Agilität war erst der Anfang
Inhaltsverzeichnis zum Aufklappen
Haben wir mit Agilität überhaupt ein Problem gelöst
Wenn nicht Agilität, was dann?
Das kontinuierliche Weiterentwickeln zu einer High Performance Organisation
Die Disziplinen einer High Performance Organisation
Fazit: High Performance Organisation als kontinuierliche Aspiration
Auf dem Weg zur High Performance Organisation
Niemand interessiert sich mehr für Agilität!
Laut einer Studie der Hochschule Karlsruhe hat knapp die Mehrheit der deutschsprachigen Unternehmen Agilität eingeführt. [1] Dabei sind die Adaptionsraten deutschsprachiger Unternehmen weit hinter jenen der USA, China oder auch Indien. Das ist wiederum nicht ganz überraschend, wenn man etwas genauer in die Studiendaten schaut. Denn „Agilität einführen“ heißt hier lediglich: agile Methoden wie Scrum oder Design Thinking anwenden. Diese Methoden sind in technologienahen Disziplinen quasi Standard. Und so überrascht es eher, dass im deutschsprachigen Raum nur eine knappe Mehrheit der Unternehmen solche Methoden nutzt. Entsprechend kann im Umkehrschluss davon ausgegangen werden, dass bisher nur sehr wenige das Ziel der organisatorischen Agilität erreicht haben.
Obwohl also die Verbreitung von Agilität noch bei weitem nicht abgeschlossen ist und es in Unternehmen hierzu viel zu tun gäbe, scheint der Trend, wenn nicht vorbei, dann doch wenigstens deutlich am Abflachen. Viele Organisationen gewichten das Thema weitaus tiefer als dies noch zwischen 2016 – 2022 der Fall war. Dies führt dazu, dass immer weniger Investitionen in die dafür notwendige Organisationsentwicklung getätigt werden. Warum ist das so?
Ursachen für das abnehmende Interesse an Agilität
Als Hauptgrund für diese zurückgehenden Investitionen nennen viele Organisationen, dass Agilität nicht den erhofften Mehrwert gebracht hat.
Zu sagen, dass Agilität keinen Mehrwert bringt, hieße jedoch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Ursachen dafür, dass viele Organisationen den erhofften Mehrwert nicht realisieren konnten, sind vielfältig. Die Gründe für das nachlassende Interesse lassen sich an verschiedenen Stellen festmachen:
Ursache 1: Keine ganzheitliche Transformation
Viele Unternehmen begnügen sich mit der Einführung von agilen Methoden wie Scrum und Kanban. Dabei fehlt eine tiefergreifende Transformation von systemischen Bedingungen und der zugrundeliegende Organisationskultur. Da Unternehmen allerdings komplexe Organisationssysteme sind, die nur im Zusammenspiel von mehreren Teams Wertschöpfung kreieren können, ist der Mehrwert von einzelnen Teams, die Scrum oder Kanban machen, sehr beschränkt.
Ursache 2: Keine kontextadäquate Anwendung
In der Hype-Phase der Agilität haben alle überall agile Methoden eingeführt. Dies wurde unterstützt, da der Markt von Schulungs- und Beratungsleistungen überschwemmt wurde, die vielleicht erklärten, wie agile Methoden eingeführt werden können. Oftmals wurden in Organisationen jedoch dogmatisch agile Praktiken eingeführt, ohne die Bedingungen und Restriktionen des Organisationskontextes zu berücksichtigen. Und so wurde Agilität in vielen Organisationseinheiten falsch verstanden und falsch eingeführt.
Ursache 3: Mangelnde Geduld
Der Übergang von einer traditionellen zu einer agilen Organisation ist disruptiv, wenn er ganzheitlich erfolgt. Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit in einer Organisation von Grund auf neu gelernt werden muss. Sei es die Kommunikationsdynamik im Team. Die Übernahme von Verantwortung. Der Umgang mit Tools. Neue Meeting-Strukturen. Führungsrollen. Das Verständnis von Führungsrollen. Werte, die der Arbeit zugrunde liegen. Diese grundlegende Veränderung ist für jede Organisation zunächst eine Irritation. Es ist daher nahezu unmöglich, diesen Wandel zu vollziehen, ohne dass zu Beginn der Transformationsreise ein Rückgang der Produktivität zu verzeichnen ist. Hier braucht es Geduld und Weitsicht der Entscheidungsträger:innen, um diese logische Delle in der Produktivität auszuhalten.
