Der gute alte Perspektivwechsel

Gastbeitrag von | 05.04.2021

Wir brauchen mehr vom guten alten Perspektivwechsel

Mediation und systemische Ansätze kennen ihn schon lange, in Workshops kommt er oft unter der Überschrift „in die Schuhe des anderen steigen“ daher: Der gute alte Perspektivwechsel. In Veränderungen spielt er eine gewichtige Rolle, um bestehende, oft verhärtete Positionen loslassen zu können. Dahinter steht die Haltung des systemischen Denkens, dass es kein „falsch“ oder „richtig“ gibt und dass Wahrheit etwas sehr subjektives ist, etwas, das wir durch unsere individuellen Filtersetzungen selbst konstruieren1.

Veränderungen brauchen Zeit, und sie gehen mit vielen Emotionen einher. Am Anfang steht oft Ignoranz für die Erfordernis einer Veränderung. Je nach Verlauf entwickelt sich dann über die Zeit ein ganzes Konglomerat an Emotionen und daraus abgeleitetem Handeln – von Frust und Aufgabe bis zu Wut und Widerstand2. Unangenehm, ja schwierig wird es, wenn Fehler nicht als (gemeinsames) Lernpotential, sondern als schuldhaftes Versagen interpretiert werden, und wenn sich die verschiedenen Positionen verhärten. Das führt oft zu Starre statt zur eigentlich von den Beteiligten gewünschten Stabilität3.

Perspektivwechsel als Game Changer

In diesem Moment kommt der Perspektivwechsel ins Spiel. Es ist anstrengend, an seiner eigenen Position und Perspektive als der einzig richtigen festzuhalten, wenn man einmal in die Schuhe des anderen tritt. In Mediation und systemischer Beratung/Therapie gibt es eine Vielzahl an Methoden zum Perspektivwechsel, ganze Bücher wurden z.B. über das zirkuläre Fragen geschrieben, das eine solche Methode ist4. Den meisten Methoden liegt die Idee zugrunde, dass Irritation im Gehirn zu einem Mehr an Offenheit führt, neurobiologische Ideen zu Kohärenz im Gehirn lassen dies plausibel erscheinen. Irritation tritt bei erstarrten Positionen vor allem dann ein, wenn man bemerkt, dass die eigene Perspektive vielleicht nicht die einzig „logische“ ist und so Widersprüche im Gehirn entstehen5.

Aus den Erfahrungen beim Arbeiten mit Veränderungen und Konflikten wissen wir, dass Perspektivwechsel nicht zwingend von selbst daherkommen. Es braucht oft den „neutralen“ Außenstehenden, der den Prozess moderiert: Der Mediator, der systemische Berater, der systemische Familientherapeut, der Schlichter, der Workshopmoderator etc. Im klassischen systemischen Arbeiten ist es daher professioneller Anspruch, dass der Berater eben nicht Bestandteil des Systems (und damit Betroffener) ist.

Systemisch bedingte Blockaden

Wenn Sie bis hierher diesen allgemeinen und vielen sicher nur allzu gut bekannten Ausführungen gefolgt sind, ist Ihnen vielleicht auch die eine oder andere Idee gekommen, was unsere aktuelle Situation so schwierig macht und fast schon blockiert. Ich stelle jetzt einmal meine Hypothesen in den Raum oder besser in den Text und freue mich auf eine angeregte Diskussion.

  • Meine Behauptung ist, dass wir in einem schwierigen Veränderungsprozess stecken, die Pandemie stellt unser System und Lebensmodell auf den Kopf.
  • Meine Beobachtungen aus Medien und Privatumfeld sind, dass sich Positionen zunehmend verhärten, Schuldzuweisungen statt Lernfelder die Landschaft mehr und mehr bestimmen. Das blockiert Handeln bei allen Beteiligten.
  • Lösungen sind – wie in systemischer Beratung oder Mediation – möglich, wenn wir gegenseitig unsere Perspektiven (an)-erkennen, Bereitschaft zum Loslassen haben und so gemeinsam das Neue zu gestalten können. Wir brauchen ein Mehr an Perspektivwechseln.
  • In dieser Situation fehlt uns „der systemische Beobachter“, der/die diesen Prozess gestalten könnte – weder greifen hier auf der Erde irgendwelche Gottheiten unterstützend ein, noch kommen Außerirdische vorbei, alle anderen sind Betroffene6.
  • Unser demokratisches System funktioniert in Bezug auf Leadership wie ein Verein. Die Mitglieder wählen die Führung. Veränderungsprozesse in Vereinen unterliegen daher einer besonders herausfordernden Dynamik, weil es eben keine von der Umsetzung der Erwartungen der verschiedenen Interessengruppen wirklich unabhängige Führung gibt. Aus eigener Beratungserfahrung weiß ich um die Schwierigkeit, in solchen Strukturen für eine klare Ausrichtung zu sorgen.
  • Konkret äußert sich das in einem perspektivischen Phänomen: Jeder von uns hat eine eigene Perspektive, die sich vor allem aus seinen individuellen Bedürfnissen und Erwartungen speist. Diese eigene Perspektive wird zunehmend zum Maßstab der Dinge und erstarrt.

