Wie der Meeting Industrial Complex Wertschöpfung behindert
Der Anteil des Arbeitstages, der in Meetings verbracht wird, ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen und nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu.
Offizielle Daten über die Zeit, die wir in Meetings verbringen, sind schwer zu bekommen. Kleinere Studien deuten jedoch darauf hin, dass wir von Besprechungen überflutet werden. Bereits 2016 stellte eine kleine Gruppe von Arbeitsforschern fest, dass die in Besprechungen verbrachte Zeit seit den 1990er Jahren um 50 Prozent gestiegen ist. [1]
Da Unternehmen immer globaler und funktionsübergreifender werden, brechen Silos auf, die Vernetzung nimmt zu und „Zusammenarbeit“ gilt als Schlüssel zum Unternehmenserfolg. Daten aus den letzten zwei Jahrzehnten zeigen, dass die Zeit, die Manager und Mitarbeiter für die Zusammenarbeit aufwenden, um 50 % oder mehr gestiegen ist.
Agilität und Meetingkultur – Prinzipien und Werte, oder doch eine Liste an Meetings?
Der Trend zur Agilität hat eine Vielzahl von Beratern auf den Plan gerufen. Nur zu gerne stellen viele dieser Agile Coaches Menschen und Interaktionen in den Mittelpunkt ihrer Methoden. Tatsächlich hat das Agile Manifesto, das 2001 verfasst wurde, genau dieses Prinzip als einen Kernaspekt agiler Arbeitsweisen definiert. Wo immer Agile Coaches ein Problem sehen, das eine Entscheidung erfordert, Informationen weitergegeben oder Mitarbeiter beteiligt werden müssen, gilt als Antwort: Kommunikation und Kollaboration. Und es gibt viel zu begrüßen an diesen Entwicklungen – aber auch Kommunikation hat ihren Grenznutzen. In einem Artikel im Harvard Business Review heißt es:
„Unter einer Lawine von Anfragen nach Beiträgen oder Ratschlägen begraben, verbrachten einige Mitarbeiter so viel Zeit in Besprechungen, mit dem Entgegennehmen von Anrufen und dem Durchforsten ihres Posteingangs, dass ihre ‚wichtigste Arbeit‘ oft warten musste, bis sie zu Hause waren. Besprechungen von 9 bis 17 Uhr verdrängten jegliche kreative oder individuelle Arbeit auf die Zeit nach dem Abendessen.“ [2]
Im Jahr 2022 veröffentlichte Microsoft eine Studie, in der sie Mitarbeiter mithilfe ihrer Softwareprodukte beobachteten. Sie fanden heraus, dass sich am späten Abend tatsächlich ein kleiner Mini-Arbeitstag zeigt. Etwa ein Drittel der untersuchten Arbeitnehmer arbeitete um 22 Uhr genauso viel wie um 8 Uhr morgens. [3] Der Grund? Als die Pandemie Wissensarbeiter nach Hause schickte, ersetzten offizielle Besprechungen zwanglose Interaktionen im Büro und die eigentliche Arbeit wurde in die Abendstunden verlegt. Des Weiteren wurde herausgefunden, dass sich seit 2020 die Zeit, die Arbeitnehmer in ihrer Stichprobe in Meetings verbrachten, verdreifacht hat.
„Ich denke, wir haben den Höhepunkt der maximalen menschlichen Ineffizienz bei Angestellten erreicht“, sagte Jared Spataro, Vizepräsident bei Microsoft, der sich auf künstliche Intelligenz und Arbeitstrends konzentriert, in einem Interview bei The Atlantic. „Manchmal scheint es, als ob der moderne Arbeitnehmer mehr Zeit damit verbringt, über die Arbeit zu reden, als tatsächlich zu arbeiten.“ [4]
Wir brauchen mehr Meetings, weil die Welt um uns herum immer komplizierter wird. Doch stimmt das eigentlich?
Die Meeting-Industrial-Complex-Lobby würde nun darauf hinweisen, dass eine Wirtschaft, die immer größer und komplizierter wird, auf immer größere und kompliziertere Organisationen angewiesen ist. Mit dem Wachstum der Unternehmen nehmen auch die bürokratischen Gewohnheiten zu. Es entstehen Abteilungen, und die Mitarbeiter in diesen Abteilungen entwickeln Fachwissen, ja fast eine eigene Sprache, die ihren Kollegen am anderen Ende des Flurs fremd ist. Die abteilungsübergreifende Arbeit erfordert, dass die Mitarbeiter mehr Zeit damit verbringen, sich über die Arbeit ihrer Kollegen auf dem Laufenden zu halten.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ein Online-Händler nimmt eine größere Änderung an seiner Return-Policy vor. Dies könnte eine Gewinn-Verlust-Analyse der Forschungsabteilung, Beiträge eines Designteams, Frontend- und Backend-Softwareentwickler zur Erstellung eines Features für die Verbraucher, die Koordinierung mit Versandunternehmen und mehrere Managementebenen zur Überwachung der Entscheidung erfordern. Eine komplexere Wirtschaft mit komplexeren Unternehmen erfordert mehr Kommunikation zwischen den Unternehmensabteilungen, was zu einer immer größeren Anzahl von Meetings führt.