Ursache 4: Mangelnde Befähigung
Wie erwähnt ist eine ganzheitliche agile Transformation eine disruptive Veränderung für eine Organisation. Deshalb bedingt sie auf drei Ebenen eine intensive Begleitung, damit diese Organisationsentwicklung gelingt:
- Auf der Ebene des Individuums braucht es genug Training und Coaching, damit innerhalb des Teams bzw. der Organisationeinheit eine gemeinsame Basis und ein gemeinsames Verständnis hergestellt werden kann.
- Auf der Teamebene braucht es Befähigung, Coaching und Beratung, damit die Teammitglieder effektiv miteinander in diesem neuen Paradigma zusammenarbeiten können.
- Und auf der Organisationsebene braucht es Befähigung, Beratung und systemische Anpassungen, damit das neue Paradigma über die einzelnen Teams hinaus skalieren kann.
Kaum ein Unternehmen hat auf allen drei Ebenen in die notwendigen Maßnahmen investiert.
Ursache 5: Verharren in der Tayloristischen Management-Praxis
Wie bei jeder disruptiven Organisationsveränderung bedingt auch eine agile Transformation eine fundamentale Veränderung im Führungsmuster und in den Führungsrollen. Ein Kernelement von Agilität ist es, dass die Entscheidungsverantwortung an jene Rollen in der Organisation übertragen werden, welche die beste Kompetenz dafür haben. Dies hat zur Konsequenz, dass die Machtkonzentration der klassischen Führungsrollen aufgebrochen wird, um die Entscheidungsfindung zu optimieren und damit die Handlungsfähigkeit der Organisation zu beschleunigen. Allerdings lässt sich nicht ganz überraschend feststellen, dass nur wenige Entscheidungsträger:innen diesen Schritt der eigenen Machtabgabe gegangen sind, der für eine agile Transformation nötig wäre.
Haben wir mit Agilität überhaupt ein Problem gelöst?
Ein Treiber von diesen verschiedenen Ursachen des Scheiterns ist: Agilität wurde vielerorts als Selbstzweck eingeführt. Und nicht als Mittel zum Zweck. Auch wenn es initial vielleicht mal anders angedacht war. Um also herauszufinden, was denn nun von der agilen Bewegung übrigbleibt und wie sie sich weiterentwickeln soll, müssen wir uns zuerst zurückbesinnen, welches Problem Agilität ursprünglich lösen wollte.
Viele verorten den Anfang von Agilität in das Jahr 2001 mit der Veröffentlichung des agilen Manifests, mit welchem die Softwareentwicklung verbessert werden sollte. Entsprechend sehen viele auch den Ursprung von Agilität in der IT, die vor dem Hintergrund der zunehmenden Veränderungsdynamik und Komplexität Wege suchte, um dem Digitalisierungstrend gerecht zu werden, der eigentlich alle überlebungswilligen Unternehmen in den letzten bald 40 Jahren beschäftigte.
Auch wenn das als Beobachtung nicht falsch ist, so liegt der Kern noch etwas tiefer. Agilität wurde nämlich bereits in den 1950er Jahren in der Forschung aufgegriffen, da zunehmend festgestellt wurde, dass die damals herrschende Management-Lehre die Veränderungsfähigkeit von Organisationen unterminiert. Wer den Film §Modern Times§ von Charlie Chaplin kennt, kann sich ein gutes Bild machen, was die damalige Lehre unter dem Schlagwort „Scientific Management“ für ein Organisationsmodell proklamierte: Ein paar wenige schlaue Manager an der Spitze der Hierarchie denken. Der Rest arbeitet am Fliessband. Das Paradigma des Scientific Managements hat sich allerdings weit über die 1950er gehalten, auch wenn immer mehr Organisationen festgestellt haben, dass die Veränderungsdynamik zunehmend höher, die Kundenbedürfnisse individueller und die Welt komplexer wird.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben dann Warren Bennis und Burt Nanus, zwei Ökonomen der University of Southern California, die grundlegenden Prinzipien des später weitverbreiteten VUKA-Begriffs. Dieses Akronym verbreitete sich schnell und half vielen in der Business-Welt zu verstehen, dass sich die Marktbedingungen gegenüber dem letzten Jahrhundert geändert haben und es deshalb eine Innovation in der Organisationsführung braucht. So gesehen kann die Agile Bewegung deshalb als eine Antwort auf das Problem verstanden werden, dass der Scientific Management-Ansatz im heutigen Marktumfeld nicht mehr funktioniert.
