Ist Agilität die Lösung aller Probleme?

Gastbeitrag von | 25.04.2019

Unsere Ziele:

Wir müssen mehr Kunden/Business Fokus entwickeln.
Wir müssen schneller werden.
Wir müssen besser zusammenarbeiten.
Wir müssen schnellere Entscheidungen treffen.

Die Lösung:

Lasst uns “agil” werden. Agile Organisationsstrukturen einführen, einfach “New Work” einführen. “Kanban” und “Scrum” wird dabei helfen, und lass uns unbedingt dieses DevOps machen. Dann wird alles besser, schneller und kundenorientierter! Ganz sicher! Oder nicht?

Die Probleme sind erkannt und die Ziele gut formuliert? Aber bevor wir in die Implementierung gehen, könnte es doch Sinn machen nochmal mal kurz innezuhalten und gemeinsam zu reflektieren, woher kommen eigentlich die Probleme.

Was ist eigentlich das Problem?

Unternehmen brauchen Prozesse. Klar definiert und unendlich wiederholbar und effizient. Das ist ein Wettbewerbsvorteil in vielen Bereichen. Warum jedes Mal das Rad neu erfinden? Diese Prozesse machen uns schnell! Entscheidungen sind definiert und niemand braucht zu warten. Zusammenarbeit ist definiert und ich weiß, wer was tut und wen ich ansprechen muss. Und außerdem haben wir im Zweifel Führungskräfte oder Steering Committees, die Entscheidungen treffen können.

Und dann sind da noch die Projekte in denen wir etwas Neues entwickeln. Neue Lösungen finden, die der (interne und externe) Kunde braucht. Das diese Projekte nicht abgekoppelt vom Tagesgeschäft durchgeführt werden, haben wir auch verstanden, deswegen binden wir die Mitarbeiter ein, welche im Kundenkontakt stehen und welche die derzeitigen Prozesse kennen, und bauen cross-funktionale und internationale Teams, denn dann wird das Ergebnis besser.

Moment mal. Du arbeitest in einem hoch effizienten Prozess, in deiner Abteilung mit eigenen Zielen und machst nebenbei solche Projekte? Eins? Zwei? Drei? Wie viel Prozent deiner Zeit verwendest du dafür?

Natürlich gibt es ein Projekt-Portfolio-Management. Dort werden Projekte erfasst, Budget zugewiesen, Business Cases und Mehrwerte definiert. Und dann wenn alle Beteiligten sich einig sind, werden erstmal nur 50% der Projekte gestartet. Alle zu machen wäre ja zu viel. Außerdem wollen wir ja „agil“ sein und nachsteuern können.

Das ist dann der Moment, wo ich mich an meine Zeit als Jongleur erinnere. Einen Ball hochwerfen und fangen? Einfach. Zwei Bälle? Geht auch gut. Drei? Ok, braucht Zeit aber kann man schnell lernen. Vier oder fünf Bälle? Sagen wir es mal so, ich kann auch drei Keulen oder drei Ringe jonglieren, aber fünf? Das sind zu viele und ich bräuchte sehr viel Zeit das zu Lernen.

Zurück zum Problem, aus meiner Erfahrung und Beobachtung dauern Projekte und neue Kundenlösungen vor allem deswegen so lange, weil man erstens an vielen Dingen gleichzeitig arbeitet und zweitens lange Wartezeiten anfallen, da jemand anderes etwas liefern muss. Und wenn es nur das Warten auf Entscheidungen ist, weil man wesentliche Entscheidungsträger nicht schnell genug zu einem Termin zusammen bekommt, und dann sind bestenfalls nur wieder vier Wochen um.

Unsere Ziele – eine genauere Betrachtung

Bevor wir jetzt also anfangen agile Arbeitsmethoden einzuführen, könnte es Sinn machen sich darüber Gedanken zu machen, was wirklich das Problem ist.

