Balsam für die Seele der Wirtschaft

Gastbeitrag von | 22.03.2018

Wo dezentrale Arbeit ihren Anfang nimmt.

Als ich meine exotische Diplomarbeit schrieb, hätte ich nie angenommen, dass ich einmal Mitgründer eines Start-ups sein werde, das unsere Arbeitswelt revolutionieren kann. Aber genauso kam es. Denn Justin Carter und Kyle Parkinson haben eine Vision, die ich begeistert mit ihnen teile: Kollaboration ohne formale Fallstricke.

Meine Abschlussarbeit an der Hochschule ging der Frage nach, was wohl das Management machte, wenn sich die Prozesse selbst steuern. Ende der 90er war das kein Aufreger. Es blieb als Hirngespinst einfach unbeachtet. Wie können komplexe Leistungen wie der Bau eines modernen Forschungslabors, ein selbstfahrendes Auto, die Transportkoordination für das umfassende Angebot eines Supermarkts gelingen? Ganz egal, aber auf jeden Fall unter dem Dach von Firmen. Sie steuern die notwendigen Ressourcen, die Maschinen und die Mitarbeiter. Nur dieser formale Überbau ermöglicht unser modernes Leben. Vor etwa einem halben Jahr begann unser Wagnis. Zusammen erkannten wir 6 wertvolle Lektionen über die Arbeit der Zukunft.

Vertrau dem System

Im Herbst 2014 moderierte ich eine Wissenskonferenz bei der Gesellschaft für Informatik (GI) in Berlin. Eine Menge honorierter IT-ler diskutierten die Souveränität im Netz. Hier gibt es die Stellungnahme daraus als Download. Das Durchschnittsalter lag deutlich über 40. Was der Diskussion gut tat. Es ging um Verschlüsselung, Entschlüsselung, Manipulationssicherheit usw. Ein Satz, der sich in mein Gedächtnis brannte war: »Sobald sie als Einzelmensch ein beliebiges Gerät ans Netz anschließen, teilen sie alle Informationen darauf mit der Welt. Ein Individuum kann sich nicht wirksam gegen Datenmissbrauch wehren.«

Damals waren mir Bitcoin und Blockchain komplett unbekannt. Mein Umstieg von Symbian auf Android fand endlich einen moralischen Hafen: »Es war ja eh egal!«

Heute gibt es Technologien, die Individuen ihre Souveränität im Netz zurück geben. Projekte wie Blockstack, entwickeln ein Internet, in dem ich bestimme, wer wie über meine Daten verfügt. Steige ich aus, endet mein Datenstrom. Die Blockchain¹ ermöglicht eine manipulationsfreie Dokumentation der Vorgänge, wenn ihr Verlauf dezentral vielfach gesichert wird. Für einen Betrug müssten tausende Datensätze, die weltweit unabhängig voneinander gespeichert sind, zeitgleich übereinstimmend verändert werden. Gelingt das nicht, sehe ich zuverlässig meine Vereinbarungen. Beides ist entscheidend für eine glaubwürdige Zusammenarbeit ohne unternehmerischen Überbau. Unser Projekt heißt Misthos. Mit ihm dokumentieren wir in dieser Umwelt Kollaboration und Finanzströme vertrauenswürdig. In Folge braucht man weder Buchhaltung noch Bank, um zu sehen, ob und dass man korrekt bezahlt wird.

Wollen können zählt

In Misthos engagieren sich drei Menschen. Seit einigen Monaten zwei praktisch in Vollzeit. Wie es sich für ein Start-up gehört, fand der bisherige Einsatz ohne Einkommen statt. Wir stecken Zeit, Know-how und Netzwerk in dieses unternehmerische Wagnis. Das geht natürlich nur für eine begrenzte Dauer. Deshalb suchen wir augenblicklich nach Investoren. Wir stellten Misthos dafür auf einem internationalen Event in Berlin vor.