Auch die jüngsten kulturellen Veränderungen könnten ein Grund für den Anstieg der Meetingzeiten sein. In den letzten Jahren hat sich die Geschäftswelt viel stärker auf Integration konzentriert und darauf, mehr Menschen bei der Entscheidungsfindung zu Wort kommen zu lassen. Es wird immer mehr Mitbestimmung gefordert. Selbstorganisation und der „Unternehmer im Unternehmen“ sind die Stichworte, die nach mehr Vernetzung verlangen.
Inklusion ist eine Tugend, die stark mit Kosten verbunden ist und daher mit Bedacht eingesetzt werden soll. Eine Unternehmenskultur, die mehr Menschen zu Wort kommen lässt, bedeutet automatisch, dass die Mitarbeiter mehr Zeit damit verbringen müssen, anderen zuzuhören. Bei manchen Entscheidungen mag das angemessen sein, bei anderen allerdings ineffizient und unnötig.
30 Minuten Meeting kosten fast 60 Minuten Arbeitszeit
Sich über zu viele Meetings zu beschweren, ist vielleicht kein origineller Protest, aber im Grunde genommen gerechtfertigt. Die vielleicht häufigste Kritik ist, dass viele Besprechungen theatralisch aufgearbeitete Informationen sind, die man am besten in einer E-Mail vermittelt hätte.
Die typische Besprechung ist ein Zeitfresser, der die Aufmerksamkeit der Menschen in einem Maße beansprucht, das sich nicht einfach durch die Anzahl der für Anrufe geblockten Stunden messen lässt. Im Zeitalter der hybriden Arbeit bedeutet „Mitarbeiter erreichen“, dass man ihren Standort, ihre Zeitzone, ihren Zeitplan und ihre Verfügbarkeit berücksichtigen muss, sowie vielleicht noch Vorlieben für Telefon, Zoom, Teams oder Skype. Das führt zu einem enormen, oft unsichtbaren Koordinationsaufwand.
Jede Unterbrechung des Arbeitstages hinterlässt zudem eine Spur von verlorener Zeit. Bei Vor-Ort-Meetings müssen die Teilnehmer vom Arbeitsplatz zum Meetingraum und zurück. Schlimmer ist jedoch, dass jede inhaltliche Unterbrechung einer Tätigkeit zu mentalen Rüstkosten führt; Gloria Mark von der University of California hat herausgefunden, dass Arbeitnehmer durchschnittlich 25 Minuten benötigen, um nach einer Unterbrechung zu ihrer ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. [5] Planen Sie also am besten fortan für jede 30-minütige Besprechung einen einstündigen Umweg für sich und Ihre Mitarbeiter ein.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Meeting Industrial Complex zwar aus gut gemeinten Ansätzen zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation entstanden ist, jedoch mittlerweile häufig kontraproduktiv wirkt. Die übermäßige Anzahl und Dauer von Meetings behindert die eigentliche Wertschöpfung und führt zu einer ineffizienten Nutzung von Arbeitszeit und Ressourcen.
Es ist entscheidend, dass Unternehmen einen ausgewogenen Ansatz finden, der die notwendige Kommunikation ermöglicht, ohne die produktive Arbeit der Mitarbeiter zu beeinträchtigen. Meetings sollten sorgfältig geplant und nur dann abgehalten werden, wenn sie einen klaren Mehrwert bieten.
Als Unternehmen müssen wir den Mut haben, unsere Meetingkultur kritisch zu hinterfragen und anzupassen. Die Einführung klarer Regeln und Strukturen für Meetings, die Förderung alternativer Kommunikationsformen und die Schaffung von Freiräumen für ungestörtes Arbeiten sind Schritte in die richtige Richtung.
Nur durch einen bewussten und gezielten Umgang mit unserer Zeit können wir die Produktivität und Zufriedenheit unserer Mitarbeiter steigern und letztlich den Erfolg unseres Unternehmens sichern.
Hinweise:
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[1] [2] Harvard Business Review: Collaborative Overload
[3] Microsoft: The Rise of the Triple Peak Day
[4] The Atlantic: Meetings Are Miserable
[5] University of California: Can’t pay attention? You’re not alone
Weitere Quellen:
WFH Research: June 2024 Update
Microsoft: Driven to distraction
The Wall Street Journal: One Company’s Trick to Getting 95,000 Hours Back? Canceling Meetings
The Wall Street Journal: The ‘Coordination Tax’ at Work Is Wearing Us Down
The Wall Street Journal: Workplace Distractions: Here’s Why You Won’t Finish This Article
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Benjamin Igna hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Benjamin Igna
Benjamin Igna ist Diplom-Wirtschaftsingenieur und arbeitet bei der Management- und Organisationsentwicklungsberatung it-agile. Bereits während seines Studiums konnte er sich ausgiebig mit dem Toyota-Produktions-System sowie dem Lean Mindset in der Produktion beschäftigen. Nach dem Studium beschäftigte er sich mit agilen Organisationsformen, im Speziellen mit Scrum und Kanban.
Bei it-agile ist er Partner und hilft Organisationen, Strukturen zu finden, in denen erfüllte Mitarbeitende bessere Services und Produkte erschaffen können.