Alter weißer Mann
Haben Sie schon mal in einem Posting den Begriff „alter weißer Mann“ benutzt und vielleicht sogar im Zusammenhang mit „typisch“? Dann kennen Sie sicher die ablehnenden, oft auch wütenden Reaktionen. So manches Mal wird auch darauf hingewiesen, dass man(n) den beschreibenden Adjektiven ja gar nicht entspräche. Natürlich ist die Benutzung des Begriffes für eine andere Person kein Kompliment, und so ist die Reaktion der so Bezeichneten nicht verwunderlich.
Welche Attribute hat der „alte weiße Mann“?
„Alter weißer Mann“ wird gerne im gesellschaftlichen Zusammenhang benutzt, als Synonym für jemanden, der seine ausgeprägten Privilegien nicht reflektiert, vielleicht sich ihrer nicht einmal bewusst ist, der eine (sehr) konservative Haltung hat, für Veränderung wenig aufgeschlossen ist und findet, dass ihm eigentlich viel in dieser Welt zusteht – schließlich hat er in seiner Eigenwahrnehmung viel dafür getan, dass alles hier so gut ist.
Die Zuschreibung „alter weißer Mann“ wird gerne angewendet, um dem Gegenüber Sexismus und Rassismus vorzuwerfen, eine gewisse Unreflektiertheit in Bezug auf neue Entwicklungen und ein starres Festhalten an Regeln des bisherigen Systems, die für den „alten weißen Mann“ ausgesprochen vorteilhaft sind, ihn oft sogar in eine Machtposition bringen.
Nach meiner Beobachtung entspricht diese Zuschreibung dem Verhalten vieler Männer meiner Generation. Aber es gibt „alte weiße Männer“ auch in weiblichem Gewand oder ganz jung. Mit dem Begriff Freiheit verbinden sie den Erhalt oder sogar Ausbau ihrer Rechte, welche Kosten andere dafür tragen, wird ausgeblendet, ist vielleicht sogar dissoziiert.
Aus psychologischer Sicht sehe ich den „alten weißen Mann“ als einen Schatten der Nachkriegsgesellschaft und der Boomer-Generation, die eine florierende Wirtschaft und Wohlstand für alle aufgebaut haben, die aber die damit verbundenen (Fehl-)Entwicklungen, wie Klimawandel, mangelnde Diversität und Armutsschere, ausblenden, sofern nicht selbst betroffen. Sie bleiben den Bildern vergangener Zeit verbunden, das Auto, die (damals noch) soziale Marktwirtschaft und männliche Vorherrschaft, im Laufe der Zeit kamen auch (luxuriöse) Fernreisen und Kreuzfahrten dazu.
Es gibt noch einen weiteren Schatten – ich vermute als eine Folge der Wiedervereinigung, in der sich einige auf Kosten anderer bereichert haben: der Typ „zu kurz gekommen“, der sich in Gruppen zusammenfindet und die Schuld an seiner Situation auf alles Fremde abwälzt, das es daher zu bekämpfen gilt, eine Art Stammesdenken aus einer Opferrolle heraus.
„Alte weiße Männer“ sind also ein Phänomen, das uns immer wieder in gesellschaftlichen und politischen Kontexten begegnet. Und natürlich finden wir Menschen mit den entsprechenden Attributen auch heute im aktiven Arbeitsleben – und zwar gar nicht so selten. Der Begriff wird dort allerdings höchstens hinter vorgehaltener Hand benutzt, vielleicht auch eine Folge davon, dass der Urtypus bereits in Rente ist oder in Kürze geht, und dass das Bild damit keine Assoziationen (mehr) hervorruft.
