von Design Thinking Workshops oder auch Design Sprints, in denen die Phasen am Stück durchlaufen werden. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: diese intensive Beschäftigung lohnt sich definitiv! Die resultierenden Ergebnisse sind jedes Mal überraschend und vielversprechend. Dennoch weiß ich auch: gerade in Projekten gibt es häufig ein Zeit-, Budget und/oder Ressourcenproblem. Es kann schwierig sein, ein Team von 5-7 Personen für drei oder sogar fünf Tage am Stück aus dem Projektalltag herauszulösen.

Macht das den Einsatz von Design Thinking dadurch unmöglich? Natürlich nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich einzelne Design Thinking Methoden auch gezielt im Softwareentwicklungsprozess einsetzen lassen, ohne den gesamten Design Thinking Prozess am Stück durchlaufen zu müssen. Wie wir das bei itemis machen, erkläre ich gerne am Beispiel unserer Produktentwicklung.

Design Thinking Methoden in der Produktentwicklung

Kurz zu meinem Hintergrund: ich begleite die Produktentwicklung der YAKINDU-Produkte bei itemis seit fast vier Jahren als Usability Engineer, d.h. meine Hauptaufgabe ist das Vertreten der Benutzerbedürfnisse und die Gestaltung eines intuitiven User Interfaces. Aus dem Usability Engineering weiß ich, wie wichtig es ist, sich zunächst intensiv mit Nutzerbedürfnissen auseinander zu setzen, da nur so gewährleistet werden kann, dass ein Produkt vom Nutzer akzeptiert und genutzt wird. Design Thinking ist für mich daher gar nicht so neu: es verpackt bekannte Methoden aus dem Usability Engineering in einen etwas anders strukturieren Prozess und ergänzt diese um eine Vielzahl weiterer Methoden. Das macht das Thema für mich so spannend. Deshalb entschied ich mich auch, mich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen und als Moderatorin für Design Thinking Workshops weiterbilden zu lassen. Ich finde es faszinierend zu sehen, wie die Teilnehmer in diesen Workshops mit der Zeit eine ganz eigene Dynamik, Motivation und Energie entwickeln, um ein Problem zu lösen.

Wenn ich allerdings an meinen Job in der Produktentwicklung denke, in der ich gleich mehrere Produkte betreue, haben ich und meine Teams zeitlich gar nicht immer die Möglichkeit, mehrtägige Workshops durchzuführen. Also habe ich angefangen, bei Bedarf einzelne Design Thinking Methoden in der Produktentwicklung einzubringen:

Interviews – Nutzerbedürfnisse gezielt erfragen

Wenn es darum geht, zu verstehen, was Nutzer wirklich benötigen, führt kein Weg daran vorbei, mit Nutzern direkt in Kontakt zu treten. Die beste Möglichkeit, dies zu tun, sind Interviews. Interviews kann man immer einsetzen: soll ein neues Feature entwickelt werden, kann ich Leitfragen vorbereiten, die genau diesen Aspekt adressieren. Aber auch, wenn ich herausfinden möchte, wo bei den Nutzern der Schuh drückt, lasse ich mir von ihnen erzählen, wie sie ihre Aufgaben aktuell erledigen und bohre dann in die Tiefe, um zu den Kernproblemen und –bedürfnissen vorzudringen. Der Vorteil: Um Interviews einzusetzen, braucht es keinen Prozess, keinen lang andauernden Workshop. Man macht sie einfach.

Bei der Entwicklung des YAKINDU Model Viewers, einem Tool, um Matlab Simulink Modelle anzuschauen, adressieren wir beispielsweise die Nutzergruppe der Kalibrateure. Wir wollten zunächst verstehen, wie diese Nutzergruppe arbeitet und wofür sie das Produkt einsetzen. Wir haben daher mehrere Kalibrateure interviewt und dadurch viel erfahren; unter anderem, dass sie viel im Fahrzeug unterwegs sind und das Produkt auf dem Laptop nutzen – ohne Maus. Eine einfache Tastaturbedienung ist für diese Nutzergruppe also essentiell. Damit war direkt eine Design Challenge geschaffen: Wie können Kalibrateure ausschließlich mit der Tastatur mit dem YAKINDU Model Viewer interagieren, um schnell eine Fehleranalyse im Fahrzeug machen zu können?

Kreativmethoden im Team – Lösungsideen sammeln

Hat man ein solches Bedürfnis identifiziert, kann man in den Kreativraum übergehen. Während Interviews leicht von zwei Personen (einem Interviewer und einem Protokollant) geführt werden können, bin ich der Meinung, dass Kreativmethoden am besten im interdisziplinären Team funktionieren.

Für die zuvor beschriebene Design Challenge haben wir einen etwas umfangreicheren Kreativ-Workshop mit vier Stunden Dauer angesetzt, weil wir möglichst viele Use Cases für die Tastaturbedienung adressieren wollten. Teilnehmer waren der Projektleiter, drei Entwickler aus dem Model Viewer Team, zwei Usability Engineers und ein Entwickler eines anderen Produktes. Die Basis für den Workshop war die Methode des „Ideenturms“: wir haben an den Wänden unseres Raums zehn Stationen aufgebaut, die jeweils einen Use Case, z. B. die Suche im Modell, adressierten. Für jeden Use Case sollte eine Idee entwickelt werden, wie eine Tastatursteuerung und Visualisierung im Tool aussehen könnte. Über diese Stationen wurde im Laufe des Workshops rotiert: jeder Teilnehmer hatte fünf Minuten Zeit, seine Gedanken zum Use Case zu Papier zu bringen. Im nächsten Durchgang wurde auf den Ideen des vorherigen Stationsbesuchers aufgebaut und diese um eigene Ideen ergänzt. So entstanden am Ende pro Stationen viele verschiedene Lösungsideen. Diese wurden am Ende diskutiert, aggregiert und schließlich priorisiert, mit welchen Ideen wir weiterarbeiten wollen.