Wir können also festhalten: Das ursprüngliche Problem, das die Agilität zu lösen versuchte, war eine Innovation, wie Organisationen geführt werden. Nämlich weg vom Scientific Management Ansatz, der in einem globalisierten, dynamischen Markt dazu führte, dass Unternehmen zu langsam war für diese sogenannte VUKA-Welt.
Mittlerweile versucht sich mit BANI ein neues Akronym durchzusetzen. Während VUKA für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität steht, setzt sich das BANI aus den Worten brittle, anxious, nonlinear, incomprehensible zusammen. Oder auf Deutsch: brüchig, ängstlich, non-linear und unverständlich. Jamal Shahin, der Erfinder des BANI-Begriffs, widerspricht dabei nicht dem VUKA-Konzept, sondern versucht vielmehr, damit die heutige Komplexität und Dynamik präziser zu beschreiben. Dabei berücksichtigt er stärker als das VUKA-Konzept die Folgen der zunehmenden globalen Vernetzung und ubiquitäre Digitalisierung: Nämlich eine hoch abhängige und kaum durchschaubare Marktdynamik.
Folgen dieser BANI-Welt zeigten sich beispielsweise im März 2021 als ein grosses Containerschiff im Suez Kanal stecken blieb und den ganzen Schiffsverkehr für sechs Tage blockierte. Die wirtschaftlichen Kosten dieser Blockade wurden auf ca. 60 Milliarden US-Dollars geschätzt. Ein anderes Beispiel zeigte sich in den Lieferkettenengpässen im Jahr 2022, die sich aus der COVID-Pandemie ergaben und so mitschuldig waren für einen globalen Anstieg der Inflation.
Diese Entwicklungen zeigen: Die Veränderungsdynamik und Marktkomplexität werden auch zukünftig zunehmen. Zwar können wir in vielen Ländern eine politische Wendung zu mehr lokalem Protektionismus beobachten und seit Corona werden auch die hoch fragilen Lieferketten hinterfragt und teilweise resilienter bzw. lokaler aufgestellt. Doch die Digitalisierung lässt sich nicht aufhalten. Und die Digitalisierung verknüpft uns nicht nur global. Sie führt auch dazu, dass immer mehr komplizierte Aufgaben automatisiert werden und für den Menschen zunehmend noch die komplexen Arbeiten bleiben. Mit der Verbreitung von künstlicher Intelligenz wird sich dieser Trend noch mehr beschleunigen.
Daraus lernen wir, dass eine Rückkehr zum Scientific-Management-Ansatz nicht zielführend ist. Diese jahrhundertalte Organisationslehre funktionierte zu einer Zeit, als die Mehrheit der Arbeitskräfte am Fliessband hirnlose Arbeiten übernahmen und Unternehmen vor allem auf Effizienz optimieren mussten. Der Trend führt aber in die Gegenrichtung. Das richtige Tun ist in einer hoch komplexen, schnell verändernden Wirtschaft wichtiger und anspruchsvoller als perfekt effizient zu sein. Entsprechend besteht weiterhin bzw. immer mehr ein Bedarf nach einem Organisationsmodell, das diesen Herausforderungen gerecht wird.
Wenn nicht Agilität, was dann?