Der „alte weiße Mann“ in der Konzernwelt
In Konzernen ist der „alte weiße Mann“ noch oft direkt als solcher erkennbar. Vielleicht ist er noch nicht wirklich alt, so um die 50, aber eben weiß und männlich. Er agiert sichtbar und ist sich seiner Bedeutung sehr bewusst. Er nutzt seine Vorteile ganz öffentlich und agiert kulturprägend. Nach außen gibt er sich offen in Fragen der Diversität, wohl ein Kompromiss an die zumeist globale Aufstellung von Konzernen. Frauen werden für vergleichbare Arbeit schlechter bezahlt und auch nicht wirklich gefördert, es sei denn als „die besseren Männer“. Sexismus auf Bildschirmhintergründen oder beim Betriebsfest wird so manches Mal toleriert, wer dagegen aufbegehrt „solle sich doch nicht so anstellen“. Männlich geprägte Netzwerke sind Arbeits- und oft auch Machtbasis.
Manchmal begegnet mir der „alte weiße Mann“ auch als Referent für was auch immer, dann ist sein Einfluss relativ harmlos, den er selbst allerdings ganz anders einschätzt – eine tragische Figur, die von vielen Anwesenden belächelt wird.
Viel häufiger findet man ihn aber im mittleren bis höheren Management, er achtet auf seine Privilegien und seine Position. So manche Veränderungen gefährden beides, daher blockiert er sie gerne, oft gemeinsam mit seinem Netzwerk. In Veränderungsprozessen wird das auch als Lehmschicht bezeichnet, Silodenken ist ein möglicher Hinweis für solche Strukturen. Ob Agilität, Projektorientierung, Matrixorganisation, sie werden formal vorangetrieben, sind jedoch diesem Silogedanken untergeordnet. Unter dem Strich verändert sich wenig. Oft hört man in solchen Unternehmen, dass „mal wieder eine Sau durchs Dorf getrieben wird“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen Veränderungen nicht ernst, egal unter welchem Label. Das Unternehmenssystem zeigt sich resilient gegen Veränderung, viel Energie für wenig Effekt, aber das Unternehmen kann es sich (bisher) leisten.
Systemisch und vermutlich auch realistisch gedacht, birgt das das durchaus hohe Risiko, irgendwann nicht mehr kompatibel zur Umwelt zu sein – eine Art Dinosaurier-Dasein. Gerne wird diese fehlende Anpassung an eine sich ändernde Welt durch Technologie-Gläubigkeit kompensiert, so fühlt man sich modern und nicht betroffen von dem, was in den vorigen Zeilen beschrieben ist. Ein weiterer Hinweis auf solchen Strukturen ist eine hohe Burn-Out-Quote.
Auch an Konzernspitzen finden wir viele „alte weiße Männer“. Gemeinsam mit anderen Konzernspitzen bilden sie ein Netzwerk und unterstützen sich gegenseitig. Sie selbst oder die von ihnen gestützten Lobby-Organisationen haben einen engen Draht zur Politik. So verhindern sie neue Gesetze, vertrauen auf Subventionen und verhindern damit auch, dass sich die von ihnen geführten Unternehmen oder sogar ganze Industrien re-innovieren. Oft wird dies durch „alte weiße Männer“ in Betriebsräten gestützt. Auch hier ist der Preis in Bezug auf die Zukunft vermutlich hoch.
Gibt es den „alten weißen Mann“ auch im Mittelstand?
Ja, natürlich. Leider. Er begegnet mir im Mittelstand und in kleinen Unternehmen jedoch anders. Er tritt oft in Tarnkleidung auf, z. B. als junger Nachwuchs-CEO, als weibliche Führungskraft oder als Mensch mit homosexueller Prägung – also durchaus alles andere als das visuelle Abbild des „alten weißen Mannes“, aber eben eine Adaption im Verhalten.
Psychologisch betrachtet ist das sicher auch eine Folge, dass in den Strukturen, die noch vom Urtyp des „alten weißen Mannes“ geprägt waren und sind, Karriere oft durch Anpassung gemacht wird. Zudem möchten viele Menschen nicht durch Andersartigkeit Außenseiter sein. „Dabei sein“ hieß und heißt „ähnlich sein“ und „sich ähnlich verhalten“. Das hat Konsequenzen auf die Kultur und die Zusammenarbeit.