Die Perspektive der meisten Politiker orientiert sich am Wahlvolk. Durch die Vielfalt und Ambivalenz führt das zu ständigen und von außen schwer nachvollziehbaren Wechseln von Vorgehensideen, quasi ein Rotieren in Perspektiven mit all ihren Widersprüchen und damit zu einer Blockade im Vorankommen. Spätestens in Krisen wird das zu einem Strukturproblem.

Lösungsideen für notwendige Perspektivwechsel

Wie aber könnten unter diesen Rahmenbedingungen und mit dem Wunsch, unser demokratisches System weiterhin zu erhalten, die notwendigen Perspektivwechsel dennoch gelingen? Auch dazu biete ich einige Hypothesen an:

  • Verantwortung für den eigenen Perspektivwechsel liegt im Sinne der Selbstwirksamkeit bei jedem von uns selbst.
  • Medien können uns darin unterstützen, indem sie ein Mehr an Information statt an Bewertung anbieten oder zumindest hier klarer trennen.
  • Jeder Einzelne kann Fehlerkultur leben. Ein erster Schritt ist der bewusste, vermeidende Umgang mit Schuld. Und ein Zuhören, was an Learnings von denen angeboten wird, die den vermeintlichen Fehler gemacht haben.
  • Regelmäßige Selbstreflexion, Entschleunigung und die Auseinandersetzung mit unserer aktuellen Gefühlswelt sind individuell wichtig. Je nach Typ kann man sich hier regelmäßig Zeit nehmen oder einfach anlassbezogen reflektieren. Anlässe können z.B. mein Ärger oder Frust sein, die Tatsache, dass ich anfange, Schwarzer Peter zu spielen oder auch eine „ist mir doch egal die Pandemie“-Haltung entwickle.
  • Immer mal wieder die eigenen Erwartungen auf den Prüfstand stellen. Sind sie realistisch oder eher hoffnungsvolle Wünsche? Und welche guten Gründe gibt es vielleicht für völlig widersprechende Erwartungen?
  • Methodische Ideen, wie kollegiale Beratung oder individuelle Supervision sind unterstützende Hilfsmittel, auf die jeder von uns aktiv zurückgreifen kann. Sie sind gerade auch dann ganz besonders hilfreich, wenn wir in die Situation kommen, in der sich der Blick auf die eigene Perspektive verengt – etwas das einfach zutiefst menschlich und normal ist.
  • Bei Diskussionen in kleinen Gruppen kann jeder von uns – natürlich nur für eine gewisse Zeit – die Rolle des neutralen Beobachters übernehmen. So unterstützen wir uns gegenseitig, neue Perspektiven zu entdecken.

Aus der Therapie kennen wir das Phänomen, dass Menschen mit wiederkehrenden und sogar steigenden Schwierigkeiten kämpfen, solange sie das zugrunde liegende Problem bzw. die erforderliche Entwicklung nicht ernsthaft angehen und in die Lösungsorientierung kommen. Meine letzte Hypothese ist, dass wir genau das gerade gesellschaftlich erleben, in dem wir den Perspektivwechsel nicht jeder für sich in Angriff nehmen und so gemeinsam eine Lösung generieren, sondern erwarten, dass andere diese Vielfalt und Widersprüchlichkeit bedienen und es dennoch vorangeht. Das ist ein klassisches Dilemma in einer föderal-demokratischen Struktur wie der unseren.

Und da es nun einmal keine neutralen bzw. allparteilichen Beobachter für das System gibt, die uns helfen, indem sie den Lösungsprozess moderieren, brauchen wir Selbstorganisation. Und das bedeutet, dass die Perspektivwechsel, die wir für ein Miteinander und die Krisenbewältigung brauchen, von jedem von uns selbst verantwortet werden müssen und in uns selbst zu initiieren sind.

 

Hinweise:

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[1] mehr zu Konstruktivismus
[2] mehr zu Veränderungsprozessen
[3] einige erläuternde Ideen zu Starrheit
[4] eine weitere Methode zur Förderung von Perspektivwechseln
[5] Da das Gehirn ein energiesparendes System ist, strebt es nach scheinbarer Widerspruchsfreiheit, weil das einfach weniger anstrengend ist.
[6] Wir haben niemanden, der von der Pandemie nicht betroffen ist und deshalb außerhalb des Systems steht. Vielleicht sehen sich deshalb auch erfahrene Berater mit ihren eigenen Positionen konfrontiert, etwas, das ich für mich übrigens als wichtige Erfahrung in Bezug auf mein eigenes Arbeiten mit Kunden und Klienten wahrnehme.

Astrid Kuhlmey hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

t2informatik Blog: Was wir von Raumschiff Enterprise lernen können

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Astrid Kuhlmey
Astrid Kuhlmey

Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.