Wir müssen mehr Kunden/Business Fokus entwickeln

Verstehen wir wirklich was der Kunde / das Business will? Ist der Kunde / das Business in den Prozess eingebunden? Hat der Kunde / das Business priorisiert, was er / es am wichtigsten findet? Haben wir alle Projekte mal wirklich und ich meine so richtig hinterfragt, welchen Mehrwert sie schaffen und ob jemand wirklich dafür bezahlen würde (mal ganz unabhängig von der Budgetzuteilung)?

Methoden wie Design Thinking können dabei helfen, den Kunden in die Prozesse einzubinden, vor allem ist es aber das gemeinsame Gespräch und die Priorisierung mit dem Kunden basierend auf konkreten Bedarfen und konkretem Beschreiben des Mehrwerts.

Wir müssen schneller werden

Was muss schneller werden? Alles auf einmal? Oder wäre es besser sich Gedanken zu machen, was genau schneller werden muss? Ein Prozess, ein Projekt (von vielen)? Aus dem Kundengespräch ableiten und auch hier eine Priorisierung vornehmen.

Ist es wichtig, dass alle zehn Projekte schneller laufen, oder fokussieren wir uns besser auf drei Projekte, und fangen den Rest erst dann an, wenn die abgeschlossen sind.

Wir müssen besser zusammenarbeiten

Wer ist wir? Und was heißt besser? Geht es darum, Informationen besser und schneller verfügbar zu machen? Geht es darum, vielfältigere Perspektiven und Feedback Loops einzubauen? Brauchen wir die Expertise aus verschiedenen Bereichen und Menschen, die fokussiert miteinander arbeiten? Oder geht es darum, die Wartezeiten in den Projekten zu verkürzen?

Vielleicht ist bessere Zusammenarbeit eher eine Frage des Mindsets, der verfügbaren Kapazitäten und vor allem der gemeinsamen Vision.

Wir müssen schnellere Entscheidungen treffen

Schnellere Entscheidungen von wem? Braucht es das Steering Committee, um Entscheidungen zu treffen oder nur um alle zu informieren und gutes Stakeholder Management zu machen? Welche Entscheidungen müssen tatsächlich auf welcher Ebene getroffen werden? Wie hoch ist das Vertrauen in die Mitarbeiter im Projekt? Statt Entscheidungen zu „delegieren“ bzw. dann doch wieder oben bestätigen zu lassen, könnte es Sinn machen, die Menschen in den Prozessen und Projekten wirklich zu „empowern“.

Sind es nicht diese Fragen, die wir uns zuerst beantworten sollten, bevor wir anfangen alles auf „agil“ zu drehen?

Ein neuer Lösungsansatz

Statt jetzt sofort alles auf „agil zu drehen“, mal ganz oben in der Hierarchie anfangen und auf Basis der neuen Antworten, ein besseres Portfolio Management einzuführen.

Dieses sollte „flexibel“ und „fokussiert“ zuallererst nicht nur Business Cases und Budget freigeben, sondern anfangen, die Projekte nach echtem Wert zu priorisieren und dann die verfügbaren Ressourcen dezidiert zu planen. Dann gezielt nur einzelne ausgewählte Projekte anstoßen und die anderen ins Backlog schieben und gar nicht erst anfangen.

Im zweiten Schritt diesen Projekten anschließend die richtigen Mitarbeiter zuordnen (oder besser noch die Menschen fragen, wer nicht nur die Expertise sondern auch die Begeisterung hat).

Eine klare Aufteilung zwischen laufendem Tagesgeschäft (dringlich) und Projekt (wichtig) ist sicherlich auch kein allzu schlechter Ansatz.

Und dann bitte das Projektteam im Sinne von Vertrauen in die Lage versetzen, alle wesentlichen Entscheidungen auch wirklich zu treffen, und zwar wenn notwendig und möglich direkt mit dem Kunden und nicht in Steering Committees.