Eine Coachee erzählte mir von ihrem letzten Arbeitsplatz, an dem eine Kultur junger, weißer Menschen vorherrschte mit Namen wie Sarah oder Sven. Menschen mit fremder klingenden Namen waren die Ausnahme. In kollegialen Gesprächen wurde so manches Mal über Probleme mit Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert, der Tenor war abwertend. Meiner Coachee, selbst mit Migrationshintergrund, wurden Informationen zu spät oder gar nicht weitergeleitet, Teamzusammensetzungen berücksichtigten weder ihre Kompetenz noch ihre Führungsrolle. Ein Zusammenhang zwischen Verhalten und abwertender Haltung liegt nahe. Und so vergraulten sie nicht nur meine Coachee, sondern eben auch andere Menschen, die für Diversität, Offenheit und damit auch Veränderung stehen, dem Bericht der Coachee zufolge auch junge und innovative Kundenunternehmen, für eine prosperierende Zukunft dieser Firma sicher ein nicht zu unterschätzendes Risiko.
Von einer anderen Coachee erfuhr ich, dass ihre jungen, akademischen Kolleginnen und Kollegen den kleinen Trip am Wochenende in europäische Hauptstädte und den SUV für den Privatgebrauch als Selbstverständlichkeit betrachten. Um dies zu finanzieren, wird das elterliche Budget angezapft und eine Karriere als Partnerin oder Partner in diesem Beratungsunternehmens angestrebt. Auch hier hat der Lebensstil mit hoher Wahrscheinlichkeit Konsequenzen auf die Unternehmenskultur und die Kundenbeziehungen, aber eben auch ganz grundsätzlich auf die Gesundheit und das persönliche Leben: Die Partnerrolle fällt nicht vom Himmel, der Druck ist nach Aussage meiner Coachee für alle extrem hoch.
Aus der Presse wissen wir von den Machtstrukturen des „alten weißen Mannes“ in Medien-Konzernen. In diesem Kontext berichtete mir eine Coachee aus eigener Erfahrung, dass junge, gut ausgebildete und von der Aufgabe begeisterte Frauen die Unternehmen oft verlassen, weil ihnen nicht nur die Motivation genommen wird, sondern männliche Mitarbeiter auch deutlich besser bezahlt werden – manchmal verdienen männliche Mitarbeiter mehr als ihre Vorgesetzte. Dass es überhaupt Frauen in Führungspositionen gibt, lässt sich gut für die Außensicht auf das Unternehmen nutzen, basiert aber letztlich nicht aufgrund der Überzeugung der einstellenden Führungskraft, dass Frauen wichtige Beiträge leisten. Gleichstellungsbeauftragte oder HR-Prozesse zur Vermeidung solcher Ungleichbehandlung sind wohl vorhanden, werden jedoch bei Nutzung durchaus zum Boomerang für die Melderin und in Folge wenig genutzt.
Aus eigener Erfahrung kenne ich eine kleine Unternehmensberatung, die vorwiegend Beraterinnen beschäftigt. Der Eigentümer bezeichnet öffentlich Frauen als kreativ und gut geeignet für Beratungsjobs. Auf den ersten Blick positiv, aber beim Blick hinter die Fassade konnte ich einen Geschäftsführer beobachten, der meinte, in allem und jedem besser zu sein als seine Mitarbeiterinnen, selbst wenn sie Führungsaufgaben übernahmen oder über bessere fachliche Kompetenz verfügten. Er entschied alleine und baute auch Leistungsdruck auf – ein klassisch patriarchalisches System. Bevorzugt eingestellt wurde junge Frauen, weil „die noch so gut prägbar wären“ (freies Zitat). Auch hier wird nach außen und natürlich vor allem in Richtung der Kunden ein ganz anderes Bild gezeigt, als es innen real gelebt wird. In diesem Unternehmen zeigt sich über die Jahre eine hohe Fluktuation, mein damaliger Auftraggeber verblieb bei mir als Beraterin, vermutlich kein Einzelfall. Rein wirtschaftlich betrachtet ist das ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Und die Außenfassade scheint auch weniger intransparent als vom Eigentümer beabsichtigt.
