Muster und Methoden in Organisationen

Gastbeitrag von | 22.11.2021

Alter Wein in neuen Schläuchen: Was tun, wenn moderne Methoden alte Muster reproduzieren?

Methoden helfen uns, unsere Zusammenarbeit bewusst und zielführend zu gestalten. Statt es dem Zufall oder dem Willen des lautesten Projektmitglieds zu überlassen, wie ein Projekt angegangen wird, gibt es eine klar definierte Vorgehensweise, die auf die Erreichung des bestmöglichen Ergebnisses ausgerichtet ist. Methoden versprechen Orientierung und Verlässlichkeit. Immer wieder aber machen wir in Organisationen die Erfahrung, dass Methoden nicht so richtig fruchten und irgendwie nicht eingehalten werden. Der Frust steigt, weil nicht nur das Projektziel verfehlt, sondern auch die Methode nicht befolgt wird. Woher kommt das? Und wie lässt es sich vermeiden?

Die Gründe für halbherzig angewandte Methoden mögen in jedem Unternehmen andere sein: Mal verfügen die Beteiligten nicht über das nötige Methodenwissen. Mal ist der operative Zeitdruck einfach zu hoch, um methodisch sauber vorzugehen. Mal hat die Methode nicht die nötige Akzeptanz bei der Unternehmensleitung. Was hinter all dem steckt, ist häufig jedoch dasselbe. Es ist das, was indirekt von der neuen Methode infrage gestellt wird: Die bestehenden Muster der Organisation. Sie bestimmen das Denken und Verhalten der Organisationsmitglieder, sind diesen jedoch nicht immer vollständig bewusst. Und deshalb nur sehr schwer zu verändern – auch mit der besten Methode der Welt.

It’s not a bug, it’s a feature!

Etwas, das uns nicht bewusst ist, bestimmt unser Verhalten im Unternehmen? Sollte das Handeln in Organisationen nicht auf den Unternehmenszweck ausgerichtet und daher das Ergebnis bewusster Entscheidungen sein? Sollte es. Aber Unternehmenszwecke und andere ausdrücklich formulierte Spielregeln lassen immer eine „Rest-Grauzone“, die es zu füllen gilt. Sie bietet Spielraum für individuelle Entscheidungen. Und für die Entstehung gemeinsamer „Entscheidungsgewohnheiten“ – die Muster der Organisation. Aus einem „so machen wir das jetzt mal“ wird ein „so haben wir das letztes Mal auch gemacht“ und schließlich das viel zitierte „das haben wir schon immer so gemacht“.

Die Entstehung solcher organisationalen Muster ist also keineswegs eine Fehlfunktion, die es zu korrigieren gilt. Denn die Muster erfüllen – ähnlich wie formale Strukturen, Strategien und Prozesse – einen wichtigen Zweck für die Organisation: Sie helfen, Zusammenarbeit zu koordinieren. Statt immer wieder neu entscheiden zu müssen, wer was macht, wie Entscheidungen getroffen werden und wie mit Konflikten umgegangen wird, bieten die Muster eine Blaupause, über die nicht mehr nachgedacht werden muss. Und oft auch nicht wird.

Methoden als Lösung für unerwünschte Effekte eines Musters?

Doch so sehr gemeinsame Muster die Zusammenarbeit erleichtern, so können sie auch hinderliche Effekte haben. Ein erfolgreiches Ringen um die beste Lösung kann sich zum Beispiel zu einer zeit- und energieraubenden Diskussionskultur entwickeln, in der jede noch so kleine Entscheidung unter Einbeziehung sämtlicher Stakeholder ausführlich diskutiert wird. Oder eine an der Oberfläche für ein gutes Miteinander sorgende Harmonieorientierung führt dazu, dass Konflikte nicht offen angesprochen, sondern „hintenrum“ diskutiert und kultiviert werden.

Ein Weg, mit solchen Effekten umzugehen, ist die Suche nach Methoden zur Verbesserung der Zusammenarbeit. Wer lange genug sucht, wird vermutlich auch genau die Methode bzw. das Tool finden, die zu seinem Problem passen – sei es Timeboxing zur Vermeidung endloser Diskussionen oder Kudos-Karten zur Förderung wertschätzender Kommunikation.

Das übersieht jedoch, dass das bestehende Muster trotz seiner unerwünschten Nebenwirkungen auch einen Nutzen für die Organisation hat. Ist diese Funktion bedroht, regt sich organisationaler Widerstand. Die Endlosdiskussionen werden einfach außerhalb der Timeboxes in der Kaffeeküche weitergeführt. Und die Kudos-Karten verstärken möglicherweise sogar noch das Bedürfnis, konfliktäre Themen „hintenrum“ zu verhandeln. Organisationen sind unglaublich geschickt darin, ihre Muster auch unter veränderten Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Soll eine Methode ihre Wirkung entfalten, ist es daher essenziell, dass die Beteiligten sich vor oder spätestens bei ihrer Einführung zunächst mit den alten Verhaltensmustern und ihrem – meist auf den ersten Blick nicht offensichtlichen – Nutzen auseinandersetzen.

