Projektstart, auf die Plätze, fertig
6.30 Uhr. Der Wecker klingelt. Sie springen auf, schnappen sich Ihre Aktentasche und den Autoschlüssel. Noch vor dem morgendlichen Stau wollen Sie es heute ins Büro schaffen. ‚Der frühe Vogel fängt den Wurm‘ heißt es ja so schön. Kaum sind Sie im Büro angekommen, starten Sie Ihren Computer und holen sich einen ersten Kaffee in der Küche. Doch beim Blick in den Spiegel merken Sie es: Mist! Wie konnte das passieren? Sie haben noch Ihren Pyjama an! Sie haben vergessen sich anzuziehen, bevor Sie aus Ihrer Wohnung gestürmt sind.
Natürlich passiert so etwas im realen Leben nicht. Aber vielleicht haben Sie schon einmal vergeblich Ihre Sportschuhe in der Sporttasche gesucht? Oder Ihre Zahnbürste auf Reisen? Oder die Wegbeschreibung zu einer Veranstaltung oder einem Hotel? Solche Sachen passieren relativ häufig im privaten Umfeld. Und im beruflichen auch. Im übertragenen Sinn starten sogar viele Projekte im Pyjama.
Dabei beschreiben praktisch alle Projektmanagement-Methoden Aktivitäten und/oder Prozesse für einen „optimalen“ Projektstart. PRINCE2 definiert bspw. sogar zwei Prozesse: „Vorbereiten eines Projektes“ und „Initiieren eines Projektes“. Bei der Vorbereitung eines Projekts soll mit geringem Aufwand abgeschätzt werden, ob sich eine angestrebte Projektidee überhaupt lohnt und ob es hierfür einen entsprechenden Business Case gibt. Die Initiierungsphase schafft dann eine solide Grundlage für das Projekt, in dem der Projektmanager die internen Verfahren für z.B. den Projektplan und den Kommunikationsplan erstellt. So sagt es zumindest die Theorie.
Die Realität zum Projektstart
In der täglichen Unternehmenspraxis lassen sich ganz andere Vorgehensweisen beobachten. Organisationen fühlen sich getrieben durch Kunden und Markterwartungen. Aus Sicht von IT-Abteilungen und deren Projekten sind dies die Fachbereiche, die möglichst gestern Anforderungen realisiert haben wollen. Hier zwei kurze Beispiele aus meiner Praxis:
1. Ein Entwicklungsprojekt bei einem Automobilzulieferer
Bei dem Entwicklungsprojekt galt es, ein Konsortium unter „einen Hut“ zu bekommen. Der Projektmanager wollte weder eine zentrale Projektplanung erstellen, noch ein Projektcontrolling mit einer entsprechenden Fortschrittsmessung etablieren. Die Fortschrittsmessung erfolgte ausschließlich auf Basis der gemeldeten Zeiten der einzelnen Partner. Eine Fortschrittsbetrachtung auf Basis von Arbeitspaketen fand nicht statt. Und einen Lenkungsausschuss mit verschiedenen Interessenvertretern gab es auch nicht. Bei dem Entwicklungsprojekt gab es also vor allem zwei Problemfelder:
- Eine Fortschrittssteuerung war praktisch nicht möglich
- Bei anstehenden Entscheidungen und notwendigen Eskalationen fehlten die richtigen Ansprechpartner, da es keine klaren Rollen und Verantwortlichkeiten gab
2. Softwareeinführung zur Prozesssteuerung bei einem Health Care Unternehmen
Bei diesem Projekt wurden sowohl der Projektleiter als auch der Auftraggeber vor vollendete Tatsachen gestellt. Die einzuführende Software zur zukünftigen Prozesssteuerung war bereits ausgewählt. Der Dienstleister stand fest und die Verträge waren unterzeichnet. Was nicht fest stand, waren die zu entwickelnden fachlichen Prozesse, die in der Software noch hinterlegt werden mussten
- die Form der Zusammenarbeit mit dem Dienstleister
- der Scope des Projektes – dieser änderte sich in den ersten zwei Monaten, so dass aus einem lokalen Einführungsprojekt ein weltweites Roll-out wurde
Die Fachbereiche waren mit der Vorgehensweise und dem Prozessdesign natürlich überfordert. Dann stellte sich heraus, dass der Dienstleister nicht über die notwendigen Ressourcen zur Anpassung der Software hatte. Und dann kamen noch interne Querelen mit Teilen des Managements hinzu. Bei der Softwareeinführung gab es also vor allem drei Problemfelder:
- Die entscheidenden Personen des Projektmanagement-Teams waren nicht an den wesentlichen Entscheidungen zum Projektstart wie der Auswahl der Software und des Dienstleisters beteiligt
- Die Zusammenarbeit mit dem Dienstleister war nicht definiert und vereinbart
- Für den Auftraggeber schien zu Beginn ein methodisches Vorgehen eher hinderlich
In beiden Projekten war die Startlinie bereits überschritten. Die Probleme, die während des Projektes auftraten, entstanden nicht während des Projektes sondern waren die direkte Folge von Versäumnissen zu Projektbeginn. Wie im „richtigen Leben“ holten uns diese Versäumnisse schnell ein. Vermutlich kennen auch Sie das eine oder andere Beispiel, bei dem zu Projektbeginn gemachte Fehler zu großen Problemen im Projektverlauf wurden, oder?