Wenn wir also auf das Kernproblem fokussieren, dass es ein neues Organisationsmodell für die VUKA- bzw. BANI-Welt braucht, dann können wir festhalten: Vieles, was die agile Bewegung proklamierte, ist eine adäquate Antwort auf diese Problemstellung. Dabei gilt es auch daran zu denken, dass vieles davon nicht erst in den letzten 5 bis 10 Jahren entstanden ist, sondern auf viele Jahre Forschung und Praxis zurückgreift: eine wichtige Grundlage waren die Arbeiten zu Lean Management (ca. ab 1980). Auch die systemische Organisationslehre (ca. ab 1990) sowie die modernen Ansätze aus der Leadership-Forschung (ca. ab 1990) bzw. dem Innovationsmanagement (ca. ab 2000) waren wichtige Inspirationsquellen. Dazu kommen auch viele Jahrzehnte Erfahrung aus der modernen Softwareentwicklung, welche heutzutage zunehmend zur prägenden Produktionsindustrie wird. Denn schliesslich ist heutzutage fast jedes Unternehmen in einer Form auch eine Technologiefirma. Oder wie Marc Andreessen bereits 2011 prophezeite: „Software eats the world.“ [2]
Es wäre also falsch, alle Errungenschaften der agilen Bewegung zu negieren und eine 180 Grad Wendung einzuleiten. Vielmehr geht es darum, aus den Fehlern der agilen Bewegung zu lernen. Neben den oben beschrieben mannigfaltigen Anwendungs- und Implementierungsfehler von Agilität ist wohl einer der grössten Fehler gewesen, dass Agilität zum Selbstzweck verkommen ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Begriff Agilität von vielen missverstanden und mit dem agilen Manifest gleichgesetzt wurde. Dadurch drängten sich agile Softwareentwicklungsmethoden sowohl in der IT als auch ausserhalb in den Vordergrund und die ursprüngliche Problemstellung wurde zunehmend aus den Augen verloren.
Die Weiterentwicklung von Agilität ist es also, die ursprüngliche Problemstellung wieder in den Fokus zu nehmen. Und die ist in diesem Kontext: wie gestalte ich eine hoch leistungsfähige Organisation in einer VUKA bzw. BANI-Welt? Während also der Trendbegriff „Agile Organisation“ eine Lösung vorwegnahm und so Anwendungs- und Implementierungsfehler beinahe provozierte, plädiere ich bei der Weiterentwicklung für eine Bezeichnung, welche eine zeitlose Problemstellung in den Vordergrund stellt: nämlich die Frage, wie kann mein Unternehmen die maximale Leistung erbringen? Oder anders formuliert: Wie gestalte ich eine High Performance Organisation?
Das kontinuierliche Weiterentwickeln zu einer High Performance Organisation
Eine High Performance Organisation zeichnet sich darin aus, dass sie die optimale Leistungsfähigkeit aus den bestehenden Möglichkeiten rausholt. Es ist vergleichbar wie mit unserer individuellen, persönlichen Entwicklung, bei der wir ja auch danach streben, die beste Version von uns selbst zu sein. Die High Performance Organisation ist die beste Version einer spezifischen Organisation in ihrem aktuellen Kontext.
Die Erreichung einer solchen High Performance Organisation ist somit auch eine der Kernaufgabe einer Führungskraft, denn sie hat die konkrete Rolle, die Organisation, für die sie verantwortlich ist, um ihre Leistungsfähigkeit zu optimieren. Egal ob das nun das Team, die Abteilung, eine Business Division oder ein ganzes Unternehmen ist.
Die Disziplinen einer High Performance Organisation
Wie diese High Performance erreicht werden kann, ist dabei sehr kontextabhängig. Allerdings lassen sich fünf zentrale Disziplinen benennen, die eine Organisation beherrschen und immer weiterentwickeln muss, um die optimale Leistungsfähigkeit zu erreichen. Das gilt sowohl auf Teamebene als auch durch alle Skalierungsebenen bis hin zur Gesamtorganisation.

Disziplin 1: Strategy Excellence
Wer kennt sie nicht, die klassischen Beispiele gescheiterter Strategien. Kodak mit der verpassten Digitalkamera. Blockbuster mit dem verpassten Streaming-Angebot. Und vielleicht bald Google, das nicht auf den Trend reagieren kann, dass wir Google Search immer mehr mit Tools wie ChatGPT, Co-Pilot oder Perplexity ersetzten.