Den Boden für die Methode bereiten

Am besten geht das im unmittelbaren Anschluss an konkrete Interaktionen, mit denen die Beteiligten unzufrieden sind. Etwa nach einem zähen oder ergebnislosen Projektmeeting:

  • Wie ist die Besprechung heute abgelaufen?
  • Wie haben wir mit unserem Verhalten dazu beigetragen, dass wir es ergebnislos beendet haben?
  • Welchen Nutzen haben wir als Organisation von diesem Verhalten?
  • Was wäre, wenn wir dieses Verhalten aufgeben würden? Was würden wir gewinnen, was verlieren?

Was bis dahin für die Beteiligten ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit war, kann nun klar benannt werden: „Wir diskutieren hier immer weiter, ohne zu einer Entscheidung zu kommen.“ Oder: „Wir stimmen einander schnell zu, ziehen unsere Beschlüsse aber anschließend in Zweifel und handeln nach dem, was jeder selbst für richtig hält.“

Wenn es den Beteiligten gelingt, diese Fragen offen und unerschrocken zu erforschen, dringen sie möglicherweise zu sehr grundlegenden gemeinsamen Überzeugungen vor. Das erfordert Mut, schafft aber eine ganz andere Grundlage für die anschließende Etablierung neuer Methoden und Herangehensweisen.

Im einen Fall wird ihnen dann bewusst, dass sie Sorge vor unumkehrbaren Konsequenzen der eigenen Entscheidungen haben. Mit endlosen Diskussionen schützen sie sich davor, sich festlegen zu müssen. Solange es etwas zu diskutieren gibt, muss niemand eine Entscheidung treffen und verantworten.

Im anderen Fall merken die Beteiligten, dass sie Uneinigkeiten als Bedrohung für den Teamfrieden sehen. Deshalb hat sich bei Ihnen ein Muster eingespielt, das sie davor schützt, dass unvereinbare Sichtweisen überhaupt aufgedeckt werden.

Solche Erkenntnisse eröffnen die Chance, gemeinsame Überzeugungen zu hinterfragen und ihnen alternative Sichtweisen entgegenzustellen. Im Falle der Harmonieorientierung etwa die, dass Konflikte eine gemeinsam zu lösende und lösbare Aufgabe sind. Im Falle der Entscheidungsscheu, dass nicht jede Entscheidung dieselbe Tragweite hat.

Eine Methode für das Thema hinter dem Muster finden

Vor diesem Hintergrund werden die Beteiligten vermutlich nach ganz anderen Methoden Ausschau halten als ohne entsprechende Auseinandersetzung mit den bestehenden organisationalen Mustern. Im Falle der Harmonieorientierung werden sie vermutlich eher nach Vorgehensweisen suchen, die bei der Bearbeitung von Konflikten helfen. Statt mit Kudos-Karten noch mehr Zuckerguss über Uneinigkeiten zu gießen. Im Falle der Entscheidungsscheu werden sie sich mit Instrumenten zur Entscheidungsfindung beschäftigen, statt ein strenges, aber dennoch umgehbares Timeboxing einzuführen.

Diese Herangehensweise ermöglicht außerdem, die ausgewählte Methode organisationsspezifisch anzupassen. So können die förderlichen Effekte des Musters beibehalten und seine hinderlichen Auswirkungen behoben werden. Die diskussionsfreudige Organisation könnte zum Beispiel zwischen unterschiedlichen Entscheidungstypen differenzieren und je nach Fall die passende Entscheidungsmethode wählen. Bei manchen wird bewusst ausführlich diskutiert, andere können schnell getroffen werden. Und die harmonieliebende Organisation kann zusätzlich zum neuen Konfliktmanagement-Tool auch Kudos-Karten einsetzen – die ihre Wirkung umso mehr entfalten, gerade weil die unterschwelligen Konflikte vorher bearbeitet wurden.

Nach einer solch intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Mustern und der Auswahl und individuellen Anpassung einer geeigneten Methode braucht es meist sehr viel weniger Methodenschulung und Überzeugungsarbeit. Weil die Beteiligten verstanden und verinnerlicht haben, was ihre Organisation von der Methode hat.

 

Hinweise:

 

Einzelne Textpassagen dieses Beitrags wurden einem früheren Artikel der Autorin entnommen und weiterentwickelt. Der Artikel ist erschienen unter dem Titel „Sich als Team neu aufstellen“ im changement-Magazin Nr. 02/2021, S. 17-20.

Anne Lamberts betreibt einen eigenen Blog, in dem sie über wirksame Veränderungsprozess in Unternehmen schreibt: https://www.anne-lamberts.de/blog/. Ein Blick lohnt sich definitiv.

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Anne Lamberts hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:

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Anne Lamberts
Anne Lamberts

Anne Lamberts ist systemische Organisationsberaterin in Hanau und hilft Teams und Organisationen, Veränderungen erfolgreich umzusetzen. Die Gestaltung von Prozessen zur Auseinandersetzung mit gemeinsamen Mustern bildet dabei einen besonderen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Zu ihren Kunden zählen Konzerne sowie kleine und mittelständische Unternehmen aus IT, Technologie und verwandten Branchen.