Die Kernfelder zu Projektbeginn
Seit mehr als 20 Jahren bin ich als Projektmanager tätig. Nach meiner Erfahrung sollte jeder Projektmanager bzw. Auftraggeber eines Projektes versuchen, drei Kernfelder zu Beginn eines Projektes zu beachten:
- Auftragsklärung
- Verantwortlichkeiten
- Projektvision
Warum sind diese 3 Themenfelder so wichtig?
1. Auftragsklärung
Auftragsklärung ist ein wesentlicher Bestandteil der Projektplanung. Als Projektleiter müssen Sie die Erwartungen des Kunden bzw. Auftraggebers verstehen. Es ist wichtig zu wissen, ob es eine Spezifikation oder nur vage Ideen gibt, die umgesetzt werden sollen. Im ersten Fall lassen sich Kriterien zur Abnahme definieren. Gibt es nur vage Ideen, gilt es mit dem Auftraggeber bzw. Kunden zu vereinbaren, wie das Projektteam zu Spezifikation kommt. Dies kann bedeuten, dass Sie für die Planungsphase Zeit einplanen müssen, um genau diese Informationen zu sammeln. Versäumen Sie diesen Schritt, ist es gut möglich dass Sie die Erwartungshaltung des Auftraggebers bzw. Kunden nicht treffen und es zu vielen Diskussionen um das eigentliche Projekt kommt.
2. Verantwortlichkeiten
Ein essentieller Erfolgsfaktor für einen guten Projektstart ist die Festlegung der Rollen und Verantwortlichkeiten. Dies gilt sowohl für die Dienstleister als auch das eigene Projektteam. Für Sie als Projektleiter ist es besonders wichtig, dass Sie Ihre Befugnisse mit dem Auftraggeber klären. So treffen Sie Entscheidungen über Spielräume z.B. welche inhaltlichen/fachlichen Entscheidungen dürfen Sie selbst treffen, welche Einfluss haben Sie auf das Budget und an welchen Punkten benötigen Sie die Kompetenz von Lenkungsausschuss oder Auftraggeber.
Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass dem Lenkungsausschuss mit dem Auftraggeber an der Spitze eine wesentliche Rolle für den Projekterfolg einnimmt. PRINCE2 beschreibt den Auftraggeber bzw. Projektsponsor als „ultimative responsible“ für das Projekt. Er ist aufgrund seiner Entscheidungskompetenz verantwortlich für den Projekterfolg – nicht der Projektmanager. Der Projektmanager hat die zentrale Verantwortung für das Tagesgeschäft – planen, delegieren, überwachen und steuern. Er trifft aber keine grundlegenden Entscheidungen. Diese Verantwortung liegt beim übergeordneten Management.
3. Projektvision
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann rufe nicht die Menschen zusammen, um Holz zu sammeln, Aufgaben zu verteilen und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.“ Dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry (1900-44) klingt vielleicht schon etwas abgedroschen, beschreibt aber für modernes Projektmanagement einen sehr wichtigen Faktor: die Projektvision. Die meisten Projektleiter wünschen sich motivierte Projektmitarbeiter und keine Arbeitsroboter. Daher ist es auch wichtig, Mitarbeiter mitzunehmen, sie zu motivieren und Ihnen den Blick auf das „große Ganze“ zu ermöglichen. Damit erhalten Sie einen gemeinsamen Rahmen für Ihr Projekt. Auch wenn es im Tagesgeschäft nicht immer einfach ist, für jedes Projekt eine Projektvision zu formulieren, es ist sehr wertvoll und lohnt den Aufwand.
Fazit
In vielen Projekten, die durch Fachbereiche getrieben werden und in denen ein großer Erfolgs- und Zeitdruck herrscht, wird oft der dritte und vierte Schritt vor dem ersten gemacht. Meist ist es sehr aufwändig und schwierig, Fehler im Projektverlauf zu korrigieren, deren Ursachen im schlecht oder gar nicht geplanten Projektstart liegen. Deshalb müssen Projektorganisationen lernen, dem Projektstart – die ersten Schritte und Entscheidungen eines Projektes – als elementares Erfolgskriterium des Projektes anzusehen. Sie müssen diesem Teil des Projektes genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie der tatsächlichen Projektdurchführung. Ansonsten stehen Sie doch eines Tages mit Ihrem Pyjama in der Firmenküche.
Hinweise:
Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.
Steffen Wendel hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Steffen Wendel
Steffen Wendel ist als Senior Berater und Lead Trainer Projektmanagement bei der ITSM Group und als Vorstand der Best Practice User Group Deutschland e.V. tätig. Häufig ist er verantwortlich für die effiziente und sichere Abwicklung von Projekten, wobei er einen Schwerpunkt auf die methodischen Aspekte des Projektmanagements legt.