Sind die Entscheidungen so wichtig, dass die Geschäftsführung eingebunden werden muss? Wenn ja, dann ist es nicht nur Symbolik, sondern notwendig sich auch direkt Zeit zu nehmen, anstatt wieder vier Wochen auf das nächste Meeting zu warten.

Jetzt erst das Budget verteilen, denn nur die Projekte, die ausreichend Mitarbeiter haben, brauchen auch tatsächlich jetzt schon ein Budget.

Im dritten Schritt dem Team die Zeit geben, sich zu entscheiden, wie es zusammenarbeiten will (Mindset), und welche neuen Arbeitsmethoden (Toolset) dabei helfen können. Und nicht vergessen, die Zeit und das Geld zur Verfügung zu stellen, damit eine ausreichende Befähigung und Lernen stattfinden kann (Skillset).

Braucht es Methoden wie Scrum, Kanban, Design Thinking usw.? Das sollte zuallererst mal das Team entscheiden. Sicher ist nur, dass neue Tools wie zum Beispiel der digitale Arbeitsplatz hilfreich sein werden. Und dann, ja dann kann es sein, dass eine Antwort auf das Problem tatsächlich „Agilität“ und „New Work“ ist, oder eben auch nicht.

Agilität kann eine Lösung sein

Agilität kann eine Lösung für bestimmte Probleme sein, wenn die Entscheidungsträger sich die richtigen Fragen stellen, die wirklichen Ziele definieren und dann die Teams in die Lage versetzen, die Lösung selbstständig zu erarbeiten!

Aber gerade bei solch ganzheitlichen Veränderungen, bitte nach den ersten Überlegungen erstmal die Pause-Taste drücken, sich selbst als Führungskraft und Entscheider fragen:

Will ich mich selber ändern? Habe ich genug Vertrauen, um nicht Entscheidungen zu hinterfragen, sondern stattdessen die Frage zu stellen, was braucht das bestenfalls cross-funktionale Team, um wirklich erfolgreich zu sein?

Kann ich meine „Entscheidungsmacht“ abgeben und vom Manager zu einer Führungskraft zu werden? Und sind meine „Peers“ auch dazu bereit?

Ist mir bewusst, dass diese Art der Veränderung eine wirkliche Kulturveränderung ist und unterstütze ich diese mit gleichviel Ressourcen und Budget wie die Einführung der „Tools“ und „Methodik“?

Bin ich bereit, wirklich alle Projekte in Frage zu stellen, den Wert neu zu betrachten und einen Teil davon zu stoppen bzw. zu verschieben, um einzelne Projekt schneller zu machen?

Will mein Kunde das eigentlich und habe ich alle Schnittstellen betrachtet?
Und vielleicht die wichtigste Frage: Wollen meine Mitarbeiter das auch?

Eine Schlussbetrachtung

Ich persönlich habe das Gefühl, dass „Agilität“ die Change Pyramide umdreht! Es braucht kein Sponsorship „von oben“, damit unten etwas passiert, sondern es braucht am Anfang vor allen „Sponsorship“ und „Unterstützung“ von den Mitarbeitern, damit oben etwas Neues entstehen kann!

 

Hinweise:

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Sebastian Kolberg
Sebastian Kolberg

Sebastian Kolberg arbeitet als Change Manager Digital Transformation für die Bayer AG. In dieser Rolle unterstützt er Menschen und Teams dabei sich gemeinsam auf die Reise zu machen um die Digitale Transformation zu gestalten. Ein Schwerpunkt ist die Business Transformation zu verstehen, Kollaborationen zu fördern, vertrauensvolle Netzwerke aufzubauen und gemeinsam den Status Quo mit Blick auf den Kunden in Frage zu stellen. Es beginnt damit das eigene Verhalten zu reflektieren, Experimente zu machen, aus den Erfahrungen im Netzwerk zu lernen und die eigene Weiterentwicklung des digitalen Mindsets in den Vordergrund zu stellen.