Gerade solche und weitere Kreativmethoden, die aus dem Design Thinking bekannt sind, lassen sich immer schnell im Entwicklungsprozess einsetzen. Regelmäßig führen wir beispielsweise Design Studios durch, die zeitlich bei etwa zwei Stunden liegen. In kurzen Iterationen wird einzeln gescribbelt, die Ideen dem Team vorgestellt und bewertet und dann in einer nächsten Iteration auf den Ideen der anderen aufgebaut.

Prototypen bauen und Nutzerfeedback sammeln

Wir haben eine Idee, was aber jetzt? Im Design Thinking geht es nun darum, die Ideen erlebbar und begreifbar zu machen, um Feedback von Nutzern einzuholen. Dies lässt sich am schnellsten über Prototypen realisieren. Ein Prototyp kann ganz unterschiedlich aussehen: es kann eine schnelle Implementierung sein, ein Papier-Prototyp, ein Klickprototyp oder auch ein Schauspiel.

Prototypen setzen wir in der Produktentwicklung ständig ein, da sie einfach erstellt sind und schnelles Feedback ermöglichen. Beispielsweise arbeiten wir gerade daran, den Toolstart des YAKINDU Model Viewers zu optimieren. Dazu haben wir ein Konzept entwickelt und dieses im Tool „UXPin“ als Klickprototyp realisiert. Einen solchen Prototyp kann eine Person in ein paar Stunden Arbeit hinbekommen – also braucht es auch hier kein großes Team und einen Workshop.

Um Nutzerfeedback zu bekommen, sind wir mit unserem Klick-Prototyp zu einem Usability Testessen gefahren – einer Abendveranstaltung, in der Anwendungen und Prototypen in kurzen, 10-minütigen Usability Tests von Nutzern evaluiert werden. Unabhängig von derartigen Veranstalten organisieren wir Usability Tests auch selbst, um an Feedback zu kommen. Sie lassen sich jederzeit in den Entwicklungsprozess integrieren.

Einzelne, ausgelagerte Methoden – funktioniert das?

Ich denke, wie man an den Beispielen sehen kann, lassen sich die einzelnen Methoden aus dem Design Thinking ziemlich leicht getrennt voneinander einsetzen – es muss nicht immer zeitlich am Stück sein. Auch braucht es nicht für alle Methoden ein Team.

Wichtig, damit es funktionieren kann, sind aber dennoch ein paar Dinge:

  • Es sollte aus jeder Phase des Design Thinking eine Methode dabei sein. Ein Start mit Kreativmethoden, ohne die Nutzerbedürfnisse verstanden zu haben, erhöht die Gefahr, komplett am Nutzer vorbei zu entwickeln.
  • Kommunikation ist alles: damit die Methoden funktionieren, muss Wissenstransfer gewährleistet sein. Wurden Interviews durchgeführt, sollten alle Projektmitglieder die Bedürfnisse der Nutzer kennen.
  • Kreativmethoden sollte man im Team durchführen – gemeinsam ist man kreativer und kann auf den Ideen anderer aufbauen.
  • Alle Projektmitglieder sollten ein grundsätzliches Verständnis vom Design Thinking Prozess haben, damit sie verstehen, was wann wie Sinn macht.

Klingt gut? Ist es! Und es hilft, die Produkte zu verbessern. Es gibt jedoch auch ein kleines „Aber“: Auch wenn ich sehr gute Erfahrung mit der Auslagerung der Methoden gemacht habe, geht natürlich eine Sache verloren: die Teamdynamik und der Ansporn, die sich in Design Thinking Workshops entstehen, in denen mehrere Tage konzentriert zusammengearbeitet wird, kommt bei einer zeitlichen Verlagerung der Methoden natürlich nicht so stark hervor. Gerade das kann jedoch manchmal das Entscheidende sein, um auf eine wirklich innovative Lösung zu stoßen.

 

Hinweise:

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Informationen zu YAKINDU finden Sie unter https://www.itemis.com/en/yakindu/. Weitere Blogbeiträge von Sandra Schering finden Sie im itemis Blog unter https://blogs.itemis.com/.

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Sandra Schering
Sandra Schering

Sandra Schering leitete bei der itemis AG von Ende 2016 bis Ende 2019 den Usability Bereich der itemis AG. Sie unterstützte Kunden bei der Einführung und Durchführung von Usability Engineering Methoden, führet Usability Trainings durch, z. B. als Vorbereitung auf die CPUX-F- und CPUX-UR-Zertifizierung, und leitete Teams als Moderatorin durch den Design Thinking Prozess. Seit Anfang 2020 ist sie als Strategic UX Designer bei der Signal Iduna Gruppe tätig.