Am System arbeiten? Am Menschen? Beides!
Aktuell lautet eine häufige vehemente Forderung von klugen Köpfen, nicht an Menschen „herumzuschrauben“, Psychen Privatsache sein zu lassen und stattdessen lieber Systeme zu (er-)schaffen, die Menschen Freiraum für Innovation, Entscheidungsspielräume, Unterstützung für Eigeninitiative und Engagement u.v.m. ermöglichen. Grundsätzlich ist dagegen gar nichts einzuwenden. Es wäre wunderbar, wenn die Systeme und Strukturen, die unsere Arbeitswelt bestimmen, weniger einschränken und verhindern würden. Richtig ist auch, dass es übergriffig ist, von außen und ungefragt an Menschen „herumzuschrauben“, wenn sie das nicht wollen. Kontextlos Persönlichkeitstests oder Persönlichkeitsentwicklungsprogramme überzustülpen, zeugt mehr von Hilflosigkeit und Aktionismus, als von einer durchdacht angegangenen Organisationsentwicklung. Bei solchen Maßnahmen sind Widerstand und Wirkungslosigkeit vorprogrammiert.
Auf der anderen Seite stehen Leadership-Trainings, Angebote zu Persönlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung, Achtsamkeit, Mitgefühl & Co., die sich mit dem Ziel an Organisationen richten, diese durch Arbeit mit und an Menschen in Schlüsselpositionen voranzubringen. Solche Angebote sind genauso weder unsinnig, noch sind die Motive übergriffig, falsch oder egoistisch (von oberflächlichen Mitläufern mal abgesehen, aber die finden sich überall und sind eben manchmal besonders laut). Es gibt sehr gute Angebote und Anbieter:innen, die von aufrichtigem Interesse motiviert sind, Maßgebliches zur Verbesserung des Status Quo beizutragen. Und zwar ohne die Absicht übergriffig zu sein.
Warum „Entweder-oder“?
Warum also der Kampf um ein „Entweder-oder“? Wenn aufrichtig motivierte Menschen, die – auf ihrem Fachgebiet kompetent und erfahren – Nutzen stiften wollen, intelligente Angebote entwickeln und sich dabei darauf konzentrieren, wo ihr individueller Beitrag für Veränderung am größten sein kann, ist doch weder das Eine noch das Andere besser oder schlechter. Haben nicht sowohl Organisationsdesigner, die an verbesserten Strukturen und Systemen arbeiten, wie auch Leadership-Experten mit Fokus Mensch am Ende dasselbe Ziel? Veränderung gestalten, damit Menschen in Organisationen für Kunden ihre Leistung erbringen, dabei nicht ausgebrannt werden, sondern mit Freude arbeiten, co-laborieren, sich an Reibung mit anderen weiterentwickeln und voneinander lernen.
Wie sehen Sie das? Ist es wirklich so schwer, all die jetzt so notwendigen Kompetenzen miteinander zu verbinden? Rechthaber-Spielchen „Nein Mensch“ – „Nein Struktur“ sind doch Zeitverschwendung! Zeit, die wir jetzt bräuchten, um den notwendigen Wandel vor dem Hintergrund von Pandemie, Klimakrise, steigender Komplexität, demographischen Parametern etc. gemeinsam zu meistern, indem sich möglichst viele Fachrichtungen, Experten, Kompetenzen und Perspektiven zusammenschließen, von ihrem Ego-Standpunkt abweichen und sich wirklich mal auf die großen Fragen unserer Zeit einlassen. Unvoreingenommen, ohne Andersdenken zu verurteilen, eine „leere Leinwand“ (C.O. Scharmer) betrachten, das Eigene beitragen und alles unterstützen, was emergent entstehen kann und Sinn ergibt.
Individuelle Kraft und strukturelle, systemische Voraussetzungen
Nach über 20jähriger Beobachtung aus der Praxis von Executive Search, Coaching, Facilitation und Conscious Business liegt mein persönlicher Fokus auf der individuellen Kraft von Menschen. Gleichzeitig sehe ich die Notwendigkeit für neue, andere strukturelle und systemische Voraussetzungen. Voraussetzungen, unter denen Mensch nicht Tag für Tag gegen Wände läuft, selbst wenn er sich einbringt, entwickelt, bewusst und achtsam ist.