Der Urtypus des „alten weißen Mannes“
Natürlich ist nicht alles schlecht am „alten weißen Mann“. Ich habe noch den Urtypus als Chef erlebt. Er war ein „harter Knochen“ nach innen wie nach außen. Er war Patriarch im positiven Sinne, denn er mentierte und sorgte für Fortbildung und Förderung. Ging etwas schief, stellte er sich schützend vor seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, da kam niemand an ihm vorbei. Intern gab es natürlich Ärger, durch den Außenschutz entstand aber ein Gefühl der Geborgenheit.
Der Urtyp bemühte sich auch im Innenverhältnis um Ausgewogenheit. Mal kriegte der oder die eine einen Bonus, mal die oder der andere. Die Kriterien waren im Wesentlichen transparent und das Bemühen erkennbar, persönliche Präferenzen bei der Bewertung nicht zum Kriterium zu machen.
Spätere Exemplare in Führungsrollen waren nach außen „durchlässiger“ und ließen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gerne den Vortritt, insbesondere wenn es kritisch wurde. So manches Mal wurde dann auch jemand aus dem Team stellvertretend zur Verantwortung gezogen. All das lief unter dem Begriff „Delegierte Verantwortung“, interessanterweise gab es die deutlich weniger bei Erfolgen der Delegierten. In Bezug auf Sonderzahlungen wurde das Prinzip Gießkanne vertreten, oder es gab die Lieblinge des Chefs – die Förderung des Ähnlichen nahm unter ihnen gefühlt zu.
Fazit
Das patriarchale System im Arbeitsumfeld, das das Lebenselixier für den „alten weißen Mann“ ist, scheint ausgestorben, aber es hat Bestand. Die sichtbaren Attribute der Bevorteilten sind oft nicht weiß, alt oder Mann. Der Begriff wird daher in Unternehmen weniger genutzt. Der „alte weiße Mann“ findet sich sowohl in kleinen als auch großen Unternehmen. Der Begriff dient dazu, bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster zu beschreiben, die aus einer vergangenen Zeit stammen und sich daher blockierend auf die Gesellschaft sowie die Arbeitsweise und das Miteinander in Unternehmen auswirken.
Was wir meiner Meinung nach stattdessen brauchen, sind Diversität, Chancengleichheit, faire Bezahlung und weniger Ego. Und Unternehmen sollten aufhören, männlich geprägte Netzwerke und Hierarchien zu unterstützen. Damit dies gelingen kann, ist es wichtig, dass Führungskräfte und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger Verantwortung übernehmen und sich aktiv für einen Wandel einsetzen.
Sollten Sie persönlich dem „alten weißen Mann“ – in welchem Gewand auch immer – in Ihrem Arbeitsumfeld begegnen, hinterfragen Sie seine Verhaltensweise, Entscheidungen und Handlungen. Natürlich ist gerade in diesem Fall darauf zu achten, dass Sie dies bilateral, respektvoll und in einem insgesamt geschützten Rahmen tun. Und dazu gehört natürlich auch Empathie, zuhören und fragen, um zu verstehen.¹
Es liegt in unserer aller Verantwortung, den „alten weißen Mann“ als Stereotyp zu überwinden und gemeinsam eine offene und tolerante Gesellschaft – auch in Unternehmen – aufzubauen. Das Festhalten an heute nicht mehr angemessenen (Denk-)Mustern und die Ablehnung von Veränderungen führen systemisch betrachtet zu einem Dinosaurier-Dasein, bei dem Unternehmen nicht mehr mit der sich wandelnden Welt kompatibel sind.
Hinweise:
Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads und Empfehlungen.
[1] Eine Möglichkeit wie dies gelingen kann, beschreiben diese beiden Blogbeiträge:
Hier finden Sie eine Übersicht zu unterschiedlichen Fragetypen für verschiedene Zwecke.
Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen. Vielleicht wird er auch Ihr Lieblings-Newsletter!
Astrid Kuhlmey hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:
Astrid Kuhlmey
Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.