Seither führen wir Gespräche mit Business Angels. Soweit so gut, könnte man denken. Tatsächlich gründen wir eine Kapitalgesellschaft. Wir arbeiten Verträge aus. Wir prüfen Vereinbarungen. Oder anders gesagt, wir verwalten den zukünftig möglichen Eigentumswert der Firma. All das hält uns davon ab, zu tun, was wir wollen – Misthos in die Welt bringen. Lustigerweise wäre Misthos genau dafür die Lösung. Zug um Zug dokumentiert es die Einflüsse, die ein Start-up vom Wagnis zum wirtschaftlichen Erfolg machen. So kann man auf komplizierte Eigentumsverteilungsvereinbarungen verzichten. Die Teilgebenden kennen ihren Anteil an den künftigen Erträgen. Sprich, keine Entwicklungsunterbrechungen mehr für aufwändige Vertragsverhandlungen. Die Zeit bis zum Scheitern oder zur erfolgreichen Umsetzung am Markt verkürzt sich so beträchtlich.

Wertschätzen ersetzt messen und bestrafen

Diese Woche saß ich als Zuhörer in einem Kamingespräch. Der Titel: »Brave New Work«. Wir sprachen mit Hermann Arnold, dem Gründer von umantis². Heute ist seine Firma Teil von HAUFE umantis und eines der Vorzeigebeispiele für neue Formen der Zusammenarbeit. Im Verlauf kam ein Mann aus dem Publikum zu einer Aussage, die breite gemurmelte Zustimmung erhielt: »Was wir auf jeden Fall brauchen, ist die Wertschätzung der Mitarbeiter. Ohne sie geht das ganze New Work Gequatsche nach hinten los!«

Die Schätzung der Wert- und Leistungsbeiträge

Die Schätzung der Wert- und Leistungsbeiträge

Die Aussage erinnerte mich an ein Investorengespräch, das wir einen Tag zuvor führten. Der Interessent fragte uns: »Wie messt ihr dann in eurem Graph, wer wieviel Leistung einbringt?« Nach einer kurzen Schweigepause antworteten wir ihm: »Nein, nein. Wir messen gar nichts. Die Verteilung entsteht als Verhandlung in einem sozialen Prozess außerhalb der Software. Unser Programm zeigt, wer im Wagnis an der Entscheidung zu beteiligen ist. Dann schätzen die Menschen ihren Wert- und Leistungsbeitrag. Das Ergebnis dieser Wert-Schätzung dokumentieren danach alle verbindlich in Misthos. Wenn wir überhaupt etwas messen, dann den Geldeingang und die korrekte Verteilung nach der dokumentierten Vereinbarung.« Erst im Kamingespräch erkannte ich die Tiefe dieses sozialen Paradigmenwechsels. Anstatt messen zu wollen und den Wert des Beitrags der Mitarbeiter regelmäßig vor der Auszahlung herunterzuhandeln, lehrt Misthos uns gegenseitig zu schätzen. Anschließend belohnen wir uns mit den Früchten der Zusammenarbeit.

Es menschelt

Praktisch alle verstehen den Misthos-Graphen von links nach rechts. Also an wen wird wieviel Geld verteilt. Da dort bei uns zur Zeit allerdings gar nichts ankommt, lesen wir, die Entwickler, ihn von rechts nach links. Wer trägt was zum Gelingen bei. Wir müssen uns darüber auseinandersetzen, wollen wir am irgendwann hoffentlich beginnenden Einkommensstrom beteiligt sein. Das allein verbessert die Kommunikation.

Natürlich sind wir unsicher. Immer wieder zweifeln wir am möglichen Erfolg. Wir haben Bedenken, wie sich unser Wagnis entwickelt. Anstatt damit hinterm Berg zu halten, sprechen wir darüber. Alles andere gefährdet sichtbar die angestrebten Ergebnisse. Sichtbar, weil uns Misthos vor Augen führt, was passiert, wenn einer von uns seinen Beitrag aussetzt. Er bremst das Projekt. Aus dieser Offenheit  folgt keinesfalls Mobbing, vielmehr erlebe ich mehr Respekt und Verständnis als ich das in vielen Unternehmen, in die ich Einblick haben darf, wahrnehme. Wer die Erwartungen der Gruppe stets vor Augen hat, wächst daran.