Nur WER gestaltet diese Veränderung am System?
WER schafft die Voraussetzungen, dass Menschen nicht länger aus Angst vor Einbußen in Einkommen, Ansehen etc. in Jobs verhaftet bleiben, die sie nicht mögen, in denen sie sich nicht einbringen können, in denen sie klein gehalten werden?
WER gestaltet ein Arbeitsumfeld oder ein Gesellschaftssystem, in denen Menschen mehr von dem tun können, was sie wirklich wollen und können, um partizipativ / co-laborativ ein gemeinsames Ziel zu erreichen? Die, die so etwas gestalten, können (zumindest Stand heute) doch auch nur Menschen sein, oder übersehe ich hier etwas?
Vor dem Hintergrund, dass es Menschen sind, die Systeme und Strukturen gestalten, stellt sich mir die Frage des Reifegrades dieser Menschen, die an den Entscheider-Stellen sitzen. Von welchen Menschen nehmen wir an, dass sie in der Lage dazu sind, System- und Strukturveränderungen an den wirklichen Schmerzpunkten vorzunehmen?
Die Analyse einzelner Persönlichkeiten, die heute an den entscheidenden machtvollen Positionen sitzen und die Möglichkeiten hätten umzugestalten, überlasse ich Ihnen. Losgelöst von Namen und Personen stelle ich folgende These zur Diskussion: Nur hinreichend bewusste Menschen können überhaupt wirkungsvolle Arbeit an System und Struktur verrichten. Und an der eigenen Bewusstheit kann nur jeder Mensch selbst und freiwillig arbeiten.
Wachsen und erwachsen agieren
Die Entwicklung von mehr Bewusstheit ist in einem normalen Leben ein nie zu Ende gehender Prozess. Ich verwende im Kontext von Bewusstheit gerne die Begriffe „wachsen“ und „erwachsen werden“ (abgeleitet aus dem Conscious Business Institut). Menschen, denen ich die Kompetenz zuschreibe, Systeme umgestalten zu können, sind für mich Menschen, die in ihrem eigenen Wachstum bereits fortgeschritten sind und erwachsen handeln.
Was bedeutet das im Einzelnen? Menschen, die vorangehen, sollten authentisch sein. Sich ihrer Eigenschaften, Gaben, Werte, Motive und ihres Entscheidungsverhaltens bewusst sein, sich selbst immer wieder reflektieren und kontinuierlich lernen (= wachsen). Gleichzeitig sollten sie in die Selbstverantwortung für ihr Denken & Handeln gehen können, statt andere dafür anzuklagen, wichtige Prozesse zu verhindern. Sie sollten sich bewusst darüber sein, dass Emotionen, Ängste, Prägungen und Gewohnheiten in jeder/m Einzelnen von uns liegen und Relikte aus der Vergangenheit sind, die in speziellen Situationen nur angetriggert, also sichtbar werden. Dafür sollten sie ihre eigenen Strategien entwickeln, und im Handeln Präsenz, Emotionale Intelligenz und Resilienz zeigen (= erwachsen agieren). Nur kann kein Mensch immer zu 100% präsent sein, und in schwierigen Situationen wie beispielsweise der aktuellen Pandemie ist die Forderung nach 100% Resilienz auch unmenschlich. Sich auch dann erwachsen zu verhalten bedeutet, sich auch mal zurückzunehmen, Innezuhalten, zuzugeben, etwas nicht zu wissen und für sich selbst und die eigene Stabilität zu sorgen.
Bewusstes Handeln bedeutet weder, ein perfekter Mensch zu sein, noch immer und überall vor Charisma nur so zu strotzen. Es geht vielmehr um eine innere Klärung: Wann handle ich aus reinen, aufrichtigen Motiven heraus, um eine Sache voranzubringen oder folge ich gerade einem Ego-Motiv wie z.B. Macht, Kontrolle, Ansehen, Gier? Merke ich in Konfliktsituationen, welche Trigger mich gerade erwischt haben, und bin ich dazu bereit, mir meine eigenen Emotionen, Ängste, Prägungen und Gewohnheiten mal näher anzuschauen?