Eine Organisation, die in einem Innovationsdilemma steckt und nicht an den richtigen Dingen arbeitet, schöpft nicht nur nicht ihr ganzes Potenzial aus. Sie gefährdet mittel- bis langfristig ihre Überlebensfähigkeit. Entsprechend zeichnet sich eine High Performance Organisation durch ihre Exzellenz in der Strategiearbeit aus. Das beinhaltet nicht nur eine strategische Anpassungsfähigkeit, sondern auch die Fähigkeit, erfolgreiche Strategien, Geschäftsmodelle oder auch Innovationen in die Tat umzusetzen.
Disziplin 2: People Excellence
“Clients do not come first. Employees come first. If you take care of your employees, they will take care of the clients.” [3] Das ist nicht die Aussage von jemand der Gen-Z, sondern von Richard Branson. Einem der erfolgreichsten Unternehmer der Neuzeit und mit einem stolzen Alter von 74 Jahren knapp nicht mehr ein Gen-Z, der ja oft nachgesagt wird, mehr Wert auf eine Wohlfühl-Oase als auf unternehmerische Leistung zu legen.
Und Richard Branson ist natürlich bei weitem nicht der Einzige, der erkannt hat, wie wichtig die menschliche Leistungsfähigkeit für die organisationale Performance ist. Eine High Performance Organisation zeichnet sich deshalb auch durch eine People Excellence aus. Damit ist generell gemeint, dass die menschliche Leistungsfähigkeit optimiert wird. Dies beinhaltet unter anderem eine leistungsförderliche Führungskultur, Teamentwicklung oder auch die Befähigung von Mitarbeitenden zur für die Strategieumsetzung notwendigen Fähigkeiten.
Menschen sind aber nicht Maschinen, deshalb heisst hier Optimierung der Leistungsfähigkeit nicht „Auspressen der Zitrone“. Vielmehr geht es um das Schaffen eines Umfeldes, in dem nicht nur die Mitarbeitenden ihr Leistungspotenzial nachhaltig ausschöpfen können, sondern auch das Team. Denn das Team als Wertschöpfungseinheit ist die wichtigste Gruppe für eine erfolgreiche Organisation.
Disziplin 3: Technology Excellence
Gehen wir zurück zu den Fallbeispielen von berühmten Firmen, die gescheitert sind. In dieser Gruppe darf natürlich ein prominentes Beispiel nicht fehlen: NOKIA. Während Steve Ballmer als damaliger CEO von Microsoft im Jahr 2007 das iPhone tatsächlich verhöhnte und so seine strategische Fehleinschätzung für die Nachwelt dokumentierte, nahm NOKIA die Konkurrenz ziemlich ernst. Es war deshalb nicht oder nicht nur eine strategische Fehleinschätzung, die NOKIA zu Fall brachte. Vielmehr war die technologische Architektur von NOKIA nicht fähig, diese strategische Entwicklung schnell genug mitgehen zu können.
Ein Beispiel, wie es auch anders geht, ist FACEBOOK bzw. META. Schon oft schien eine Veränderung auf dem Markt den Giganten zu Fall zu bringen, doch immer wieder schaffte es das Unternehmen, ihr Produkt dankt einer hohen Technologie-Exzellenz weiterzuentwickeln. Sei es die Angriffe von Snapchat und anderen Markbegleiter, die man immer wieder abwehren konnte, weil man deren Features schnell und erfolgreich kopieren konnte. Oder der Wechsel von der Desktopnutzung zur mobilen Nutzung des Produkts. Oder auch die Privacy-Einstellung von Apple, die das Tracking von Apps einschränkte. Dadurch brach die Werbegenauigkeit der META-Produkte um 40 % ein, was das Geschäftsmodell so substanziell bedrohte, dass der Unternehmenswert von META an nur einem Tag 26 % bzw. 230 Milliarden Dollar sank. Seit diesem Einbruch vor rund 3 Jahren hat sich der Unternehmenswert per Ende 2024 fast verdreifacht, da META dank dem Einsatz von AI sogar genauere Werbung anzeigen kann als vor der Verschärfung der Privacy-Möglichkeiten auf den iPhones.
