Wer ist schuld?
Es gehört zum Alltag in Unternehmen und wohl jeder dort arbeitende Mensch hat es schon erlebt: Eine Entscheidung stellt sich im Nachhinein als falsch heraus und die Suche nach den “Schuldigen” beginnt.
Manchmal braucht es dazu nicht einmal explizites Entscheiden, die Suche beginnt, sobald etwas schief geht. Und sie hört oftmals erst auf, bis (Un-)Schuldige gefunden sind. Offensichtlich ist es für viele Menschen schwer auszuhalten, dass Dinge nicht immer so laufen, wie wir es uns vorstellen. Eine “Schuldige” oder einen “Schuldigen” für eine Situation zu benennen, scheint einfacher zu ertragen zu sein.
Als Begründung wird häufig angeführt, dass man vermeiden möchte, dass “so ein Fehler nochmals passiert”, und das ist auch wichtig und angemessen. Aus der Lernperspektive ist es essentiell, genauer zu analysieren, was passiert ist und wer daran in welcher Rolle beteiligt war. Allerdings erscheint mir die Form dieser Analyse wenig geeignet, zukünftig erfolgreicher zu agieren (was auch immer das sein mag) – und eigentlich ist das auch allen Beteiligten an der Suche klar – zumindest unbewusst.
Die Suche nach den Schuldigen
Von Psychologen, Arbeitswissenschaftlern und Soziologen wissen wir inzwischen, dass ein solcher Umgang miteinander Menschen eher wenig motiviert, Dinge voranzubringen. Hier im t2informatik Block finden sich einige Beiträge, die beschreiben, wie es Unternehmen stattdessen gelingen kann, eine “produktive Fehlerkultur” zu etablieren und aus meiner Sicht hat diese Fehlerkultur eine besondere Bedeutung als Ungewissheitskompetenz.1
Und doch stellen wir immer wieder und reflexartig die Frage nach der Schuld, sobald etwas schief geht. Es scheint zutiefst in uns verankert, vermutlich ein Produkt aus unserer frühen Erziehung, und ganz sicher besteht ein Zusammenhang mit kirchlicher Tradition. Die Frage nach der Schuld ist unangenehm, besonders wenn man selbst in den Fokus dieser Frage gerät. Was also liegt näher, als nach anderen Schuldigen zu suchen?
In der gelebten Praxis wird Schuld sogar gerne vorab delegiert. Einige große Beratungsunternehmen leben nicht schlecht davon, dass sie Entscheidungsträgern die Schuld abnehmen, indem sie Business Cases aufstellen, nach denen Entscheidungen zur Schließung eines Geschäftsbereiches oder die Übernahme eines anderen Unternehmens sinnvoll sind. Geht die Umsetzung dann schief, waren es ja irgendwie die Berater. Projektleiter und Projektmanagerinnen, die mit unlösbaren Aufgaben betreut werden, nehmen eine ähnliche Rolle ein2, häufig wird ihnen und nicht den Auftraggebern und Auftraggeberinnen die Schuld am Scheitern zugewiesen.
Und gleichzeitig gibt es auch gegensätzliche Beispiele. So erzählte mir ein Kollege vor kurzem, dass in seinem Unternehmen ein dualer Student eine fällige Hausarbeit nicht erledigt hatte. Der Chef übernahm nach genauem Hinsehen auf den Vorgang die Schuld, weil er den jungen Mann nach Ausfall des eigentlichen Betreuers nicht ausreichend unterstützt hatte, was den Studenten sicher sehr entlastete und bei den Kolleginnen und Kollegen ein echter Hingucker war.
Die Übernahme der Schuld
Was aber macht die Übernahme von Schuld eigentlich so schwierig, dass wir so oft versuchen, sie von uns zu weisen und dass Menschen, die sie übernehmen, schon fast als Helden des Alltags betrachtet werden?
Die Psychotherapie (hier zu erwähnen u. a. Verena Kast und die systemische Therapie3) merken an, dass Schuld eine Schwester der Scham ist, beide treten gerne gemeinsam auf. Schuldgefühl geht in den meisten Fällen mit Scham einher, wir schämen uns für das, was wir getan haben, weil es offensichtlich in den Augen der anderen und natürlich auch unseren eigenen unzureichend war und/oder ist.4
Transferiert auf Unternehmen und Organisationen löst also bereits der Begriff Schuld bei den Betroffenen oft Scham aus, ein unangenehmes Gefühl, das wir gerne vermeiden. Was also liegt näher als dieses Gefühl an andere abzutreten?