So ein Anschauen muss keineswegs im organisationalen Kontext passieren (Stichwort „Seelenstriptease“ seitens der Kritiker von Persönlichkeitsentwicklung). Wenn aber Organisationen den Bewusstwerdungsprozess ihrer Mitglieder unterstützen, also bspw. Zeit und finanzielle Mittel dafür zur Verfügung stellen, ist am Ende allen gedient. Ein Mensch in einer Schlüsselposition, der mit seinen Eigenschaften und Gaben an der richtigen Stelle des Unternehmens sitzt, einen Job macht, der ihn über das Erlangen von Einkommen hinaus erfüllt und der die Unterscheidungsfähigkeit besitzt, in Konfliktsituationen zu trennen, wann der Konflikt im Sinne der Sache ausgetragen werden sollte, und wann eigene, in sich liegende Emotionen angetriggert werden, und bei dem Denken & Handeln im Einklang steht, bringt am Ende allen mehr: dem Ergebnis einer Organisation wie auch dem Wohlbefinden der Beschäftigten.
Etwas fehlt
Aus diesem Grund: Ich kann die Forderung danach, den Fokus ausschließlich auf Strukturen & Systeme zu richten nur dann mitgehen, wenn ich erkennen kann, dass in einer Organisation Menschen aus Motiven handeln, die nicht vorrangig von ego-getriebenen, determinierenden Faktoren bestimmt sind. Bei den meisten aktuell Machthabenden sehe ich das nicht allzu oft. Viel häufiger geht es eben um Machterhalt, Wiederwahl, Erhalten, Bewahren, Einkommensmaximierung, Status… Dass insgesamt die Notwendigkeit von mehr Bewusstheit noch nicht in breiterem Umfang gesehen wird, verwundert mich immer wieder aufs Neue, wahrscheinlich geht es uns einfach noch zu gut.
Zumal viele aus der vielbeschriebenen Generation X, die den überwiegenden Teil der deutschen Top-Manager abbildet (Durchschnittsalter Anfang 50), es so gelernt haben: streng Dich an, arbeite hart, dann wird etwas aus Dir und Du wirst später mal kein Sorgen haben. Die meisten haben genau das probiert und stellen immer häufiger fest, dass sie zwar wirtschaftlich gut gestellt und in dieser Hinsicht sorgenfrei sind, allerdings nicht selten eine innere Leere fühlen. Irgendwas fehlt auf dem Weg im Hamsterrad, während sie Tag für Tag immer mehr vom selben zu tun. Die meisten von ihnen wissen gar nicht, was es ist, das fehlt. Nehmen es resigniert hin. Sitzen und bleiben auf einer Position, auf der sie entscheiden können – und auch entscheiden könnten, einen radikalen System- und Strukturwandel zu vollziehen. Sie tun es aber nicht. Könnte es nicht vielleicht doch hilfreich sein, an sich zu arbeiten?
Ich liebe den Dialog mit Menschen, die rationaler und konstruktivistischer denken, wissenschaftlich fundierter argumentieren, vielfältiger gebildet sind und sehe einige, die richtig gut darin sind, sinnvolle Implikationen für Strukturen und Systeme nicht nur zu designen, sondern auch Umsetzung zu forcieren, und ich möchte von ihnen lernen. Dennoch möchte ich nicht, dass Persönlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung, Leadership-Trainings, Achtsamkeit, Mitgefühl & Co. abgewertet wird.
Hinweise:
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Kristin Eissfeldt hat ein Buch veröffentlicht:
Kristin Eissfeldt
Kristin Eissfeldt ist Diplom-Ökonomin und hat Zusatzausbildungen in Facilitating Change / Theorie U, agiler Organisationsentwicklung, Conscious Business Culture & Leadership sowie FORMWELT Komplexitätsmanagement und Konfliktanalysen. Mit über 20 Jahren Berufserfahrung ist sie erfahrene Personalberaterin, Coach, Business Facilitatorin und Trainerin. Kristin ist Inhaberin von Eissfeldt Consulting, International Partner des Conscious Business Institutes (CBI) in Kalifornien und Kooperationspartnerin des FORMWELTen-Instituts. Als Expertin für Leadership und Bewusstseinsentwicklung liegt ihre Motivation in der Gestaltung von Arbeitsformen, die nachhaltiger und bewusster funktionieren.