Diese Beispiele zeigen: eine High Performance Organisation kommt kaum umher, auch eine technologische Exzellenz aufzubauen. Nicht nur, wenn Technologie so nahe am Kernprodukt ist wie bei NOKIA oder META. Heutzutage gibt es kaum ein Unternehmen mehr, dass nicht Technologie in seiner Wertschöpfungskette einsetzt. Hinzu kommt, dass Technologie heutzutage wohl der grösste Veränderungstreiber für Unternehmen ist und deshalb eine organisationale Technologiekompetenz unabdingbar ist. Entsprechend umfasst Technology Excellence u.a. der wirtschaftliche Einsatz von neuen Technologie-Trends auf allen Ebenen der Unternehmensführung. Wie bspw. künstliche Intelligenz. Die Nutzung von Technologie zur Automatisierung und Optimierung der Leistungserbringung. Oder auch generell das Management der Technologie in der Organisation, inkl. dem Management der Enterprise Architektur.
Disziplin 4: Operational Excellence
Als Paradebeispiel von Operational Excellence wurde in der Vergangenheit oftmals TOYOTA bemüht. Nach dem zweiten Weltkrieg innovierte TOYOTA seinen Produktionsprozess dergestalt, dass der japanische Autohersteller hinsichtlich der operationalen Exzellenz signifikant besser war als seine Marktbegleiter aus den USA.
Dies war für die Amerikaner nicht nur wirtschaftlich ein Desaster, sondern rüttelte fundamental am Nationalstolz jenes Landes, das mit Henry Ford einen Autopionier und Vordenker der Scientific-Management-Theorie (auch Taylorismus genannt) hervorbrachte. Ab den 1970er Jahren studierten deshalb unzählige westliche Management-Theoretiker als auch Management-Praktiker, was TOYOTA derart signifikant besser macht als die amerikanischen Autohersteller. Viele dieser Erkenntnisse sind in die Lean-Management-Theorie eingeflossen, die wie erwähnt ein wichtiges Fundament der heutigen Management-Lehre darstellt.
Die Welt hat sich jedoch weiterentwickelt und ist komplexer geworden. Viele Paradigmen und Praktiken des Lean Management sind nach wie vor gültig. Doch die Wertschöpfungsproduktion vieler heutiger Unternehmen findet nicht mehr am Fliessband statt, sondern in Büros bzw. Homeoffices. Eine der grössten Unterschiede dabei: Der Produktionsprozess von heutiger Wissens- und Dienstleistungsarbeit ist nicht mehr so linear wie damals am Fliessband. Die dadurch gesteigerte Komplexität erfordert, dass Operational Excellence weitergedacht werden muss, als seinerzeit mit TOYOTA. Im Fokus stehen in dieser Disziplin deshalb nicht nur die Ablauforganisation, sondern das ganzheitliche Operating Model – sozusagen das organisationale Betriebssystem. Inklusive der Aufbauorganisation, der Governance, den Zusammenarbeitspraktiken, den Anreizsystemen, den Wertschöpfungsprozessen etc.
Viele der aktuellen Methoden, die im Zusammenhang mit Agilität beworben werden, lassen sich dieser Disziplin zuordnen. Seien es Deliverymodelle mit Fokus auf die IT wie SAFe, Scrum oder LeSS. Strukturmodelle wie Holacracy von Brian Robertson oder das Helix-Modell von McKinsey. Oder auch andere Zusammenarbeits- und Problemlösemethoden wie Design Thinking, Kanban oder Flight Levels. Entsprechend gibt es für die verschiedenen Ansätze mittlerweile viele mehr oder weniger erfolgreiche Praxisbeispiele:
- SAFe bspw. organisiert jährlich eine riesige Konferenz, bei der aktuelle Vorzeigebeispiele ihren Auftritt erhalten.
- Scrum ist in der IT-Delivery Standard und es wird schwieriger, eine Organisation zu finden, die das nicht nutzt.
- Holacracy ist vor allem in Organisationen zu finden, bei denen die Wertschöpfung nicht in der Organisation, sondern beim Kunden direkt passiert und deshalb die interne Wertschöpfungsarbeit vernachlässigbar ist. Beispiele sind deshalb hauptsächlich Agenturen, Spitex-Unternehmen oder Beratungsorganisationen.