Folgt man dieser Idee, dann ist es letztendlich die Scham, die die viel gepriesene Fehlerkultur immer wieder torpediert. Die Kombination aus Schuld und Scham ist ein Klassiker in der Therapie, erst wenn die Scham abgebaut ist, kann die Schuld genommen werden oder mit anderen Worten – und hier steckt ein Lösungsansatz – Selbstbewusstsein und Verantwortlichkeit aufgebaut werden.
Aus der Therapie können wir uns von diesem Prozess das eine oder andere für den Business-Kontext abgucken.
Ein Vorschlag, es anders zu machen
Der Abbau von Scham bedeutet in erster Linie erst einmal Selbsterkenntnis und dass ich mich selbst nicht für alles und jedes verantwortlich fühle. Dazu gehört ein gesundes Selbstbewusstsein (auch im Sinne des Wortes) und gleichzeitig eine gewisse Demut, dass ich nicht alles selbst bestimmen und gestalten kann.
Aus einer solchen, durchaus als gesund zu bezeichnenden Haltung, kann ich meine eigenen Fehler akzeptieren und als Lernfeld betrachten, um es beim nächsten Mal besser zu machen oder mir eben Hilfe zu suchen, wenn ich es nicht lerne.5 Aus der Demut rührt die Anerkennung, dass ich eben nicht alles weiß und alles richtig machen kann und dass in dieser Welt viel mehr ungewiss ist, als wir uns in unserem Kontrollbestreben wünschen.
Auch das Umfeld kann natürlich einiges dazu beitragen, dass die Scham nicht heimlicher Gast in Meetings oder Lernprozessen ist. Bereits die Umformulierung von “Wer ist schuld?” in “Wer hat hier Verantwortung und wer war am Geschehen beteiligt?” verhindert die explizite Einladung des Schamgefühls. Implizit ist sie natürlich aufgrund unserer Prägung dennoch oft an Bord – aber es wird leichter, wenn wir nicht explizit getriggert werden.
Ein weiterer Aspekt ist das Loslassen unseres Bedürfnisses, dass wir alles unter Kontrolle haben. Nur dann können wir auch akzeptieren, dass manchmal niemand schuld ist, statt diese aufgeregt hin- und her zu schieben, manchmal dann sogar auf Felder, um die es ursprünglich gar nicht ging.
Wohin trägt uns die Schuld?
In einer reifen Organisation mit reifen Mitarbeitern führt die Frage “Wer ist schuld?” sicher zu einem konstruktiven Ansatz, so wie wir ihn im obigen Beispiel mit dem dualen Studenten gesehen haben. Aber dazu gehört nicht nur Reife, sondern auch eine gute persönliche Tagesform der Betroffenen, weshalb der Chef ja zunächst auch erst einmal selbst nachgedacht hat, vermutlich um Selbst- oder Fremdvorwürfe nicht in den Vordergrund treten zu lassen.
In den meisten Fällen aber führt die Frage nach Schuldigen immer wieder in eine destruktive Abwärtsspirale bis hin zu Demotivation und Blockaden durch gegenseitige Schuldvorwürfe. Dies kann durchbrochen werden, indem statt von Schuld von Verantwortlichkeiten gesprochen wird, wobei die dahinterstehende Haltung dazu kongruent sein sollte.
Für eine wirkliche Fehlerkultur aber braucht es mehr, nämlich Menschen mit gesundem Selbstbewusstsein für sowohl die eigenen Fähigkeiten als auch die eigenen Grenzen. Und es braucht Menschen, die sich mit ihrer eigenen Scham beschäftigt haben und bereit sind, diese nach und nach loszulassen.
Hinweise:
Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads und Empfehlungen.
[1] Lernen ist kein sexy Thema. Oder: Lernen von Scotty.
[2] Der ausgehöhlte Projektbegriff und seine Folgen
[3] Verena Kast
[4] Manchmal schämen wir uns auch für andere – die sogenannte Fremdscham
[5] Welcher Fehler zeichnet Sie aus
Eine schöne Möglichkeit, Verantwortlichkeiten übersichtlich darzustellen, bietet übrigens die RACI-Matrix.
Astrid Kuhlmey hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Astrid Kuhlmey
Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.