Skalen revolutionieren die Arbeit

Seit mehr als einem Jahrzehnt kooperiere ich in Beratungsprojekten nach den Grundprinzipien, die auch Misthos berücksichtigt:

  • Anstatt über Geld sprechen wir von Wert- und Leistungsanteilen. Kathleen Vohs Studien³ zeigen, dass es reicht, Geld zu erwähnen, um unsere Kooperationsbereitschaft einzuschränken.
  • Die Verteilung festzulegen ist ein sozialer, kein technisch messender Prozess. Durch die Übereinkunft vermeidet man, menschliche Leistung zu messen. Stattdessen würdigt man ihren Beitrag.
  • Das Abkommen ist bindend. Es zu verändern, verlangt die Zustimmung aller Betroffenen.

So gelingt es, dass man sich sinnvoll einigt, bevor das erste Geld da ist. Kommt es zu Einnahmen fließen sie schlicht durch die Verteilung. Alle Diskussionen über Anteile, eingebrachte Leistungen etc. sind dann bereits abgeschlossen. Geld verschwindet aus der Wahrnehmung. Es findet einfach statt. Im Fokus steht an seiner Stelle das Gelingen des Vorhabens. Ich lebe das für Kooperationen mit maximal fünf Partnern seit etlichen Jahren erfolgreich. Eine größere Gruppe braucht ein Werkzeug wie Misthos.

Technologie lässt uns menschlich gesunde Kollaboration skalieren. Das ermöglicht uns, die Unternehmensgrenzen aufzubrechen. Wohin das führt? Auf jeden Fall in ganz neue Arbeitswelten.

Diese sechs Erkenntnisse führen zu einem anderen Bild von Menschen in Arbeit. In ihm erwerben wir unser Einkommen aus der Beteiligung an frei gewählten wirtschaftlichen Wagnissen. An die Stelle von Verhandlungen mit Vorgesetzten und Betrieben treten Vereinbarungen zu Leistungs- und Wertbeiträgen. Kollaboration kann schnell entstehen. Sie wächst ohne Hindernisse. Selbst eine Trennung ist unproblematisch. In diesem Bild fließt Energie dort zusammen, wo sie gebraucht und gewollt wird. Wir versetzen uns damit in einem noch nie da gewesenen Maß in die Lage, sinnvoll zu arbeiten.

 

Hinweise:

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Weitere Informationen zu Misthos finden Sie unter http://www.misthos.io.

[1] Informationen über Blockchain auf Wikipedia 
[2] Informationen über Hermann Arnold bei HAUFE umantis
[3] Kathleen Vohs – The Psychological Consequences of Money

Gebhard Borck hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

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Gebhard Borck
Gebhard Borck

Gebhard Borck machte sich vor zwei Jahrzehnten auf, eine faire Betriebswirtschaft zu finden. Auf seinem Weg stellte er fest, dass sie wohl noch zu entwickeln ist. Seither widmet er sich in seiner Arbeit dieser Aufgabe. Zusammen mit wandelmutigen Kunden und wagemutigen Kolleg:Innen entstand daraus die Betriebskatalyse. Ein praktikabler Gegenentwurf zur bestehenden BWL. Das Spannendste ist: mit ihr läuft Ihre Firma in vielen Kontexten, sei es im gelebten Kapitalismus, im De-Growth oder in einer Zirklulärwirtschaft, wie auf dem Donut. Eines ist in allen Varianten gleich: Der Fokus auf eine existenzielle Ausgeglichenheit als zentralen Maßstab für Erfolg. In seinem aktuellen Buch „Die selbstwirksame Organisation“ beschreibt der Transformationskatalysator, wie Sie die Betriebskatalyse in Ihrer Firma erfolgreich spielen können.