- Das Helix-Modell wiederum findet sich dank den Beziehungen der McKinsey-Berater in zunehmend mehr Organisationen – oftmals eher grossen Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitenden. Nicht zuletzt, weil auch andere große (Strategie-)Berater das von Spotify inspirierte Modell kopieren.
Alles in allem lässt sich festhalten: Es gibt für die vielen Ansätze, die zur Operational Excellence beitragen können, mittlerweile genügend Praxisbeispiele. Es gibt aber im Gegensatz zu damals mit TOYOTA kaum mehr ein Unternehmen, das als Universalbeispiel genannt werden kann.
Natürlich gibt es Firmen wie Spotify, Gore, Amazon, ING, Bayer, Zalando oder Netflix, die immer mal wieder für ihre moderne Arbeit hinsichtlich operationale Excellence zitiert und referenziert werden. Auch in der Schweiz haben wir u.a. mit Swisscom, Mobiliar oder auch Axa bekannte Unternehmen, die als Vorreiterinnen hinhalten können. Aber ein Universalbeispiel wie damals vor 50 Jahren TOYOTA eines war, ist heutzutage kaum mehr möglich, weil die Marktdynamik für Organisationen deutlich komplexer und damit kontextsensitiver geworden ist. Für Organisationen heisst das: Es gibt genug Wissen und Beispiele zur Inspiration, wie Operational Excellence entwickelt werden kann. Doch die Herausforderung liegt in der kontextadäquaten Umsetzung und kontinuierlichen Weiterentwicklung, so dass es der Organisation nicht nur gelingt, die richtigen Dinge zu tun – dies ist die Strategy Excellence – sondern auch die Dinge richtig zu tun.
Disziplin 5: Transformation Excellence
Die kontinuierliche Weiterentwicklung ist die fünfte Disziplin einer High Performance Organisation. Einerseits, weil sich das Umfeld und die Herausforderungen ständig ändern. Andererseits, weil eine Organisation nie perfekt funktioniert und sich stetig weiterentwickeln muss, damit sie besser werden kann.
Eine der grössten Fehler, den die meisten Organisationen heutzutage machen: Sie transformieren erst dann, wenn es eigentlich zu spät ist. Dadurch entsteht eine sogenannte Stop-Go-Transformation. Die Organisation merkt, dass sie sich verändern muss, leitet ein grosses Transformationsprogramm ein, was wiederum die ganze Wertschöpfungsarbeit lähmt, weil die Organisation mit sich selbst beschäftigt ist und viele Mitarbeitenden erst einmal abwarten, inwiefern sich die Veränderung auf sie persönlich auswirkt. Nach einem signifikanten Einbruch in der Produktivität beginnen sich im besten Fall die Neuerungen einzuspielen. Doch nur kurz darauf folgt bereits die nächste Transformation und das Spiel beginnt von vorne.
Das Problem ist nicht nur, dass solche gross angelegten Transformationen aufgrund ihrer Komplexität oftmals scheitern und nicht den gewünschten, wirtschaftlichen Mehrwert erbringen. Vielmehr ist durch dieses Stop-Go-Vorgehen die Organisation quasi dauerblockiert und kommt so nie in einen High Performance Zustand.
Ist das nun nicht ein Widerspruch, wenn kontinuierliche Weiterentwicklung wie aufgezeigt ein Teil der DNA einer High Performance Organisation ist? Nein, denn der Trick liegt in der Art und Weise, wie Transformation verstanden wird. High Performance Organisationen machen Veränderung zum Normalfall. Das heisst, sie verändern sich stetig ein kleines Stück, so dass es nicht zu einem krassen Produktivitätseinbruch führt, weil die Organisation aufgrund einer disruptiven Transformation blockiert ist. In Konsequenz stellen sich High Performance Organisationen so auf, dass sie kontinuierlich die vier Disziplinen Strategy Excellence, People Excellence, Technology Excellence und Operational Excellence weiterentwickeln können, ohne dass es zu einer Überforderung des Systems führt. Wie gross oder schnell eine Veränderung sein kann, ohne das System zu überfordern, hängt natürlich von der Veränderungskompetenz der Organisation und deren Mitarbeitenden ab. Entsprechend entwickelt eine High Performance Organisation auch kontinuierlich an der fünften Disziplin: Der Transformation Excellenz.
Jetzt mag der Einwand sein, dass es in gewissen Zeiten auch manchmal radikale Massnahmen braucht. Ja, einerseits stimmt das. Eine Integration von zwei grossen Banken beispielsweise (solche Fälle soll es auch in der Schweiz geben), ist eine radikale Veränderung. Bei radikalen Veränderungen muss versucht werden, die Komplexität (in der Breite und Tiefe der Transformation) auf ein Minimum zu reduzieren. Also bewusst Veränderungen noch nicht angehen, die nicht zwingend nötig sind. Oder auch den Anspruch an die Adaptionsrate oder -qualität reduzieren (done is better than perfect), um auf dieser Basis dann schrittweise zu verbessern. Anderseits verhindern High Performance Organisationen grundsätzlich, die kontinuierliche Transformation als Kernkompetenz besitzen, dass sie solche radikalen Veränderungen vornehmen müssen. Im hypothetischen Beispiel mit den zwei Banken war vermutlich mindestens eine davon keine High Performance Organisation.
Fazit: High Performance Organisation als kontinuierliche Aspiration
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Eine High Performance Organisation stellt den nächsten evolutionären Schritt nach der agilen Bewegung dar und adressiert die Herausforderungen der dynamischen und komplexen (VUKA- und BANI-) Welt auf nachhaltige Weise. Während Agilität oft an mangelnder ganzheitlicher Transformation, fehlender Kontextanpassung und unzureichender Befähigung scheiterte, setzt die High Performance Organisation darauf, diese Defizite zu überwinden und Organisationen ganzheitlich leistungsfähiger zu machen.
Eine High Performance Organisation zeichnet sich durch die Beherrschung und kontinuierliche Weiterentwicklung von fünf zentralen Disziplinen aus:
- Strategy Excellence, die richtigen Dinge tun;
- People Excellence, das Potenzial der Mitarbeitenden und Teams ausschöpfen;
- Technology Excellence, das technologische Potenzial ausschöpfen;
- Operational Excellence, die Dinge richtig tun;
- Transformation Excellence, die stetige Anpassung und Weiterentwicklung ohne disruptive Brüche ermöglichen.
Das Modell der High Performance Organisation zeigt, wie Unternehmen die ursprünglichen Ziele der Agilität aufgreifen und durch einen ganzheitlichen Ansatz erweitern können, um nicht nur zukunftsfähig zu bleiben, sondern ihre maximale Leistungsfähigkeit in einer zunehmend vernetzten und komplexen Welt zu entfalten.
Hinweise:
[1] Hochschule Karlsruhe: Studie über Agilität: Viel geredet, wenig passiert
[2] Marc Andreessen: Why Software Is Eating the World
[3] Richard Branson: What Separates Successful Companies From All the Rest Comes Down to 1 Leadership Principle
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Dr. Joël Krapf hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

Dr. Joël Krapf
Dr. Joël Krapf begleitet seit über 10 Jahren Transformationen von Unternehmen. Aktuell unterstützt er Organisationen als Senior Manager bei Accenture auf ihrer digitalen Reise. Zuvor war er bei der Migros, der größten Arbeitgeberin der Schweiz, Head Lean Portfolio und Agile Transformation. Weitere Stationen waren PwC und die Schweizerische Post.
Joël hat an der Universität St. Gallen hat er zum Thema Agilität und Transformation promoviert. Er hat diverse Bücher und Artikel zum Thema Agilität publiziert und ist regelmäßig als Keynote Speaker an Konferenzen eingeladen. Auf LinkedIn folgen ihm und seinen Posts rund 30’000 Menschen.
Im t2informatik Blog veröffentlichen wir Beträge für Menschen in Organisationen. Für diese Menschen entwickeln und modernisieren wir Software. Pragmatisch. ✔️ Persönlich. ✔️ Professionell. ✔️ Ein Klick hier und Sie erfahren mehr.